Die Juden – das andere Volk?
In dem Spielfilm: „Der Schatten des Giganten“, der sich mit Israels Gründungszeit und Unabhängigkeitskrieg um 1947 befasst, sagt der britische Botschafter, gespielt von Michael Hordern, zu dem amerikanischen Juden David ‚Mickey‘ Marcus, der Hauptfigur des Films, gespielt von Kirk Douglas, über das jüdische Volk:
„Es ist, wie es schon in der Bibel heißt, ein Volk mit eisernem Willen. Vielleicht können Sie es davon überzeugen, dass es besser ist den Nacken zu beugen als das Volk ins Verderben zu führen.“
Diese nicht unbedingt ‚judenfreundlich‘ gemeinte Bemerkung ist aus der Bibel, zitiert aus den Stellen, in denen Israels Widerspenstigkeit thematisiert und besonders hervorgehoben wird.
In 2. Mose 32,9 werden die Israeliten bereits als hartnäckiges Volk bezeichnet, und dieses Motiv kommt in der Tora häufiger vor, so zum Beispiel in 5. Mose 9,6. In Jesaja heißt es sogar: „Weil ich wusste, dass du hart bist und dass dein Nacken eine eiserne Sehne und deine Stirn aus Erz ist, … Denn ich wusste, dass du völlig treulos bist und dass man dich „Abtrünnig von Mutterleib an“ genannt hat. Um meines Namens willen halte ich meinen Zorn zurück, und um meines Ruhmes willen bezähme ich mich dir zugute, um dich nicht auszurotten.“ (Jes 48, 4. 8b. 9)
Ist Israel, sind die Juden, ein besonders schwieriges oder andersartiges Volk? Worauf läuft diese Logik der Bibel, in solche Gerichtsworte Gottes eingebettet, hinaus? Und wie haben wir als Christen damit umzugehen?
Folgt man der biblischen Geschichte, dann sieht man wie Gott zu Abraham, einem Mesopotamier auf Wanderschaft, spricht, und seinen Nachkommen ein Land verspricht, das genau zwischen Asien, Afrika und Europa liegt. Seine Kinder und Enkel werden, wenn man sie einzeln betrachtet, als sehr verschiedene Charaktere beschrieben, manche als gerissen und gewalttätig, manche dagegen als passiv, arglos und äußerst friedlich. Es ist also schon gleich zu Anfang nicht mehr möglich, klischeehaft über eine homogene Gruppe, mit sozusagen ‚einer negativen Eigenschaft‘, die für alle gilt, zu sprechen.
Es geht in den oben genannten Bibelstellen also von vornherein nicht um eine natürliche Eigenschaft, sondern um eine Gesinnung. Wenn aber dem so ist, kann dann nicht jeder Mensch diese Gesinnung in sich haben? Repräsentieren die Kinder Israel dann nicht etwas, das im Menschsein allgemein verankert ist? Vielleicht drücken ihre Verhaltensmuster genau das aus – das Typische des Menschseins!
Paulus warnt in 1. Korinther 10 lange und ausführlich vor bösen Haltungen und Sünden, besonders im 6. Vers: „Diese Dinge aber sind als Vorbilder für uns geschehen, damit wir nicht nach Bösem gierig sind, wie jene gierig waren.“
Paulus wirft also den Ball an uns Christen zurück, und warnt uns davor, dass „uns“ genau dieselben Fehler, die auch die Nationen und dann auch die Christen aus „Juden und Griechen“ praktizieren, von Natur aus anhaften, wie den Israeliten.
An anderer Stelle in Kapitel 11 des Römerbriefes präzisiert er dieses Beispielhafte (Typologische) an Israel als dem jüdischen Volk. Das Beispiel des jüdischen Volkes ist eine Warnung für jeden Menschen: „Richtig; sie sind herausgebrochen worden durch den Unglauben; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich! Denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, wird er auch dich nicht schonen.“ (Röm. 11,20-21)
Es kann also das jüdische Volk als generell gemeintes Beispiel für die Natur des Menschseins fungieren, mit allen dazugehörigen Schwächen, Fehlern und Bosheiten, die in den Menschen aus jedem Volk stecken. Besonderes Augenmerk liegt dabei aber auf der bösen Gesinnung, die die Beziehung zu Gott stört und die zum natürlichen Zustand jedes Menschen nach dem Sündenfall dazugehört.
