Israel und seine Nachbarn – Ägypten
Im Rahmen einer mehrteiligen Serie haben vorige Artikel bereits einen Blick auf verschiedene Nachbarvölker geworfen, denen Israel in der alttestamentlichen Überlieferung begegnet: Moab oder die Philister beispielsweise. Eine solche Betrachtung kann helfen, die Geschichte des biblischen Gottesvolkes im Kontext dieser anderen Völker besser einzuordnen und manche Zusammenhänge mehr zu verstehen. Dabei kann natürlich nicht alles abgedeckt werden, was es zu dem jeweiligen Volk und seinen Begegnungen mit Israel zu sagen gäbe. So werden einige Aspekte näher beleuchtet, andere bleiben dagegen unerwähnt.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Großreich Ägypten. Dabei leiten uns nun wenige grobe Fragen: Wer, wann und wie waren die Ägypter? In welcher Beziehung stand Israel zu Ägypten? Welche theologische Bedeutung hat Ägypten für die Geschichte Israels und für Christen heute?
Eckdaten und Geschichte
Das Alte Ägypten war eine der am längsten existierenden Zivilisationen in der Menschheitsgeschichte. Mit seiner einzigartigen Geographie liegt es in Nordostafrika, mitten in einer großen Wüste, wo es vollkommen vom Nil als dessen Lebensader abhängig war (und bis heute ist). Die Geschichte des Alten Ägypten ist natürlich eine komplexe und zeitlich äußerst umfangreiche. Zunächst soll an dieser Stelle ein kleiner Überblick helfen.
Grundsätzlich lässt sich das Alte Ägypten in verschiedene Dynastien und Phasen einteilen, die immer wieder von wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Höhen und Tiefen gekennzeichnet waren. Anfang und Ende der ägyptischen Herrschaft sind hierbei fließend und nicht immer exakt an festen Jahreszahlen festzumachen. Eine verbreitete wissenschaftliche Einteilung kategorisiert das Alte Ägypten in 31 Dynastien. Wichtig hierbei ist die weitere Unterteilung in Reichszeiten bzw. Epochen. Im Wesentlichen sind dies drei Epochen: das Alte Reich (3.-6. Dynastie), das Mittlere Reich (11.-12. Dynastie) und das Neue Reich (18.-20. Dynastie). Jede dieser drei Epochen fasst dabei besonders stabile, einheitliche und verwaltungspolitisch sowie militärisch gut aufgestellte Dynastien zusammen.
Davor, dazwischen und danach benennt die Forschung weitere Epochen. Die Frühdynastische Zeit (1.-2. Dynastie) bezeichnet die Zeit vor der ersten stabilen Phase. Ägypten bestand in dieser Zeit aus mehreren weniger bedeutenden Zentren, die sich entlang des Nils erstreckten. Auffällig war die Aufteilung in ein oberes und unteres Ägypten, was in etwa zwei koexistierenden Staaten entsprochen haben könnte. Das Alte Reich, also die erste stabile Epoche, einte beide Regionen erstmals zu einem mächtigen Staat. In der 1. Zwischenzeit (7.-11. Dynastie) zerfiel Ägypten nach der Zeit des nach Alten Reichs in mehrere Herrschaftsbereiche, bis es sich in der Zeit des Mittleren Reichs erneut vereinigte. Anschließend zerfiel es erneut, was als 2. Zwischenzeit (13.-17. Dynastie) bezeichnet wird. Wieder folgte eine stabile Phase in der Zeit des Neuen Reichs. Das Neue Reich war eine Blütezeit in jeglicher Hinsicht und stellt aus heutiger Sicht die mächtigste Epoche des antiken Ägyptens dar. Schließlich setzte sich die Geschichte mit einer 3. Zwischenzeit fort (21.-25. Dynastie). Ägypten zerfiel abermals und die jahrhundertelange Pharaonenherrschaft kam fast allmählich zum Ende. Einzig in der Spätzeit (26.-31. Dynastie) erlangte Ägypten nochmal teilweise unabhängige Stärke. Diese Zeit war jedoch auch von der zeitweisen Fremdherrschaft des Persischen Reichs gekennzeichnet. Im Jahr 332/333 v. Chr. eroberte Alexander der Große Ägypten endgültig und ohne Gegenwehr, womit er die römisch-griechische Zeit einleitete. Das Alte Ägypten war hiermit ein für alle Mal zu Ende gegangen.
