Judith Butler – „As a Jew”

Gelegentlich wirken die Gedanken der Philosophie irrelevant für die Menschen des Alltags. Zu hochtrabend und komplex, zu lebensfern und altertümlich stellen sich die Denker und Denkerinnen dar, sodass zwischen Spülmaschine einräumen, Lernen und Arbeiten kein Platz für Platon, Aristoteles oder Wittgenstein bleibt. Welche alltägliche und trotzdem gesellschaftlich Relevanz haben die Philosophen und Philosophinnen auch? Doch immerhin gibt es eine einflussreiche Denkerin der Gegenwart, die auch den Alltag vieler Bürger „denkerisch“ aufmischt. Ich spreche von der Philosophin und Professorin Judith Butler (*1956).

Judith Butler ist eine amerikanische Philosophin, die vor allem als Gendertheoretikerin weltbekannt wurde mit ihren Theorien zu den Geschlechterkategorien, „männlich“ und “weiblich“, die sie als nicht normativ dekonstruiert (Das Unbehagen der Geschlechter, 1990). Zugleich wurde sie bekannt durch ihre provokativen Äußerungen zum Nahostkonflikt. Butler rechnet sich selbst der progressiven „globalen Linken“ zu und ist für ihre kritische Position gegenüber dem Staat Israel bekannt. In ihrem Denken, ihrem Sprechen und ihrem Schreiben gilt sie als innovativ. In ihren Positionierungen zu Politik und gesellschaftlichen Themen steht sie klar und antwortet spitzfindig. Sie selbst ist Jüdin, sodass ihre Aussagen zu dem derzeitigen Krieg zwischen Israel und Palästina besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In all diesen Kontroversen ist sie vor allem eines: umstritten. Woher kommt die polarisierende Philosophin, deren Aussagen gerade für Aufsehen und Wut sorgen?

Biografie

Judith Butler wurde 1956 in Cleveland, Ohio als Kind jüdischer Eltern geboren. In ihrer wohl situierten Familie genoss sie auch eine jüdische Erziehung, die sie mit der jüdischen Kultur, den Festen und auch der Religion vertraut machte. In einer jüdischen Schule lernte sie außerdem Hebräisch und unterzog sich ihrer ersten philosophischen Schule im Rahmen des jüdischen Ethikunterrichts, in dem sie beispielsweise mit den Lehren Martin Bubers in Kontakt kam. Obwohl sie heutzutage eher für ihre Philosophie zu Gender und Politik bekannt ist, zieht sich ihr jüdischer Hintergrund wie ein roter Faden durch ihre Werke. Sie war sich ihrer jüdischen Identität immer bewusst, was vor allem in der Auseinandersetzung berühmter jüdischer Autoren und Autorinnen wie Hannah Arendt und Walter Benjamin unübersehbar wurde. Auffällig differenziert befasste sie sich mit der jüdischen Tradition und dem Talmud. Trotz des ausgeprägten Interesses am Judentum ist ihre eigene religiöse Frömmigkeit unklar, sie selbst benannte sich nicht als gläubige Jüdin, identifiziert sich aber mit der jüdischen Tradition.
Schon früh entschied sie sich für ein Studium der Philosophie und studierte zunächst am Elitecollege Yale in Connecticut und später dann in Heidelberg mit einem Schwerpunkt auf die hegelsche Philosophie. 1990 erreichte sie ihren Durchbruch mit dem Werk „Gender Trouble“ (dt. Das Unbehagen der Geschlechter). Mit diesem Werk veränderte sie die gesellschaftliche Perspektive auf das Thema Geschlechtsidentität nachhaltig. Butler engagierte sich auch als Aktivistin für das Betrauern von Homosexuellen, deren Tod während der HIV-Epidemie häufig als Strafe Gottes und somit als verdient angesehen wurde. Daraus entwickelte sich ihr ethischer Ansatz, dass jedes Leben zu betrauern sein muss.

