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Der Antisemitismus unter politisch Linken

Ein Beitrag von Pfr. Dr. Berthold Schwarz

 

Pfarrer Dr. Berthold Schwarz ist der Leiter des Instituts für Israelogie.

Einleitung

Antisemitismus wird oft mit der extremen, politischen Rechten oder dem sog. Rechtsextremismus oder dem Neo-Nazitum oder radikal-muslimischen Gruppen (in Dunstkreis der Ideologien von „Die Protokolle der Weisen von Zion“ usw.) assoziiert. Historisch wie gegenwärtig ist jedoch auch in der politischen Linken eine sehr auffällige und spezifische Form des Antisemitismus wirksam – teils implizit, teils offen und aggressiv. Während sich linke Ideologien auf Universalismus, Gleichheit, Antikapitalismus, soziale Gerechtigkeit und Emanzipation berufen, existieren in Teilen dieser Bewegung tief verwurzelte Stereotype über das Judentum. Diese manifestieren sich immer wieder in einem diversen Verschwörungsdenken, auch in der Dämonisierung Israels und in einer selektiven Empathie, die jüdische Perspektiven, Hoffnungen und Existenzrechte marginalisiert.

Erst vor wenigen Tagen auf dem Parteitag der Linken wurde dieser abscheuliche und abstoßende „linke Antisemitismus“ wieder einmal mehr in der Öffentlichkeit sichtbar. Der Hass gegen Israel und Juden wurde vom Podium aus von einigen Delegierten der Linken in den Redebeiträgen laut und schmähend vorgetragen. Sachliche Argumente – Fehlanzeige. Die Erklärung des Parteivorstandes, sich in der Partei von anti-jüdischen und antisemitischen Äußerungen zu distanzieren, sei – so eine Rednerin – „eine Schande“. Solidarität mit Israel sei Solidarität mit einem „kapitalistischen, genozidalen, Apartheidsstaat“. Die „alten Verurteilungen“ in neuem Gewand stehen dem rechtsradikalen und islamistischen Antisemitismus in Nichts nach.

Ziel dieses Beitrags ist es, nicht den gesamten linkspolitischen Diskurs pauschal zu diskreditieren, sondern die problematischen Ausprägungen in einer historischen Kontinuität kritisch zu benennen und zu analysieren – mit klarer Differenzierung und Quellenbezug.

 

1. Historische Wurzeln: Sozialismus, Marxismus und Judenbild im frühen 20. Jahrhundert

Karl Marx und die doppelte Lesart der „Judenfrage“

Nach dem deutschen Philosophen Karl Marx (1818-1883) wurde die Bewegung des Marxismus benannt. (Bild: Gemeinfrei auf Wikipedia)

Karl Marx war selbst jüdischer Herkunft, trat jedoch früh aus der jüdischen Gemeinde aus. In seiner Schrift Zur Judenfrage (1844) kritisierte er nicht nur die Religion allgemein, sondern entwickelte eine ökonomisch-kapitalismuskritische Lesart des Judentums, in der „der Jude“ zum Symbol eines entfremdeten, profitorientierten Systems wird:

„Der praktische Jude ist zum allgemeinen Menschen geworden, nicht nur weil er die Geldmacht erlangt hat, sondern weil durch ihn das Geld zur Weltherrschaft gelangt ist.“ (Marx, Zur Judenfrage, 1844)

Dieser Diskurs und solche Statements waren unter den Anhängern von Marx und des Kommunismus bzw. des Sozialismus in doppelter Hinsicht tragisch folgenreich: Einerseits bot die Analyse von Marx „linken Antisemiten“ eine rhetorische Vorlage, um Juden eben nicht „rassisch“, sondern „nur“ ökonomisch zu stigmatisieren. Andererseits wurde sie in ihrer Zeit auch als religionskritische Allegorie verstanden, so dass das Judentum insgesamt unter Beeinflussten nicht mehr „neutral“ und vorurteilsfrei angesehen wurde. Daher befeuerte die Gleichsetzung von „Judentum“ und Kapitalismus langfristig, über Jahrzehnte hinweg, judenfeindliche Narrative, vor allem in revolutionären Milieus Osteuropas und Deutschlands.

Ambivalenzen in der Arbeiterbewegung

Im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik war Antisemitismus unter Sozialdemokraten keine (!) Randerscheinung. Auch wenn sich führende Köpfe der SPD wie August Bebel ausdrücklich gegen Antisemitismus positionierten (Bebels berühmtes Wort vom „Antisemitismus als Sozialismus der dummen Kerle“), gab es auf unteren Funktionärsebenen eine Menge historisch verifizierbare, antijüdische Ressentiments.