Alle Menschen sind aus demselben Holz geschnitzt, ob sie nun durch Jesus mit Gott verwandtschaftlich verbunden sind oder nicht. Aber was bedeutet das speziell für den christlichen Umgang mit dem jüdischen Volk und mit der heutigen jüdischen Nation Israel?
Unter Christen findet man im Umgang mit den Juden zwei Extreme: Sie werden entweder zu einem göttlichen, gesegneten, erhabenen Volk hochstilisiert, das allen normal menschlichen Heidenvölkern überlegen ist und bei dem man dann auch kein oder kaum Fehlverhalten wahrnehmen will, so besonders ist es, oder man sieht in ihnen nur das durch eigenes Verschulden verfluchte Volk ohne Existenzrecht. Diese beiden Extreme prägen die Geschichte der Christenheit, und sie haben ihre Spuren von Destruktion, Verachtung und Vernichtung hinterlassen. Was das negative Judenbild für Auswirkungen hatte, wird in der Geschichte des Mittelalters, in unzähligen regionalen und nationalen Pogromen und v.a. im Holocaust unter der Nazi-Diktatur offensichtlich.
Aber das andere Extrem, das Juden unantastbar glorifiziert, ist ebenso gefährlich, weil dieses Extrem bei Enttäuschung durch einzelne Juden oder durch das Verhalten der israelischen Regierung usw., die sich anders verhalten als erwartet, ins Gegenteil umschwenken kann. Unter Juden in der Diaspora und im Staat Israel findet man dieselben mitunter moralisch anstößigen Fehlverhalten, wie im Rest von nicht-jüdischen Gesellschaften: Okkultismus, freie, beliebige Sexualpraktiken, dazu Abtreibung, Korruption, Gewalt, Unrecht, Betrug und vieles mehr.
Was nun bei Christen in der Urteilsbildung hinzukommen kann, ist der Umgang mit der Bibel. Es gibt positive Bibelstellen über die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs, aber es gibt auch viele negative, und manche von ihnen sind geradezu anstößig. Dass diese anstößige Polemik von eigenen Familienmitgliedern herrührt und Gesinnungen adressiert, dabei jedoch nicht den ethnischen Hintergrund betrifft, ist seit der Zeit der späten Kirchenväter aus dem Blickfeld geraten.
Denn mit der sogenannten „Ersatztheologie“ (Substitutiontheologie) wendeten gelehrte Kirchenvertreter seit frühester Zeit (seit Ende des 1. Jahrhunderts) einzelne Bibelpassagen so an, dass dadurch die Juden als Volk Gottes als von Gott verworfen und durch Kirche ersetzt worden seien. Die Fehler und Sünden des jüdischen Volkes, besonders der Verrat und Mord an Christus, hätten demnach die Beziehung zwischen Gott und den Kindern Abrahams endgültig zerstört. Die Rolle, die das jüdische Volk in der Johannes-Offenbarung spielt, und der Heilsweg zur Errettung Israels nach den Kapiteln 9-11 im Römerbrief werden dabei ignoriert. Wie nun sollten die Bibelstellen bezüglich der Juden geordnet und gedeutet werden?
Ist es nicht so, dass positive und negative Aussagen der biblischen Texte bezüglich der Juden, die im Übrigen allesamt von Juden geschrieben wurden, so im Gleichgewicht stehen und die zwei Seiten des allgemeinen Menschseins so betonen, dass sich jeder Mensch mit Teilen von Beidem identifizieren kann?
Die Haltung mancher Christen, die Geschichte Gottes mit den Juden als Auslaufmodell abzutun, verrät eine Selbstgerechtigkeit ohne vernünftige Reflexion der eigenen Geschichte. Denn welches Fehlverhalten vor Gott und Menschen, der in der Bibel dem jüdischen Volk unterlaufen ist, hat das Christentum nicht auch praktiziert, um jetzt von nicht-jüdischen Volksgruppen ohne christlichen Glauben ganz zu schweigen? Die Antwort muss wohl lauten: keinen! Oder: sie habe alle wiederholt.