Während sich die junge Judith Butler vorrangig mit den Gender Studies beschäftigte, gilt sie heute eher als politische Philosophin. Erst 2020 veröffentlichte sie ihr Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, in dem sie einer Ethik des gewaltfreien Handelns nachspürt. Mit ihrem progressiven Verständnis von Sozialismus nimmt sie eine Opposition zur vorherrschen amerikanischen Politik der letzten Jahre ein. Derzeit besitzt sie einen Lehrstuhl an der University of California in Berkely für Rhetorik und Komparistik, die Themenfelder, die ihr weites Spektrum auf den Aspekt Sprache fokussieren.

Haltung zu Israel und Kritik

So viel zu Butlers Biografie und ihrem Hintergrund. In Anbetracht ihrer eigenen jüdischen Prägung bleibt man mit Entsetzen zurück, wenn der Zentralrat der Juden in Deutschland sie eine „Israelhasserin“ nennt, deren Gesinnung zutiefst antisemitisch sei. Und dieses Urteil wird nachvollziehbar, da Butler offenkundig Sympathisantin der Hamas, der palästinischen Organisation ist, die von 41 Staaten, darunter auch Deutschland und die USA, als terroristische Vereinigung eingestuft wird, sowie der Hisbollah, einer libanesisch-islamistischen Partei, die Deutschland als Terrororganisation bezeichnet. Wie ist es möglich, dass eine erklärte Pazifistin mit Terrororganisationen und deren gewaltsamen Machenschaften sympathisiert? Woher kommen diese Abneigung und der Hass gegen Israel und wie ist es möglich, eine solche Position als Jüdin einzunehmen?

Ihre Haltung bezüglich Israel ist schwer nachzuvollziehen. Diese vertritt sie auch nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, den sie erschreckenderweise lediglich als legitimen „politischen Widerstrand“ der Unterdrückten qualifizierte, sondern bereits seit mehr als 20 Jahren. 2006 betitelte sie beispielsweise die Hamas als „progressive soziale Bewegung“. Ihr ethisches Ziel der Gleichheit auch für Minderheiten führten sie schon früh zu einer Verbundenheit mit „Palästinensern“ und ihren politisch-religiösen Anliegen. In politischen Fragen wie die nach der Zweistaatenlösung positionierte sie sich nie neutral, sondern immer mit Sichtweise, die die Palästinenser vertreten. Seit März 2009 unterstützt sie die Ziele der Kampagne „Boycott, Divestment und Sanctions“, die als zutiefst antisemitisch angesehen werden muss, zugegebenermaßen „nicht ohne Vorbehalte“.

In ihrem Buch „Am Scheideweg – Judentum und die Kritik am Zionismus“ von 2012 vertrat sie die These, dass der Staat Israel und der dazugehörige Zionismus den Versuch darstellen, ein notwendiges Ergebnis der jüdischen Geschichte zu sein. Jeder Jude müsse Israel als seinen Heimatstaat ansehen und könne somit nicht mehr auf der ganzen Welt zu Hause sein. Als Mensch eigener jüdischer Abstammung lehnt sie diese Denkweise radikal ab, da sie sich nicht vom Staat Israel sowie der (meist politisch rechten) Regierung vertreten sieht, wie beispielsweise durch Ariel Scharon oder auch Benjamin Netanjahu.

Aber generell habe es nie einen guten Zionismus gegeben, da der Staat Israel eine Fehlkonstruktion sei. Hierbei geht es dann jedoch nicht mehr um eine politische Haltung, sondern um eine grundsätzliche Ablehnung des jüdischen Staates per se. Diese begründet sie mit der Geschichte der Gründung des Staates Israel. Ihrer Meinung nach ist Israel auf einen Siedlerkolonialismus gegründet, bei dem der Holocaust hauptsächlich einen tragischen Hintergrund darstellt. Geflüchtete aus hochkulturellen, überwiegend westlichen Kontexten vereinnahmten geographisch so bezeichnete Israel teilweise illegal, sie vertrieben arabische Bevölkerungsgruppen und benachteiligten nicht-jüdische Menschen. Das mache den Staat von Anfang an illegal, sodass seine Daseinsberechtigung nun nicht mehr zu gewährleisten sei. Dabei stützt sie sich sogar auf Aussagen von jüdischen Zeitzeugen wie Buber oder Arendt, die sich zwar für Israel als Staat aussprachen, allerdings einige Kritikpunkte an der Vorgehensweise der Gründung hatten, vor allem an der Gefahr vor einem Gegeneinander von jüdischen und arabischen Menschen.

