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Gott als Vater im Neuen Testament: Eine zentrale Metapher im Wandel der Zeit

Nachdem wir uns letzte Woche mit dem Vaterbild im Kontext des Alten Testaments beschäftigt haben, folgt nun der Blick in das Neue Testament. Auch hier gibt es wichtige Hintergrundinformationen über die Kultur und die Prägung des Judentums zur damaligen Zeit, in die Jesus selbst als „Sohn“ Gottes, der ausdrücklich als „Vater“ qualifiziert wird (vgl. Mt. 17,5), Einzug fand.

 

Kultureller Kontext der Vaterrolle  

Im Neuen Testament wird die Vorstellung von Gott als Vater zu einem wichtigen Konzept, das tief in der damaligen Kultur verankert ist. Die Gesellschaft im Römischen Reich war vereinfacht gesagt patriarchalisch geprägt, und der Vater galt als unangefochtenes Oberhaupt der Familie, auch wenn das Verhältnis von Männern und Frauen in seiner Ausführlichkeit hier nicht dargelegt werden kann.

Neben seinen Kindern hatte der Vater auch über seine Ehefrau und Sklaven uneingeschränkte Autorität, sofern er zu den Privilegierten gehörte, Besitztümer verwalten zu können. Diese klassische Hierarchie war weit verbreitete Normalität im gesamten antiken Mittelmeerraum und darüber hinaus, bis ein Sohn selbst eine Familie gründete oder eine Tochter durch Heirat in eine neue Familie wechselte. Besonders bei den Römern behielt der Vater seine Macht über den gesamten Haushalt sogar bis zu seinem Tod, und Gehorsam gegenüber ihm war lebenslang gefordert.

Im Judentum trug der Vater neben der Rolle als Ernährer und Erzieher auch priesterliche Pflichten. Er war verantwortlich für die religiöse Ausrichtung der Familie und durfte bei Fehlverhalten Strafen verhängen. Auch ehrenwerte Männer vergangener Generationen, wie Lehrer oder Ahnen, wurden als „Väter“ bezeichnet. Die Herkunft einer Person wurde fast immer über den Vater angegeben, wie beispielsweise bei den Aposteln Jakobus und Johannes, die als „Söhne des Zebedäus“ identifiziert werden (Mk 1,20). Diese soziale Struktur samt traditioneller familiärer Rollenbilder spiegeln sich teilweise im Neuen Testament wider und spielen auch in der Wahrnehmung Gottes als Vater eine Rolle.

Besonders auffällig ist die metaphorische Übertragung der familiären Strukturen auf das Verhältnis der Gläubigen zu Gott. Die „Familie Gottes“ wurde für die ersten Christen zu einem zentralen Symbol, das ihre neue Identität und Zugehörigkeit ausdrückte. Für Menschen, die sich zum Christentum bekehrten und ihre alte Gemeinschaft hinter sich ließen, war diese Vorstellung von „Resozialisierung“ und Zugehörigkeit zur Familie Gottes von großer Bedeutung. Dadurch erhielt auch der Status der Kindschaft bei Gott eine neue, tiefere Dimension (vgl. z.B. Röm. 8,14-16).

 