Zeitspanne (v. Chr.) | Epoche | Dynastien |
ca. 6000-3000 | Prädynastische Zeit | |
ca. 3000 – 2700 | Frühdynastische Zeit | 1.-2. |
ca. 2700 – 2210 | Altes Reich | 3.-6. |
ca. 2210 – 2140 | 1. Zwischenzeit | 7.-11. |
ca. 2140 – 1780 | Mittleres Reich | 11.-12. |
ca. 1650 – 1550 | 2. Zwischenzeit | 13.-17. |
ca. 1550 – 1070 | Neues Reich | 18.-20. |
ca. 1070 – 660 | 3. Zwischenzeit | 21.-25. |
ca. 660 – 332 | Spätzeit | 26.-31. |
Ab 332/333 | Griechisch-Römische Zeit |
Übersicht der Zeitepochen des antiken Ägypten (fett: „stabile“ Epochen; fett-unterstrichen: für die Geschichte Israels erste relevante Epoche)
Mit einer Zeitspanne von über 3000 Jahren ist die Geschichte Ägyptens also wirklich beeindruckend. Regiert wurde Ägypten in dieser Zeit von etwa 300 Herrscherinnen und Herrschern, meist ägyptischer Abstammung, aber nicht immer. Dabei wurde die Bezeichnung Pharao, die wir heute geläufig verwenden, wohl vor allem durch die hebräische Bibel geprägt. Religion und der Glaube an eine Vielzahl von Göttern waren im Alten Ägypten allgegenwärtig und zentral für das gesellschaftliche Leben. Bauwerke wie die Pyramiden, hochkomplexe Grabkammern sowie zahlreiche Tunnelsysteme zeugen von der hohen Religiosität und der damit verbundenen Macht. Mit der Entwicklung der ägyptischen Schrift – sowohl die bildhaften Hieroglyphen als auch die hieratische Schrift – und damals neuartigen Erkenntnisse in der Mathematik gelang den Ägyptern großer Fortschritt. Auch das Wissen und die Fähigkeiten in anderen Disziplinen wie der Astronomie, der Agrarwirtschaft oder dem Bauwesen förderten den Aufstieg Ägyptens zum zivilisierten Großreich.
Israel und Ägypten
Die Beziehungen, Konflikte und Berührungspunkte zwischen Israel und Ägypten sind womöglich nicht die intensivsten, wohl aber die prägendsten. Vor allem das Neue Reich (1550 v. Chr. bis 1070 v. Chr.) ist für die Geschichte Israels von großer Bedeutung. In diese Phase fällt die Zeit Israels als Sklavenvolk, der anschließende Auszug sowie die Landnahme und die Ansiedlung in Palästina/Kanaan.
Die Erzvätergeschichte ist entsprechend noch nicht im Neuen Reich anzusiedeln, sondern zuvor in der 2. Zwischenzeit (1650-1550 v. Chr.). In dieser Epoche müssten Jakob und seine Söhne nach Ägypten gekommen sein. In der 2. Zwischenzeit wurde Ägypten nicht von einheimischen Ägyptern, sondern von den „Hyksos“ regiert, eine kanaanäische oder hurritische fremde Bevölkerungsgruppe, die in Ägypten einfiel. Unter der Herrschaft der Hyksos könnte Josef möglicherweise befördert worden sein. Unterdrückung und Auszug aus Ägypten müssten unter die Pharaonen Ramses II. und seinen Sohn Merenptah fallen. Nach dem Exodus schweigt die Bibel etwa 500 Jahre zu Ägypten. Erst in der Königszeit taucht Ägypten vereinzelt wieder auf. Die Zeit des Königtums und des geteilten Reichs fällt mehrheitlich in die 3. Zwischenzeit (1070-660 v. Chr.).
Ägypten erlebte in der Phase des Neuen Reichs seinen territorialen Höhepunkt. Es kontrollierte zeitweise den gesamten Landstrich Palästinas und drang sogar bis Vorderasien vor. Ägyptische Quellen aus dieser Zeit sind es, die Israel erstmals historisch erwähnen. Die bekannt gewordene Stele in der Regierungszeit des Pharaos Merenptah erwähnt Israel neben anderen kanaanäischen Stadtstaaten, und schreibt: „Israel ist verwüstet, seine Saat ist nicht mehr“. Es ist unklar, welche historischen Begebenheit hier gemeint ist. Jedoch werden die anderen aufgelisteten Orte und Völker ebenfalls als besiegt oder verwüstet bezeichnet. Auch die sogenannten Amarna-Briefe geben einen Hinweis auf Israel, wenn auch nur einen indirekten. In der Erwähnung einer Bevölkerungsgruppe, die „Apiru“ genannt wird, könnten die Hebräer bzw. Israeliten gemeint sein. Oder der Begriff meinte eine allgemeinere Bezeichnung für fremde Bevölkerungsgruppen, unter dem das israelitische Volk subsumiert wurde.