person holding green white and red flag

Pro Palestina – Foto: Ömer Yıldız

Sie empfindet ihr hohes Ideal einer Demokratie und der damit einhergehenden Gleichheit aller Bürger, egal welcher Herkunft oder Religion, in Israel nicht erfüllt, da er sich als spezifisch jüdischen Staat deklariert, der zwar für Juden offen, aber für alle anderen Staatsbürgerschaften schwer zu erreichen sei. Allerdings ist dieser Maßstab für kein Land zu erreichen, nicht einmal die Schweiz kann völlige Gleichheit der Menschen erreichen. Dieses Urteil stimmt auch für den Staat Israel rein objektiv geurteilt nicht, schaut man sich die multikulturellen Lebenskonzepte der Bürger und Bürgerinnen in Israel an.

In einem ihrer oben erwähnten Essays kritisiert sie, dass nur ein gewisses Menschenleben geschützt und betrauert werde, was der Haltung der Nationalsozialisten gleichkäme. Sie rebelliert, wenn man „den Staat Israel mit dem jüdischen Volk gleichsetzt oder diesen als einzigen politisch legitimierten ‚Repräsentant der Juden‘“ begreift.

Dabei nutzt sie immer wieder den Duktus „As a Jew“, wenn sie über Israel und Palästina spricht. Sie bedient sich antisemitischer Rhetorik, während sie sich als Jüdin gegen Israel positioniert. Als Rhetorik Professorin ist sie sich des Phänomens der performativen Sprache sehr bewusst, was bedeutet, dass sie negativ konnotierte Zuschreibungen wie „Genozid“, „Apartheid“ oder „Imperialismus“ ganz bewusst auf Israel bezogen einsetzt, um Israel mit dem Bösen zu identifizieren. Antisemitische Äußerungen legitimiert Judith Butler mit dem Verweis auf ihre Herkunft.

Die Vorwürfe gegen ihre antisemitische Haltung wehrt sie ab, da sie nur „Israelkritik“ übe, die nicht als Antisemitismus abgestempelt werden dürfe. Das käme einer Form des Rassismus gleich, den sie völlig unannehmbar findet und der jüdischen Ethik des Respekts und der Integration des Fremden widerspricht. Dabei legt sie ihr Augenmerk vor allem auf Deutschland, da sie glaubt, dass die Deutschen sich jetzt auf die Seite Israels schlagen müssten, um nicht als antisemitisch gecancelt zu werden. Sie selbst sei nicht antisemitisch, da sie weiterhin mit Israelis zusammenarbeitet, auch nach wie vor in eine jüdische Reformgemeinde geht und im Beirat der Jewish Voice of Peace sitzt.

Diese Argumentation ist in den Parametern ihres Denkrahmens durchaus stringent, aber spiegelt eben nur einen Teil der Geschichte und der Wahrheit wider. Denn schon vor den Anschlägen im Oktober 2023 gingen viele Menschen auf die Straße, um die Regierung zu kritisieren. Kritik ist also erlaubt, nur kritisiert Butler eben die gesamte Existenz Israels, was objektiv als anti-israelitisch, anti-jüdisch und auch als antisemitisch bezeichnet werden muss. Denn wie der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn richtig bemerkte, sei das Ziel der antisemitischen Bewegung Hamas (im globalen Netzwerk der Islamistischen Bruderschaften) die Zerstörung und somit die völlige Vernichtung Israels, was dem Wunsch der Nicht-Existenz Israels gleichkommt.

Obwohl Butler in Vertretung einer postkolonialen linken Strömung sicherlich gute Gedanken und notwendige Veränderung anregte, scheint sich ihr starker Hang zum Opfer-Täter Dualismus zu einem großen blinden Fleck zu formen, für den auch Elite Universitäten wie Yale oder die Universität der Künste in Berlin blind sind. Der Konflikt im Nahen Osten ist nicht schwarz-weiß – die einzigen Farben, die Butler noch sehen kann.