Biblischer Befund: Gott als Vater im Neuen Testament

Während das Alte Testament die Metapher als Wesenseigenschaft von Gott als Vater nur etwa 20 Mal verwendet, explodiert diese Zahl im Neuen Testament auf rund 260 Stellen. Diese Häufigkeit unterstreicht die zentrale Bedeutung des Vaterbildes im christlichen Gottesverständnis. Dabei verbindet die Vaterrolle sowohl Aspekte der liebevollen Fürsorge als auch der göttlichen Autorität. Neu im Neuen Testament ist die Vorstellung, dass Gott nicht nur als Vater sorgt und leitet, sondern auch als die Quelle allen Lebens gilt (Apg 17,27f). Diese väterliche Fürsorge ist auch die Basis für den Glauben, dass Gott auf die Gebete der Gläubigen hört – bekräftigt durch die vertrauliche Anrede „Abba“, was in etwa mit „Papa“ übersetzt werden kann (Röm 8,15; Gal 4,6). Besondere Bedeutung hat das Vaterbild im Zusammenhang mit der Person Jesu. Schon zu Beginn der Evangelien wird Gott als Vater durch die „Zeugung“ und Geburt Jesu dargestellt. Bei der Taufe Jesu bestätigt Gott selbst diese besondere Beziehung, indem eine Stimme aus dem Himmel verkündet: „Du bist mein geliebter Sohn“ (Mk 1,11). Auch bei der Verklärung auf dem Berg und in den letzten Momenten am Kreuz ruft Jesus Gott als Vater an (Lk 23,46). Diese einzigartige Sohnschaft Jesu wird besonders im Johannes-Evangelium betont: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Durch die Sühne am Kreuz und die Verkündigung der Frohen Botschaft wird jedoch klar, dass diese Kindschaft nicht auf Jesus allein beschränkt bleibt. Jeder Gläubige erhält durch den Glauben den Geist der Sohnschaft und wird so in die Familie Gottes aufgenommen. Diese Idee wird oft mit dem Bild der „Adoption“ verglichen – eine Vorstellung, die im römischen Recht fest verankert war und somit auch in der damaligen Kultur verständlich und nachvollziehbar war.

 

Beispiele für die Vaterschaft Gottes im Neuen Testament

Zwei der bekanntesten Texte, die die Vaterschaft Gottes verdeutlichen, sind das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15) und das Vaterunser-Gebet (Mt 6,5-13 und Lk 11,2-4). Beide Texte zeigen auf unterschiedliche Weise, wie die Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen durch das Vaterbild geprägt ist. Während das Gleichnis die Vergebung und Barmherzigkeit des Vaters betont, drückt das Vaterunser die Nähe und Vertrautheit der Gläubigen mit ihrem himmlischen Vater aus. In beiden Fällen wird deutlich, dass das Bild von Gott als Vater nicht nur ein theologisches Konzept ist, sondern eine tiefgehende Beziehung zwischen Gott und den Menschen beschreibt. Gott ist nicht nur Schöpfer und Herrscher, sondern auch ein fürsorglicher Vater.

 

Jesus und die göttliche Familie

Die Bedeutung der familiären Beziehungen wird im Neuen Testament nicht nur durch die göttliche Kindschaft hervorgehoben, sondern auch durch Jesu Haltung gegenüber den irdischen Familienverhältnissen. In vielen Fällen fordert Jesus eine klare Abgrenzung zwischen der biologischen Familie und der göttlichen Familie. Er verlangt von seinen Jüngern, sich von ihrer leiblichen Herkunft zu lösen und sich ganz der himmlischen Familie zuzuwenden, als Ausdruck der entschiedenen Hingabe zur Nachfolge Jesu, nicht in Ablehnung menschlicher Familienverhältnisse. Matthäus betont diesen Unterschied besonders stark und zeigt auf, dass der himmlische Vater in jedem Fall Vorrang hat. Gleichzeitig mildert Jesus diesen radikalen Anspruch, indem er den Kindern eine besondere Bedeutung zuspricht. Während Kinder in der damaligen Kultur oft nur als Nachkommen betrachtet wurden, die eines Tages für den Fortbestand der Familie sorgen sollten, segnete Jesus sie und stellte ihre Würde heraus (Mt 19,13-14). Auch die Rolle der Väter und Mütter wurde durch die Heilungsgeschichten von Jesus aufgewertet, wie etwa im Fall der Witwe, deren toter Sohn wieder zum Leben erweckt wurde (Lk 7,15). Dadurch wurde die soziale Absicherung von Witwen und Waisen durch familiäre Bindungen betont.