Echnatons Sonnenhymnus und Psalm 104
Allgemein sind kulturelle und theologische Einflüsse zwischen Ägypten und Israel in beide Richtungen festzustellen, wobei aus rein historischer Sicht der Einfluss Ägyptens auf Israel als größer eingeschätzt wird, da Ägypten mit seiner schieren Größe und Macht eine entsprechend stärkere Einflusswirkung zu entfalten vermochte. Eine der bekannteren Entdeckungen hierzu ist die Kultrevolution des Pharaos Amenophis IV. Dieser zentralisierte den Götterkult in ganz Ägypten auf den Sonnengott Aton. Dies bedeutet, dass auf seinen Befehl alle anderen Götter vernachlässigt wurden und alles religiöse Leben und Schaffen auf Aton ausgerichtet wurde. Mit diesem Schritt zog er den Zorn der ägyptischen Priesterschicht auf sich, die an der bisherigen Jahrtausende alten Tradition festhalten wollten. Seinen eigenen Namen änderte er von Amenophis zu Echnaton. Er baute, Aton zu Ehren, eine neue Hauptstadt sowie mehrere Heiligtümer. Diese starken Entwicklungen hin zum Monotheismus haben Schrifterzeugnisse hervorgebracht, die starke Ähnlichkeiten zur israelitischen Alleinverehrung JHWHs aufweisen. So weisen der ägyptische „Sonnenhymnus“ über Aton und Psalm 104 über die Herrlichkeit JHWHs große Ähnlichkeiten und teils größere Überschneidungen auf. Möglicherweise inspirierte und beeindruckte den Psalmisten die starke Ausdrucksweise und Hingabe der ägyptischen Alleinverehrung eines einzigen Gottes, sodass er keine theologischen Schwierigkeiten darin sah, die inhaltliche Linie des Sonnenhymnus zu übernehmen. Für eine weitere Vertiefung lesen Sie gerne einen weiteren Artikel, in dem biblische und ägyptische Weisheitsliteratur verglichen werden.
Salomos ägyptische Ehefrau
In der 3. Zwischenzeit (1070-660 v. Chr.) konnte das Volk Israel das Machtvakuum einnehmen, das durch den Rückzug Ägyptens entstand. Die ägyptischen Herrscher mussten das Ausmaß des Reiches bis nach Vorderasien aufgeben und zogen sich ins Kernland von Ägypten zurück. Innenpolitische Probleme und Destabilisierung zwangen sie dazu. Die Königszeit läuft zeitlich parallel zu dieser Phase. In der Regierungszeit von David (1004-964 v. Chr.) und Salomo (964-926 v. Chr.) regierten in Ägypten die Pharaonen der 21. Dynastie. Sowohl unter David als auch unter Salomo ist von Handelsbeziehungen zu anderen Völkern auszugehen. Demnach vermutlich auch zu Ägypten. Ein biblischer Anknüpfungspunkt ist die Erwähnung einer ägyptischen Ehefrau von Salomo. In klassischen und traditionellen Forschungspositionen unternahm der Pharao Siamun einen Feldzug in Richtung Palästina, wobei er unter anderem die Stadt Geser eroberte. Diese gab er seiner Tochter als Mitgift für die Heirat mit Salomo. In Könige 9 heißt es:
„[…] der Pharao, der König von Ägypten, war heraufgezogen und hatte Geser eingenommen und es mit Feuer verbrannt und die Kanaaniter, die in der Stadt wohnten, erschlagen und hatte es seiner Tochter, der Frau des Salomo, als Mitgift gegeben!“
(1.Kön 9,16 ELB).
Aus dieser Begebenheit lässt sich eine Heiratspolitik zwischen Israel und Ägypten ableiten und möglicherweise gab es friedliche Verbindungen zwischen beiden Reichen, die einen entsprechenden Handel von Gütern und Austausch von Kultur mit sich brachten.
Theologische Bedeutung des Exodus
Ägypten ist zweifelsohne von großer Bedeutung für Israel gewesen, welches es oft schwer hatte, zwischen den Großreichen und anderen Völkern zu bestehen. Das Kernereignis schlechthin zwischen Israel und Ägypten, ist der Exodus. Dieser ist historisch nur schwer zu fassen. Aus der Perspektive der meisten Forscher ist der Auszug aus Ägypten schlicht ein Mythos. Konservative Historiker halten ihn dagegen (nur) für schwer datierbar und schwierig nachzuweisen aufgrund dessen, dass es kaum bis gar keine Quellen aus der Zeit gibt, die einen Aufschluss geben könnten. Unabhängig davon in welchem Maße der Einzelne der biblischen Überlieferung vertraut, ist die theologische Dimension dieses Ereignisses unstrittig. Israel blickte jahrhundertelang und bis heute auf Gottes Wirken in „Ägyptenland“ zurück. Gottes Offenbarung durch den Exodus hat sein rettendes Wirken und seine Treue zu seinem Volk bewiesen. Alles was dem Volk Israel im Exodus widerfuhr, ist nicht nur eine Geschichte – es ist Gottes Wirken in der Geschichte. Gottes Wirken ist die Geschichte. Im Aufgeschriebenen über den Exodus, ist die Richtung immer klar: alles soll Gott verherrlichen. Gott ist der Befreier. Gott ist der, der Ägypten bestraft und Gerechtigkeit wiederherstellt.
