Weisheit in der Bibel und im Alten Ägypten

Für die Bibel ist der Begriff der Weisheit zentral. Ein Fünftel aller Verse im Alten Testament gehören zur sogenannten „Weisheitsliteratur“ (Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger, Hohelied). Weisheit bezeichnet in der Bibel – so die Definition von Gerhard Maier – „Einsicht in die Fülle der Dinge und Lebenszusammenhänge“ (Rienecker/Maier, Lexikon, Sp. 1708). Die Theologische Realenzyklopädie definiert Weisheit ähnlich, aber mit einem stärkeren Fokus auf der Alltagspraxis als „’Einsicht‘ in gewisse Lebens- und Weltzusammenhänge und daraus abgeleitete Verhaltensweisen“ (Rudolph, TRE 35, S. 478).

Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Weisheit; und Erkenntnis des allein Heiligen ist Einsicht.“ (Spr. 9,10)

Die Bibel sieht den Grund und Ursprung aller wahren Weisheit in der Gottesfurcht (so auch Ps. 111,10; Spr. 1,7; Hiob 28,28 u.a.). Wer den HERRN, den Gott Israels, fürchtet und ehrt, wird wirklich weise und gewinnt Einsicht in die Lebenszusammenhänge. Der Begriff „Furcht des HERRN“ ist im Bibelhebräischen einer der am häufigsten gebrauchten Begriffe, um die Beziehung zwischen einem Menschen und Gott zu beschreiben. Der Terminus bedeutet, dass der Mensch sich Gott in ehrfürchtiger Liebe unterordnet.

Damit hat Weisheit in der Bibel immer einen Transzendenzbezug, das heißt, sie steht in Zusammenhang mit der Gottesbeziehung. Nur wer eine ehrfurchtsvolle Beziehung zu Gott pflegt, kann wirklich weise im biblischen Sinne werden.

IMG_2015Die biblische Weisheitslehre ist nicht die einzige, die im Alten Vorderen Orient verbreitet war. Auch in der Umwelt des Alten Testaments gab es „Weisheitsliteratur“, die durchaus vergleichbar ist mit dem biblischen Sprüchebuch, dem Predigerbuch oder dem Hohelied. Es gab in anderen Völkern „Psalmen“ (Loblieder auf die Götter und weisheitliche Betrachtungen in Musikform) und Bücher, die dem Buch Hiob ähnelten, z.B. die altägyptische „Klage des Ipuwer“. Besonders aus Ägypten sind zahlreiche Weisheitsschriften erhalten. Ägyptologen und Bibelwissenschaftler vergleichen immer wieder die altägyptische mit der hebräischen (biblischen) Weisheitsliteratur und stellen zahlreiche Gemeinsamkeiten in Form und Inhalt fest. Doch die Frage ist, welches Verständnis von Weisheit in der altägyptischen Weisheitsliteratur vorherrscht. Wird Weisheit lediglich als immanente Lebensklugheit und Lebenserfahrung angesehen? Ist ihr Ziel nur, dass es dem Menschen auf der Erde gut ergeht? Oder wird der Begriff theologisch gefüllt? Hat Weisheit nach ägyptischem Verständnis Konsequenzen für das Leben nach dem Tod? Besteht – wie in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur – ein enger Zusammenhang zwischen Gottesfurcht und Weisheit? Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede des ägyptischen und des biblischen Weisheitsbegriffs?

