Heimat, Waisenkinder und Identität – die faszinierende Rezeptionsgeschichte von Heidi in Israel
Zweifellos gehört „Heidi“ nicht nur zu den einflussreichsten Kinderbüchern, sondern zu den bekanntesten Werken der Weltliteratur überhaupt. Die vielfach rezipierte Geschichte um das Mädchen Heidi, das als Waisenkind bei ihrem Großvater in den Schweizer Alpen lebt, fasziniert Generationen von Menschen bis heute. Die ursprünglichen zwei Bände „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ der Schweizer Autorin Johanna Spyri aus den Jahren 1880-1881 wurden in mehr als 70 weiteren Sprachen übersetzt. Was die meisten Menschen nicht wussten – gerade in Israel hat die Geschichte um Heidi eine ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte, welcher das Jüdischen Museum in München derzeit nachgeht.
Die Besonderheit der israelitischen Rezeption ist zunächst zeithistorischer Natur: Die erste hebräische Übersetzung von Heidi erschien in Israel nämlich 1946, in einer turbulenten Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung des Staates Israel 1948. Nurit Blatman, Kuratorin der Ausstellung „Heidi in Israel“, bekräftigt in einem Interview, dass gerade die im Buch vorkommenden Themen wie Heimatverlust, Waisenkind-Erfahrung, Identitätsfindung die jüdische Bevölkerung im damaligen Kontext ansprachen: Ein verbitterter, über die Vergangenheit schweigender Alpöhi, der Großvater, der bildlich für eine ganze traumatisierte ältere Generation von Eltern und Großeltern steht, eine Heidi, mit der eine Vielzahl von überlebten Waisenkinder Identifizieren konnte, die existentielle Erfahrung des Heimatverlustes, in welcher sich die fiktive Heidi-Story und die reale Situation der Juden überlappen.
Die eindrucksvolle Kontextualisierungsleistung wird bereits im Titel der ersten hebräischen Übersetzung, die von dem Gymnasiallehrer Israel Fishman angefertigt wurde, erkennbar: „Heidi, Bat HaAlpim“, übersetzt bedeutet das „Heidi, Tochter der Alpen“. Der Konstruktion „Tochter der“ (‚Bat´) oder „Sohn des“ (‚Ben´) begegnen wir häufig im Alten Testament der Heiligen Schrift. Nicht nur die Anklänge der jüdisch-biblischen Tradition, sondern auch die Erwähnung der europäischen Alpen, in dessen Raum viele Juden aufwuchsen, erweckten beim Lesepublikum die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Mit diesem Buch, so Nurit Blatman, hätten sie ein Stück verlorene alte Heimat zurückbekommen. Als dann eine neue, in ihrer neuen Heimat geborene Generation heranwuchs, änderte sich in den späteren Übersetzungen auch der Titel zugunsten eines neuen Selbstverständnisses: „Heidi, Bat HeHarim“, das bedeutet, „Heidi, Tochter der Berge“.
Der Prozess der Übersetzungsgeschichte zeigt eindrucksvoll die Kontextualisierungsbemühungen, die dem jüdischen Volk in verschiedenen historischen Lebenssituationen Trost und Hoffnung zu bieten suchten. Der internationale Erfolg und die Beliebtheit der Heidi-Geschichte dauern bis in die Gegenwart an, wohl weil sie immer wiederkehrende anthropologische Konstanten auf einprägsame Weise thematisiert: die Suche nach Heimat und Identität.
Nähere Informationen zur Ausstellung „Heidi in Israel – Eine Spurensuche“ (bis 16. Oktober 2022) finden Sie unter:
https://www.juedisches-museum-muenchen.de/ausstellungen/heidi-in-israel-eine-spurensuche
Quellen
Demmelhuber, Sandra, Ein Stück verlorene Heimat – Heidi in Israel, https://www.br.de/nachrichten/kultur/ein-stueck-verlorene-heimat-heidi-in-israel,T0jA2dq?utm_source=InforuMail&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+31.03.2022&fbclid=IwAR1eeN006PDwlZ-M184emolycZbCiR0Hez5yTaf9RkW7di8bOINMKeyDjEg vom 01.04.2022
Wehrhahn-Verlag, Heidi in Israel. Eine Spurensuche. Katalog zur Ausstellung, https://www.wehrhahn-verlag.de/public/index.php?ID_Section=2&ID_Product=1453 vom 01.04.2022
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