Im weiteren Verlauf des Pentateuchs, in den Psalmen, in den Prophetenbüchern und im Neuen Testament, wird der Exodus und die Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft immer wieder aufgegriffen und rezipiert. Die Erfahrung des Exodus formte somit sowohl die jüdische als auch die christliche Identität. Möglicherweise ist die Prägung auf christlicher Seite schwächer. Es begeistert vielleicht nicht mehr. Der Grund liegt offenkundig in der endgültigen Offenbarung Gottes, in seiner endgültigen Rettung für uns Menschen: Jesus. Damals mussten die Ägypter das harte Joch der Sklaverei und Zwangsarbeit ertragen. Sklaverei ist für einen europäischen Christen zwar ein altertümliches Konstrukt. Doch es sind die Schwachheiten, Fehler und Abhängigkeiten, die den heutigen Menschen „versklaven“.
Gottes Rettung durch den Exodus war nicht endgültig. Das Volk musste bekanntermaßen im Verlauf der alttestamentlichen Geschichte wieder und wieder leiden. Der Autor des Hebräerbuchs im neuen Testament greift die Geschichte rund um den Exodus auf und schreibt:
„(6) Jetzt aber hat er (Jesus, der Hohepriester) einen vortrefflicheren Dienst erlangt, wie er auch Mittler eines besseren Bundes ist, der aufgrund besserer Verheißungen gestiftet worden ist. (7) Denn wenn jener erste ⟨Bund⟩ tadellos wäre, so wäre kein Raum für einen zweiten gesucht worden. (8) Denn tadelnd spricht er zu ihnen: »Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da werde ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schließen, (9) nicht nach der Art des Bundes, den ich mit ihren Vätern machte an dem Tag, da ich ihre Hand ergriff, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen; denn sie blieben nicht in meinem Bund, und ich kümmerte mich nicht um sie, spricht der Herr. (10) Denn dies ist der Bund, den ich dem Haus Israel errichten werde nach jenen Tagen, spricht der Herr: Meine Gesetze gebe ich in ihren Sinn und werde sie auch auf ihre Herzen schreiben; und ich werde ihnen Gott und sie werden mir Volk sein.“
(Hebr 8,6-11 ELB)
Weiter heißt es in Kapitel 11:
„(24) Durch Glauben weigerte sich Mose, als er groß geworden war, ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen, (25) und zog es vor, ⟨lieber⟩ zusammen mit dem Volk Gottes geplagt zu werden, als den zeitlichen Genuss der Sünde zu haben, (26) indem er die Schmach des Christus für größeren Reichtum hielt als die Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die Belohnung. (27) Durch Glauben verließ er Ägypten und fürchtete die Wut des Königs nicht; denn er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren. (28) Durch Glauben hat er das Passah gefeiert und die Bestreichung mit Blut ausgeführt, damit der Verderber der Erstgeburt sie nicht antastete. (29) Durch Glauben gingen sie durch das Rote Meer wie über trockenes Land, während die Ägypter, als sie es versuchten, verschlungen wurden.“
(Hebr 11,24-29 ELB)
Wie direkt oder indirekt die Exodusgeschichte darauf hindeutet, ist streitbar. Nach dem Hebräerschreiber ist der Exodus nicht nur Gottes Wirken in vergangenen Zeiten. Vielmehr wies er bereits damals auf jene Rettung Gottes hin, die in Jesus vollkommen geworden ist. Im Exodus, dem „alten Bund“, hat Gott bereits seine Treue erwiesen. In Jesus, dem „neuen Bund“, hat Gott seine ewige Treue gezeigt. In Epheser 1,7 heißt es:
„Durch ihn wurden wir freigekauft – um den Preis seines Blutes –, und in ihm sind uns alle Vergehen vergeben. Das verdanken wir allein Gottes unermesslich großer Gnade […]“.
Epheser 1,7 (NeÜ)
Gott will auch heute noch von versklavenden Schwachheiten befreien – so wie er damals aus Ägypten befreite.
Quellen
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