Ägyptische Weisheitsliteratur

Die erste heute belegte Weisheitsliteratur Ägyptens stammt aus dem Alten Reich (3. Jahrtausend v. Chr.). Die wohl älteste Lehre ist die des Königssohns Djedefhor, die nur in Abschriften aus der Ramessidenzeit fragmentarisch erhalten ist. In einigen Texten wird auch auf eine noch ältere „Lehre des Imhotep“ Bezug genommen, die aber heute nicht mehr erhalten ist. Der älteste vollständig erhaltene Weisheitstext Ägyptens ist die „Lehre des Ptahhotep“, ebenfalls aus der Zeit des Alten Reiches. Im Mittleren Reich und der 2. Zwischenzeit (spätes 3. Jahrtausend bis Mitte 2. Jahrtausend v. Chr.) wird die Weisheitsliteratur oft auch für politische Zwecke missbraucht. Das Neue Reich kehrt zur klassischen Form des Alten Reiches zurück; die „Lehre des Amenemope“ (ca. 1100 v. Chr.) ist das bekannteste Beispiel dafür. Als jüngste ägyptische Weisheitslehre gilt der Papyrus Insinger (um 300 v. Chr.). Da dieser Text erst in der Ptolemäerzeit verfasst wurde, ist er international geprägt und nimmt neben Elementen, die typischerweise ägyptisch sind, auch solche aus Griechenland und dem Nahen Osten auf. Die ägyptische Weisheitslehre in ihrer Reinform galt schon damals als nicht mehr existent.

Das inhaltliche Spektrum altägyptischer Weisheitsliteratur reicht von praktischen Ratschlägen zur Kindererziehung bis hin zu philosophischen Abhandlungen über das Wesen von Raum und Zeit, von Lobpreisungen der Götter bis hin zu pessimistischen Betrachtungen der politischen Lage. Trotz dieser breiten Fächerung verschiedenster Themen gibt es einige Elemente, die immer wieder auftauchen. Das liegt daran, dass ägyptische Weisheitstexte sehr stark von der Lebenswelt der Beamten und Schreiber geprägt sind (die diese Texte größtenteils verfasst haben); wiederkehrende Elemente nehmen häufig Bezug auf dieses gesellschaftliche Milieu.

IMG_2079Auch der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang spielt eine große Rolle in ägyptischen Weisheitslehren. Dieser Begriff bezeichnet das Prinzip: Wer Gutes tut, dem wird es gut ergehen; wer Schlechtes tut, dem wird es schlecht ergehen. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang war für die Ägypter wichtig, da er eine erfahrbare gesellschaftliche Realität darstellte: Nur ein gutes soziales Verhalten konnte aufgrund sozialer Sanktionen zu gesellschaftlichem Erfolg führen. Die funktionierende Gesellschaft bildet in der ägyptischen Weisheit sowohl die empirische Basis als auch eine „ethische Forderung und Idealbild der Wirklichkeit“ (Römheld, Wege, 120). Diese – im ägyptischen System gottgegebene – umfassende Weltordnung wird mit dem zentralen Begriff Ma’at bezeichnet. Ma’at bezeichnet dabei nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die natürliche Ordnung; der Begriff umfasst alles, die ganze Weltharmonie. Manfred Görg definiert Ma’at deshalb treffend als universales „Sinngefüge“ (Görg, Religionen, 16). Auch „Ma’at-Tun“ ist möglich; der Mensch kann das tun, was dem Weltensinn entspricht, oder er kann sich dagegen entscheiden. Im Ma’at-Begriff ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang stets impliziert.

Die ägyptische Definition von Weisheit

Im Alten und Mittleren Reich wurde Weisheit mehr oder weniger mit Ma’at-Tun gleichgesetzt: Weisheit bedeutete, so zu handeln, wie es der holistischen (ganzheitlichen) Weltharmonie entspricht. Alles Tun dessen, was Ma’at fördert, ist weise; alles Tun dessen, was Ma’at zuwiderläuft, unweise. Weisheit ist damit theologisch begründet, denn Ma’at galt als gottgeschaffen. Obwohl dieser zentrale Begriff religiös aufgeladen war, weil die Götter die Weltordnung schufen, werden Gott bzw. Götter nicht oft explizit genannt – ganz anders als in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur. In der Lehre des Ptahhotep etwa erwähnen nur ca. 4,5 % aller Zeilen im Lehrkorpus Gott oder Götter. Das bedeutet: Obwohl der Weisheitsbegriff im Alten Ägypten religiös begründet war, zielte er doch primär auf ein gelingendes irdisches Leben.