In Frankreich etwa waren linke Gruppen im Dreyfus-Skandal gespalten: Während Jean Jaurès sich klar für den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus einsetzte, standen viele Sozialisten auf Seiten der Antisemiten, weil sie Dreyfus für einen Teil des „korrupten Establishments“ hielten, eben einen typischen Vertreter des „jüdischen (ausbeutenden) Kapitalismus“.

 

2. Der sowjetische und osteuropäische Kontext: Staatsantisemitismus unter linkem Vorzeichen

Die anfängliche jüdische Beteiligung an der Revolution

Viele Juden engagierten sich in der russischen Revolutionsbewegung vor und ab 1917, insbesondere in der Menschewiki- und Bolschewiki-Fraktion. Ihre Motivation war dabei oft geprägt von der Hoffnung, endlich die jahrhundertelange Diskriminierung als Juden unter dem Zarismus zu überwinden (schwere russische Pogrome im 19. Jahrhundert!).

Jüdische Organisationen wie der „Bund“ (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland) waren fester Bestandteil der frühen sozialistischen Bewegung. Sie setzten sich für kulturelle Autonomie und soziale Gerechtigkeit ein – oft im Konflikt mit der zentralistischen Linie Lenins.

Stalinismus: Antisemitismus als Herrschaftsinstrument

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Die Statue zeigt den Diktator Josef Stalin (1878-1953).

In den 1930er Jahren änderte sich das Klima radikal. Unter Stalin wurde der Antisemitismus zwar offiziell als „bürgerliche“ Ideologie abgelehnt, tatsächlich aber nutzte die sowjetische Führung antisemitische Ressentiments, um politische Gegner zu eliminieren.

  • Die Ärzteverschwörung (1952–53) beschuldigte jüdische Mediziner, Stalin ermorden zu wollen – ein klar antisemitisch konstruierter Schauprozess.
  • Die Kampagne gegen die Kosmopoliten richtete sich insbesondere gegen jüdische Intellektuelle, denen „Vaterlandsverrat“ und „zionistische Umtriebe“ vorgeworfen wurden.

Der Antizionismus der sowjetischen Propaganda ab 1948 verband sich systematisch mit antisemitischen Codes: Zionisten galten als „Agenten des Imperialismus“ und „Feinde des Friedens“. Solche vorgebrachten und gestreuten Vor- und Aburteile bildeten nicht selten das Urteilsvermögen linker Bewegungen in der Nachkriegszeit auf deutschem Boden.

 

3. Antizionismus und Antisemitismus in der westlichen Linken nach 1945

1968 und die Internationalisierung linker Feindbilder

Die antikolonialen Bewegungen der 1950er bis 1970er Jahre prägten das Weltbild der westlichen Linken entscheidend. Israel wurde spätestens nach dem Sechstagekrieg (1967) nicht mehr als Zufluchtsort der Shoah-Überlebenden gesehen, sondern als Unterdrückungsmacht, als „aggressive Kolonialmacht“, die sog. „Palästinenser“ (arabisch-muslimische Bevölkerung) entmenschlicht und entrechtet. Dieses Narrativ setzte sich energisch innerhalb vieler politisch linker Gruppen und Einzelpersonen durch.

Besonders in unter westdeutschen Linken war diese Sichtweise Ausdruck einer Schuldverlagerung: Statt sich mit der deutschen NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, wurde Israel zum „Faschismusersatz“ stilisiert. Der Zionismus wurde nicht als nationale Selbstbestimmung jüdischer Menschen, sondern als koloniale Aggression interpretiert. Juden nicht mehr als „Opfer“ von Gewalt angesehen, sondern als „Aggressoren“ für Gewalt und Unterdrückung

Diese Narrative äußerten sich in Flugblättern, Demonstrationen („Zionismus = Rassismus“) und Kooperationen mit palästinensischen Gruppen, etwa der PLO oder PFLP.

RAF und die moralische Verkehrung

Die Rote Armee Fraktion gilt als eine linksextremistische Terrorgruppierung in der BRD, die für zahlreiche Morde, Entführungen und Raubzüge verantwortlich war. (Bild: Gemeinfrei auf Wikipedia)

Die Zusammenarbeit der RAF mit arabischen Terrororganisationen kulminierte im Entführungsfall Entebbe 1976. Dabei selektierten die Geiselnehmer (darunter deutsche Linksterroristen) jüdische Passagiere – eine Selektion, die unweigerlich Erinnerungen an den Holocaust weckte.

Dies war kein „Ausrutscher“, sondern Ausdruck eines ideologischen Kerns: Das Judentum galt als Träger imperialistischer Macht, die es zu stigmatisieren und zu bekämpfen galt, wie und wo auch immer – eine gefährliche Umkehrung der Realität jüdischer Verfolgung.