Der Ablasshandel erinnert an den Wucher der Tempelhändler, die Tradition, die das Wort Gottes ersetzt hat, an die Überlieferung, die den Sinn des Gesetzes verdreht hat, und das Überliefern und Morden im Namen Christi erinnert an diejenigen, die im religiösen Wahn Jesus selbst ermordet haben. Hat sich das Christentum im Ganzen als „moralisch“ besser erwiesen als das Judentum? Oder sitzen wir nicht alle in demselben Boot, wenn es um Schuld und Versagen geht? Hätten nicht theoretisch beide Seiten, Juden wie Christen, dazu noch die paganen Heidenvölker ausgedient?
Dietrich Bonhoeffer fragte sich in den Wirren der Nazizeit, ob das Christentum überhaupt noch erwählt sei, und David Ben Gurion erklärte das Christentum für Bankrott.
Ist dem so? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Gott für beide einen Plan hat, der sich über menschliches Versagen, ja, sogar über Bosheit hinaus, erfüllt? Tut er es nicht, um uns „allen“ zu zeigen, wer wir als „Menschen ohne Gott“ sind, aber noch mehr, wer Er ist (was von beidem das Wichtigere wäre)?
Denn, wenn wir auf die menschlichen Beispiele für das, was Gott da eigentlich erwählt hat, schauen, dann müssen wir eigentlich verzweifeln. Denn im Fehlverhalten vor Gott geht es nicht nur um Schwächen, sondern um Dinge, die Gott in seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit richten muss. Aber Verzweiflung ist nicht das Leitmotiv der Bibel, sondern genau das Gegenteil. Gott muss zwar strafen, aussortieren und erneuern, aber er hat in seiner Treue und Zuwendung versprochen, mit denen, die zu ihm in einer Beziehung stehen, zu seinem guten Ziel zu kommen.
Er schont die Seinen zwar nicht (Erziehung), und ihr Weg kann deswegen hart, schwer und auch leidvoll sein, aber er ist dafür auch immer zugleich ein Gott der Hilfe, des Trostes und der Hoffnung. Das Leid und der Tadel, die in den betreffenden Bibelstellen zu finden sind, konfrontiert die Bosheit. Gott erneuert und verändert dabei das Herz und den Willen derer, die er anspricht, wodurch die Beziehung zu Ihm wiederhergestellt wird. Und in dieser Beziehung liegt der Segen und die Grundvoraussetzung für alles Gute.
Israel und das Volk der Juden sind – insbesondere anthropologisch geurteilt – in der Bibel ein Beispiel für den durchschnittlichen Menschen, mit dem man sich identifizieren kann, und der in seinem Fehlverhalten die Gottlosigkeiten des eigenen Herzens abbildet. Die Bibel zeigt aber auch den liebenden und geduldigen Gott, der die Bosheit aller Menschen zwar sieht und auch konfrontiert, der aber auch diejenigen, die durch den Glauben in einem Verhältnis zu ihm stehen zu sich zieht. Dies wird insbesondere im Christus-Evangelium zum Ausdruck gebracht, wie es beispielsweise in Röm. 5,6-11 ausgesprochen wird:
„Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben. Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind. Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.“
Die Juden sind nicht eine andere Art von Volk, vielmehr sind sie Repräsentation der Menschheit vor Gott. Ihre Hartnäckigkeit plakatiert die Härte unserer gesamten Spezies. Es zeigt aber zugleich auch das Heil an, das im Evangelium als Gotteskraft für Juden zuerst, dann aber auch für die Nationen zur Verfügung steht (Röm. 1,16).
(cl)
Literatur:
Taine, Paul: Ist das Christentum bankrott?, Feigenbaum-Verl. – 1969
Klappert, Bertold: Miterben der Verheißung.
(Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie) Neukirchen-Vluyn – 2000
Thiessen, Jacob: Gott hat Israel nicht verstoßen. Biblisch-exegetische und theologische Perspektiven in der Verhältnisbestimmung von Israel, Judentum und Gemeinde Jesu; Frankfurt am Main – 2010
DVD: Der Schatten des Giganten (1966), mit Kirk Douglas, Senta Berger, Frank Sinatra, Angie Dickinson
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