 

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Ein Bild von Gottes bedingungsloser Liebe

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32) ist eine der bekanntesten Geschichten im Neuen Testament und zeigt die tiefe Liebe Gottes, dargestellt durch die Figur des Vaters. Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, der sein Erbe fordert, es leichtsinnig verschwendet und in Armut zurückkehrt. Doch anstatt mit Vorwürfen oder Strafen empfangen zu werden, nimmt sein Vater ihn voller Freude wieder in die Familie auf. Dieses Gleichnis vermittelt eindrücklich die Vorstellung, dass Gottes Liebe grenzenlos ist, unabhängig davon, wie schwer das Fehlverhalten des Menschen war. Es gilt als eine der stärksten biblischen Darstellungen von Gottes Vaterschaft.

In der damaligen dörflichen Gesellschaft bedeutete die Forderung des Erbes durch den jüngeren Sohn eine tiefe Respektlosigkeit gegenüber dem Vater. Normalerweise wurde das Erbe erst nach dem Tod des Vaters aufgeteilt, und der Wunsch des Sohnes ließ den baldigen Tod des Vaters erahnen. Untersuchungen des Theologen Kenneth Bailey in verschiedenen Dörfern des Nahen Ostens bestätigten, dass eine solche Bitte als undenkbar galt. Damit verdeutlicht das Gleichnis den radikalen Bruch, den der Sohn in der Beziehung zu seinem Vater verursacht hat.

Theologisch gesehen steht dieses Verhalten für die Rebellion der Menschheit gegen Gott, allerdings im Gleichnis kontextbezogen illustriert auf die jüdische Situation zwischen „frommen Pharisäern“ und „schlimmen Zöllner und Huren“ gemünzt (Lk. 15,1-2). Der Sohn handelt aus Misstrauen und bricht nicht nur eine gesetzliche, sondern vor allem eine emotionale Grenze. Gottes Fürsorge für seine Kinder wird hier mit der Sicherheit verglichen, die eine Großfamilie den Dorfbewohnern im Nahen Osten bietet. Daher sollte die „Familie Gottes“ für Gläubige denselben Stellenwert haben wie die leibliche Familie.

Der Vater im Gleichnis gewährt dem Sohn trotz allem die Freiheit, ihn zu verlassen, wissend, dass nur so eine Versöhnung möglich ist. Als der Sohn schließlich zurückkehrt, erwartet er, als Diener in das Haus aufgenommen zu werden, nicht als Sohn. Für ihn scheint die Beziehung unwiederbringlich zerstört. Doch der Vater überrascht mit einem unerwarteten Zeichen der Liebe: Entgegen den gesellschaftlichen Normen läuft er seinem Sohn entgegen – eine Geste, die für einen Mann seiner Stellung als unwürdig galt. Im Nahen Osten galt es als demütigend für einen älteren Mann, zu rennen oder seine Beine zu entblößen. Doch der Vater übernimmt diese Schande, um seinen Sohn vor den negativen Reaktionen des Dorfes zu schützen. In diesem Moment wird der Vater zu einem Symbol für Gott selbst, der sich als liebevoller Vater zeigt. Die großherzige Aufnahme des Sohnes zeigt, dass keine Wiedergutmachung nötig ist. Der Vater kleidet ihn mit dem besten Gewand und gibt ihm den Siegelring, ein Zeichen dafür, dass er seinen Platz und seine Verantwortung in der Familie vollständig zurückerhalten hat. Der ältere Sohn (der im Gleichnis die Pharisäer repräsentiert), der darüber verärgert ist, bleibt draußen. Der Vater muss sich nun auch dieser Situation stellen. Anstatt die Autorität zu wahren und den Konflikt zu ignorieren, wählt er erneut den Weg der Liebe und spricht den älteren Sohn mit dem zärtlichen Wort „teknon“ an – eine Bezeichnung, die auch Maria für Jesus verwendete. Auf diese Weise übernimmt der Vater ein zweites Mal die Verantwortung und ermöglicht die Versöhnung.