Allerdings veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte die ägyptische Religion, was sich natürlich auch in der Weisheitsliteratur niederschlug. In der „Lehre des Amenemope“ etwa wird deutlich, dass im Neuen Reich ein starker Determinismus (also der Glaube daran, dass alles vorherbestimmt sei) vorherrschte, der in der älteren Weisheitsliteratur so nicht vorhanden war. Der Gott bestimmte nun alles – nicht mehr die durch den Gott geschaffene Weltordnung (Ma’at), in welcher der Mensch relativ selbstbestimmt leben und entscheiden konnte. Die daraus resultierende Unsicherheit und Lebensangst konnte jetzt nur noch durch Vertrauen auf den Gott besiegt werden: „Nicht mehr Weisheit und Ma’at-Tun sichern den Erfolg, sondern Demut (ägyptisch: Schweigen) empfängt den göttlichen Gunsterweis“ (Römehld, Wege, 133). Deshalb bekam der Begriff „Schweiger“ (im Sinne von: jemand, der demütig auf Gott vertraut und auf Selbstbehauptung verzichtet) eine immer zentralere Bedeutung in der Weisheitsliteratur. Ma’at wurde nicht mehr als eine feste Größe in der Welt wahrgenommen, sondern mit dem Willen des Weltenlenkers gleichgesetzt. In späteren Weisheitslehren wie den „demotischen Lehren“ (ab ca. 600 v. Chr.) fehlt der Begriff Ma’at gänzlich.

Es gibt also in der ägyptischen Weisheitsliteratur zwei Definitionen von „Weisheit“. Im Alten und Mittleren Reich wurde Weisesein mit Ma’at-Tun gleichgesetzt, in neueren Weisheitstexten als das demütige „Schweigen“ vor der Willkür des Gottes. Der klassische Tun-Ergehen-Zusammenhang (Ma’at-Tun führt zu irdischem Erfolg) tritt hier deutlich in den Hintergrund: Gottes Willkür erlaubt es auch, dass es Guten schlecht und Schlechten gut ergeht. Stattdessen wird dem Tun-Ergehen-Zusammenhang eine neue, innerliche Bedeutung verliehen: Sich in Gottes Willen zu fügen, bringt inneren Frieden.

Vergleich des ägyptischen mit dem biblischen Weisheitsbegriff

Das ägyptische Weisheitsverständnis ist nicht das einer rein innerweltlichen Lebensklugheit oder Lebenserfahrung: Weisheit ist ein theologisch begründeter Begriff. Sie ist im Prinzip eine religiös begründetete Hermeneutik der Lebensbewältigung. Das Ziel der ägyptischen Weisheitslehre ist praktisch immer ein gelingendes irdisches Leben: „Abgesehen von wenigen Ausnahmen beschäftigen sich … die Lehren nur mit dem Diesseits und seinen Schwierigkeiten und Aufgaben.“ (Brunner, Weisheit, 45) Weise zu sein, hat zwar auch Auswirkungen auf das Leben nach dem Tod – was an einigen wenigen Stellen in den Weisheitslehren durchscheint –, Erfolg im irdischen Leben ist den ägyptischen Autoren aber offensichtlich ungleich wichtiger. Hier spielt der Tun-Ergehen-Zusammenhang eine wichtige Rolle (egal, ob das „Ergehen“ bei gutem „Tun“ nun wie in den älteren Weisheitstexten aus äußerem Erfolg oder wie in den jüngeren Texten aus innerer Zufriedenheit besteht).

Die alttestamentliche Weisheitslehre betont, dass der Ausgangspunkt aller wahren Weisheit die Gottesfurcht ist. Die Weisheitsdefinition der Ägypter sieht ebenfalls einen gewissen Zusammenhang zwischen Religiosität und Weisheit, allerdings spielt dieser nur eine deutlich untergeordnete Rolle – wie schon die im Vergleich zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur relativ seltene Erwähnung von Gott bzw. Göttern in ägyptischen Weisheitstexten andeutet. Ma’at ist zwar ein göttliches Prinzip, und das „schweigende“ Vertrauen auf Gott (bei Amenemope) impliziert die Frömmigkeit und Gottesfurcht, die auch von alttestamentlichen Weisen gefordert wird. Allerdings wird diese niemals als „Anfang“ – Grund und Ausgangspunkt – der Weisheit angenommen. Der biblische Weisheitsbegriff definiert sich als eine Größe, die vom Glauben an den Gott Israels nicht zu trennen ist, sondern aus ihm resultiert. Für die ägyptischen Weisen ist Religion zwar wichtig, spielt aber in den Lehren eine Nebenrolle.