 

4. Der neue Antisemitismus im linken Gewand: Postkolonialismus, BDS und die Gegenwart

Dekolonialisierung des Diskurses: Wenn Israel „weiß“ wird

Im postkolonialen Denken der Gegenwart (political correctness, woke Deutungsrichtlinien usw.) wird Israel immer häufiger als „kapitalistisch westlich“ oder „weiß“ eingeordnet – trotz der multiethnischen Zusammensetzung seiner Bevölkerung. Die komplexe Geschichte jüdischer Flucht aus arabischen Ländern wird dabei weitgehend ignoriert.

Edward Saids Werk Orientalism legte den Grundstein für eine berechtigte Kritik an westlicher Arroganz. Doch in der politischen Praxis wurde Israel oft als „Kolonialprodukt“ dargestellt – ohne Berücksichtigung der Shoah, der Pogrome im Irak (Farhud) oder der Vertreibung sephardischer Juden aus Nordafrika.

BDS: Protest oder Ausgrenzung?

Dieses Plakat wurde auf einer BDS-Demonstration 2010 in Melbourne hochgehalten. Die Abkürzung BDS steht für „Boycott, Divest, Sanction“ und richtet sich gegen den jüdischen Staat Israel.

Die BDS-Bewegung entstand 2005 in palästinensischen Zivilgesellschaftskreisen und wurde von vielen westlichen Linken übernommen, auch bis hin in linkspolitische Kreise Deutschlands und der EU. Ihre zentralen Forderungen – Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, Ende der Besatzung durch die Aggressoren Israel, Gleichheit aller Bürger – sind teilweise völkerrechtlich legitim, jedoch problematisch, wenn sie bewusst auf die Auflösung Israels hinauslaufen.

Die Bewegung nutzt wirtschaftlichen und kulturellen Boykott als Mittel, trifft dabei aber oft jüdische Künstler, Akademiker, landwirtschaftliche Produkte, Technologieprodukte oder Institutionen, die nicht in staatlicher Funktion agieren. Dies fördert einen „kollektiven Boykott jüdischer Präsenz“ – ein klassisches antisemitisches Motiv in neuer Form.

Die neue akademische Linke und jüdische Ausgrenzung

An vielen Universitäten weltweit erleben jüdische Studierende, die Israel unterstützen oder auch nur eine differenzierte Position einnehmen, soziale Ächtung. Diskussionsräume werden als „safe spaces“ definiert, in denen „zionistische Stimmen“ keinen Platz hätten.

Diese Ausgrenzung verweist auf ein fundamentales Problem: Antisemitismus wird nicht mehr als menschenfeindlich begriffen, solange er sich in der Sprache von Menschenrechten, Antirassismus und Postkolonialismus kleidet. Somit wird er akzeptiert als „richtig“ und als „salonfähig“ im öffentlichen Diskurs.

Von Amerika aus wird der linke Antisemitismus auch von der säkular-jüdischen Professorin Judith Butler forciert und propagiert, einer dezidiert verbal aggressiven Anti-Israelin unter Akademikern. Ihr Einfluss in der politisch linken Szene in demokratisch-westlichen Gesellschaften darf man keineswegs unterschätzen (siehe den Artikel von Louisa Brüning zu „Judith Butler – „As a Jew“).

 

Fazit: Eine kritische Bilanz

Der links-politische Antisemitismus des 20. und 21. Jahrhunderts ist kein monolithisches Phänomen, sondern ein ideologisch vielgestaltiges Geflecht. Er äußert sich mal ökonomisch (Jude = Ausbeuter, Unterdrücker, Kapitalist), mal politisch (Jude = Zionist = Unterdrücker), mal kulturell (Jude = Kosmopolit ohne Bindung, destruktiv).

Die Linke war immer wieder auch ein Ort jüdischer Emanzipation und Aufklärung – doch ebenso ein Raum, in dem antisemitische Bilder, Narrative, Verwerfungen und Abwertungen überdauerten, solange sie als „Kapitalismuskritik“, „Apartheid“ oder „Israelkritik“ maskiert und verschleiert werden konnten.

Eine verantwortungsvolle politische Linke muss sich dieser Geschichte stellen, die eigenen Stereotype hinterfragen und jüdische Perspektiven in den Diskurs integrieren – nicht trotz, sondern wegen ihres eigenen Anspruchs auf Gerechtigkeit.

 

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Der Antisemitismus unter politisch Linken - Pfr. Dr. Berthold Schwarz

 

Literatur und Quellen (in begrenzter Auswahl):

Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004.

Thomas Haury, Antisemitismus von Links. Facetten der Judenfeindschaft, Berlin 2019.

Jeffrey Herf, Undeclared Wars with Israel, Cambridge University Press, 2016.

Samuel Salzborn, Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Nomos Verlag, 2020.

Moshe Zuckermann: Antisemit! Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Westend Verlag, 2021.

Bundestagsdrucksache 19/10191: „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“, Berlin 2019.

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