 

Das Vaterunser

Ein Gebet der Nähe zu Gott In den Evangelien Lukas 11,2 sowie Matthäus 6,9-13 finden wir das „Vaterunser“, das zentrale Gebet, das Jesus seinen Jüngern lehrte. Besonders auffällig ist die Anrede „unser Vater“, die zeigt, dass Jesus diese innige Beziehung zu Gott auch seinen Nachfolgern vermittelte. In Lukas wird die ursprünglichste Form des Gebets überliefert, in der Gott als „Pater“ angerufen wird. Es handelt sich hier nicht um eine bloße Aussage, sondern um eine persönliche Anrufung Gottes.

Der Theologe Karl Barth betonte, dass christliche Menschen, wenn sie über Gott sprechen, dies in Form eines Dialogs mit ihm tun sollten – nicht nur über ihn, sondern direkt zu ihm. In Matthäus wird das Gebet durch den Zusatz „im Himmel“ ergänzt. Diese Formulierung sowie die Vateransprache sind auch in der jüdischen Literatur bekannt und betonen die enge Beziehung zwischen dem Betenden und Gott. Im Garten Gethsemane greift Jesus erneut auf diese Anrede zurück, als er Gott mit „Abba“ anspricht – eine kindliche Form des Wortes „Vater“, die eher „Papa“ als „Vater“ bedeutet. Diese intime Bezeichnung unterstreicht die besondere Nähe zwischen Jesus und Gott. Auch Paulus verweist in Galater 4,6 auf diese vertrauliche Anrede, die tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist.

 

Die Parallelen zum Alten Testament

Wenn Jesus über die Vaterschaft Gottes spricht, knüpft er häufig an das alttestamentliche Verständnis an. Ein markantes Beispiel dafür ist das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), das starke Parallelen zur Darstellung Gottes in Hosea 11 (1-3) aufweist. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen durch das Bild des Vaters und seines Kindes dargestellt, das von Liebe, Vergebung und Erziehung geprägt ist. Besonders auffällig ist die enge Verbindung zwischen der Vater-Metapher und der Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes. Diese beiden Konzepte sind inhaltlich stark miteinander verknüpft, auch wenn sie in der biblischen Überlieferung nicht immer explizit aufeinander abgestimmt erscheinen. Im Neuen Testament wird durch diese Verknüpfung deutlich, dass Gottes Vaterschaft nicht nur eine theoretische Idee bleibt, sondern sich konkret in der Beziehung zu Jesus und den Gläubigen zeigt.

 

Quellen

Zimmermann, Christiane, Vater (NT), http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/55951/ vom 28. 08.2024

Urban, Christina, Die Rollen der Familienmitglieder, in: Neues Testament und antike Kultur, Bd. 2 Familie-Gesellschaft-Wirtschaft, Klaus Scherberich (Hg.), Neukirchen-Vluyn 2011, 17-20

Gerber, Christine, Familie als Bildspender, in: Neues Testament und antike Kultur, Bd. 2 Familie-Gesellschaft-Wirtschaft, Klaus Scherberich (Hg.), Neukirchen-Vluyn 2011, 48-51

Schellenberg, Annette, Vater, Gott als (AT.) Auch mütterliche Aspekte, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/33987/  vom 28.08.2024

Böckler, Annette, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000

Bailey, Kenneth E., Der ganz andere Vater. Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn aus nahöstlicher Perspektive in Szene gesetzt, Neufeld 2006

Tönges, Elke, „Unser Vater im Himmel“. Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, Heft 147 Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Achte Folge, Stuttgart 2003

Lochmann, Jan Milic, Unser Vater. Auslegung des Vaterunsers, Gütersloh 1988

Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik IV/4, Abt. II. Das christliche Leben, Zürich 1976

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