IMG_2232Weder die klassische ägyptische Weisheitsdefinition noch die, die sich im Neuen Reich bei Amenemope findet, ist also deckungsgleich mit der israelitischen. Der Ma’at-Begriff findet sich in der israelitischen Weisheitsliteratur so nicht. Nach der biblischen Definition ist Weisheit nicht das, was der universalen Ordnung des Kosmos entspricht, sondern das, was der Gottesfurcht entspricht. Auch die Weisheit des Amenemope, bei dem weises Handeln mit demütigem „Schweigen“ vor Gott gleichgesetzt wird, findet sich in der Bibel nicht in gleicher Weise. Amenemope sieht das „Schweigen“ (demütiges Vertrauen) als ein sich-Einfinden in das von Gott gelenkte Schicksal; der Mensch hängt von der Willkür Gottes ab, er kann nichts tun und ist der Zukunft gegenüber völlig unsicher. Das Gottvertrauen im biblischen Sinne dagegen ist ein Vertrauen auf einen geoffenbarten Gott, der einen Bund mit seinem Volk geschlossen und sich ihm klar mitgeteilt hat. Der Gott des Alten Testaments ist kein willkürlicher Schicksalslenker, der dem Menschen vielleicht seine Gunst erweist, wenn er will, sondern ein Bundes-Gott, der dem Menschen klare Versprechen gibt, an die er sich dann auch hält. Das Gottvertrauen des Amenemope ist eine unsichere, schicksalsergebene Demut angesichts der Willkür Gottes; das Gottvertrauen der Bibel dagegen ist sichere, begründete Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit und Treue.

Trotz mancher Gemeinsamkeiten, wie z.B. der allgemein theologischen Begründung der Weisheit, ist der Weisheitsbegriff der Israeliten vom ägyptischen Weisheitsbegriff also völlig unterschieden. Mag es auch (gegenseitige oder einseitige) Beeinflussungen gegeben haben, besteht doch eine große Differenz zwischen der ägyptischen und der hebräischen Weisheitsliteratur. Eine Abhängigkeit der hebräischen von ägyptischer Weisheitslehre, wie sie immer wieder postuliert wird, ist aufgrund der völlig unterschiedlichen Weisheitsdefinitionen nicht anzunehmen. Das Weisheitsverständnis der Israeliten ist von dem der Ägypter anscheinend nicht oder nur sehr wenig beeinflusst.

Wer die Weisheitsliteratur des Alten Testaments verstehen will, muss also ihre Eigenständigkeit verstehen. Viele Theologen gehen heute davon aus, dass die biblische Weisheitslehre stark von der ägyptischen beeinflusst sei. Aber aufgrund der völlig unterschiedlichen Voraussetzungen – nämlich der völlig unterschiedlichen Vorstellungen, was Weisheit überhaupt ist – ist von einer direkten Beeinflussung eigentlich kaum auszugehen. Die israelisch-biblische Weisheitsliteratur ist eigenständig, sie ist nicht stark heidnisch beeinflusst, sondern von Grund auf auf den Gott Israels konzentriert. Diese Konzentration muss man beachten, wenn man das Alte Testament richtig auslegen möchte.

(sg)

Quellen:

Brunner, Helmut, Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben, Zürich/München 1988

Görg, Manfred, Religionen in der Umwelt des Alten Testaments III: Ägyptische Religion. Wurzeln – Wege – Wirkungen, Stuttgart 2007

Weisheit, in: Rienecker, Fritz / Maier, Gerhard (Hg.), Lexikon zur Bibel, 5. Aufl. Wuppertal 1994

Römheld, Diethard, Die Weisheitslehre im Alten Orient. Elemente einer Formgeschichte. Biblische Notizen – Beiheft 4, München 1989

Römheld, Diethard, Wege der Weisheit. Die Lehren Amenemopes und Proverbien 22,17-24,22, Berlin 1989

Rudolph, Kurt, Weisheit, in: TRE 35, Berlin 2003

Bilder:

privat / S.G.

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