Diskussion nach dem Terrorangriff der Hamas 2023

Der Terrorakt und gewaltsame Angriff der Hamas auf Israel im Herbst 2023 sowie die daraus entstandenen Folgen der letzten Monate befeuerten die Kontroversen um Butlers Haltung und Positionierung erneut. Im Grunde vertrat sie weiterhin eine ideologisch gefärbte, israelfeindliche Position, in diesem jüngsten Fall jedoch mit einer schwerwiegenden Diskreditierung und Entmenschlichung der Opfer des Anschlags. Das sorgte für noch mehr Unverständnis, vor allem, da sie sich ja sonst dezidiert feministisch und pazifistisch darstellt und äußert. Ihre Reaktionen gegen Israel und pro Hamas provozieren da einen deutlichen Widerspruch.

Israel nach dem Angriff der Hamas – Foto: Mohammed Ibrahim

Nach dem Anschlag plädierte sie dafür, diesen in einen Kontext der Geschichte Israels und somit der Unterdrückung Palästinas zu setzen. Zwar kritisierte sie die Gewalt, vermied aber Begriffe wie Antisemitismus und Terror. Für sie sind die Vergehen zwar „fürchterlich und abstoßend, aber begreiflich“. Anfang März 2024 nannte sie diese bei einer Podiumsdiskussion in Paris einen „Akt des bewaffneten Widerstands“ und „einen Aufstand aus einer Position der Unterdrückung heraus gegen einen gewalttätigen Staatsapparat“, aber es sei „kein terroristischer Angriff, und es ist keine antisemitische Attacke.“

Der furchtbarste Angriff auf die Juden seit der Shoa soll nach Butler also berechtigter politischer Widerstand, sozusagen Notwehr sein. Das Massaker forderte zu viele Opfer, vor allem Frauen waren davon betroffen. „Wie man als Feministin dazu kommen kann, die Vergewaltigung, Verstümmelung und Ermordung von Frauen als „Widerstand“ zu bezeichnen“, fragt sich auch die Journalistin Lucia Heisterkamp. Denn diese verbale Abmilderung legitimiert die schrecklichen Ereignisse, nimmt die Verantwortung von der Hamas und überträgt sie auf Israel selbst aufgrund ihrer Geschichte. Der 7. Oktober muss aber als das in die Geschichte eingehen, was er war: ein antisemitischer und misogyner Terror-Anschlag auf Israel. Die Wirklichkeit der Opfer beachtet Butler nicht weiter. Hier wird eine Entmenschlichung sichtbar, die ihre Schnittstelle mit der Zerstörungssehnsucht Israels findet. Außerdem bewässert Butler den ideologischen Nährboden, indem sich ihre Aussagen ohne Vorbehalt verbreiten können, da sie ja von einer Jüdin stammen. Selbst wenn sie sich selbst nicht als antisemitisch, sondern nur antizionistisch bezeichnet, muss sie damit rechnen, dass ihre Worte einem antisemitischen Konsens zugutekommen. Und zudem scheint sie auch die Augen vor der Geschichte der religiös-politischen Macht und Gewalt in den radikal-islamistischen Gruppierungen zu verschließen, die sie als alleinige Opfer darstellt, obwohl ein echtes Interesse an Gewaltfreiheit, an Demokratie und der Gleichheit der Menschen nicht erkennbar ist.

Judith Butler polarisierte schon zu Beginn ihrer Karriere. Es scheint, als würde sie den Diskurs um ihre Person geradezu befeuern. Von Publicity ist aber an dieser Stelle nicht mehr zu reden. Jetzt wäre es an der Zeit, die Opfer Israels zu betrauern. Und ja, es ist auch an der Zeit palästinische Opfer zu betrauern.  Judith Butler selbst fordert, dass jedes Leben betrauernswert sein muss und in der Gleichheit aller Menschen, unabhängig auf welcher Seite in Gaza sie stehen, liegt die Ursache dafür.

Die Tragik in Personen und Werken, wie sie derzeit bei Judith Butler sichtbar werden, liegt darin, dass der Blick auf die Juden weltweit Menschen in ihrem Alltag mit Gedanken und Wertungen populistisch beeinflusst und im schlimmsten Fall zu erneutem, aggressivem und stigmatisierendem Anti-Judaismus, Anti-Israelismus und Antisemitismus führen.

 

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