Tobias Krämer: Römer 11,28 als Koordinatensystem biblischer Israellehre

Seminar am 8. November 2013

Für ihn ist es der Vers, in dem alle biblischen Linien und Aussagen zum Thema Israel wie in einem Brennglas zusammenlaufen: Römer 11,28

In seinem Seminar am Freitagnachmittag führt Tobias Krämer, Geschäftsführer von Christen an der Seite Israels, die Teilnehmer in das „Koordinatensystem biblischer Israellehre“ ein: Paulus mache mit Röm 11,28 deutlich, dass alle Aussagen über Israel stets im Hinblick auf zwei Perspektiven zu betrachten seien – hinsichtlich des Evangeliums und hinsichtlich der Erwählung. Damit definiere der Apostel den Rahmen, innerhalb dem sich Israellehre bewegen muss, wenn sie biblisch genannt werden will, und schiebe jeglichen Extrempositionen und Verzerrungen einen Riegel vor.

Um sich der Bedeutung dieses Kernverses sowie der Lösung des darin enthaltenen Widerspruchs (die Juden als Geliebte sowie als Feinde) anzunähern, bettet Krämer ihn zunächst in seinen Gesamtkontext ein: Nachdem der Apostel Paulus in Römer 1-8 ausführlich und kraftvoll das Evangelium dargestellt hat (Verlorenheit aller Menschen – Versöhnung durch Jesus Christus – Freiheit vom Gesetz – Leben im Heiligen Geist), komme er in Kapitel 9 auf Israel zu sprechen, das offensichtlich zu einem Großteil dieses Evangelium ablehne: Paulus‘ Schmerz darüber (vgl. 9,2-3) sei auch deshalb so groß, weil die Juden mit dem Evangelium den Neuen Bund in seiner Gesamtheit und damit auch ihre eigene Wiederherstellung als Volk ablehnten. Als gutem Juden blute Paulus also das Herz, weil sich sein Volk durch die Ablehnung des Messias so viel mehr beraube als nur eines Freifahrtscheins in den Himmel.

Eine solche Wiederherstellung Israels thematisiert der Apostel allerdings in Römer 9-11 mit keinem Wort, er scheint im Gegenteil die Errettung zu betonen (vgl. 10,1.9-13; 11,14.26), und es bleibt umstritten, ob er und die anderen neutestamentlichen Autoren die an Israel gerichteten Verheißungen wörtlich auf das Volk der Juden oder eben doch geistlich auf das aus Juden und Heiden bestehende Gottesvolk auslegen. Krämer vertritt die erstgenannte Position, da seiner Ansicht nach für jeden Juden damals nach Jeremia 30-33 der Neue Bund untrennbar mit der Wiederherstellung von Volk und Land Israel zusammenhing. Paulus würde also in diesen Kapiteln voller Bedauern zum Ausdruck bringen: Hätte Israel den Messias angenommen, wäre es nicht nur geistlich errettet, sondern das Volk vollständig in sein Land zurückgeführt und ein Friedensreich mit Jerusalem als Zentrum etabliert worden (vgl. Jer 30,3.8-11.17-22; 31,4-17.23-40; 32,36-44; 33,6-26).

Nun stelle Paulus die Frage, die bei seinen Lesern im Raum steht: Ist jetzt alles aus? Ist die Erwählung Israels gescheitert, weil die Mehrzahl der Juden Jesus als Heilsmittel ablehnten? In seiner Antwort konzentriert sich Krämer auf den Abschnitt Röm 11,25ff., der für ihn sozusagen den in Kapitel 9 noch nicht absehbaren Klimax darstellt: „… und so wird ganz Israel gerettet werden.“ Auch wenn der Theologe die Frage der Art und Weise und des Zeitpunktes dieses Geschehnisses offen lässt, lässt er doch keinen Zweifel daran, dass dieser Vers nichts anderes heißen kann, als dass „ganz Israel zum Glauben kommt“.

Die grobe Linie zwischen Paulus‘ Traurigkeit in Kapitel 9 und seiner Prophezeihung in Kapitel 11 ist damit jedenfalls gezogen: Zu Paulus‘ und damit zu unserer Zeit glaube der Großteil Israels nicht an Jesus Christus, am Ende der Zeit werde jedoch ganz Israel glauben. Damit stellt sich die Frage: Was ist heute? Auf diese Frage antwortet laut Krämer Römer 11,28. Die „geistliche Analyse“ des Volkes der Juden im hier und heute laute: Sie sind zweierlei, nämlich Feinde und Geliebte zugleich.

Was bedeutet nun dieses scheinbare Paradox?

Es bedeutet: Israel ist verloren, wenn es nicht das Evangelium annimmt. Paulus macht beim Evangelium keine Abstriche, jeder ist verloren und es gibt selbst für die Juden keinen anderen Heilsweg (Vers 28a).
Es bedeutet aber auch: Nur weil Israel nicht an Jesus glaubt, wird seine Erwählung nicht aufgehoben. Im Gegenteil, sie bleibt bestehen und deswegen wird Israel einst das Evangelium annehmen (Vers 28b).

Deshalb sei die auf den ersten Blick widersprüchlich klingende Aussage aus Röm 11,28 keineswegs unlogisch. So wie hier die Juden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, würden auch wir einander immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilen. Beispielsweise sei es kein Widerspruch, illustriert Krämer, wenn er sage: „Meine Frau ist hinsichtlich handwerklicher Begabungen geschickt, hinsichtlich ihrer Charakterschwächen ist sie ungeduldig.“ Beides sei wahr, und die Juden gleichermaßen hinsichtlich des Evangeliums (auf der geistlichen Ebene) Feinde, hinsichtlich der Erwählung (auf der ethnisch-biologischen Ebene) aber Geliebte.

Konkret impliziert die Analyse des Paulus für Krämer tiefgreifende Konsequenzen für die moderne Israeltheologie, mit deren großen Irrtümern sie aufzuräumen vermöge:

Der Irrtum der Ersatztheologie bestehe darin, dass sie das Verhältnis von Glaube und Erwählung falsch bestimmt. Laut ihr ist Israel nicht mehr erwählt oder gar nicht mehr geliebt, weil es nicht an Jesus glaubt. Richtig sei aber: Weil Israel erwählt ist, wird es eines Tages an Jesus glauben (vgl. Röm 11,25ff.). Hierzu ist zu ergänzen, dass diese Darstellung dazu beiträgt, dass die Ersatztheologie als mysteriös-gefährliches Monster, von dem man sich lieber fernhält, statt sich sachgerecht damit auseinanderzusetzen, weiter durch die Köpfe schwebt. Es gibt aber nicht die Ersatztheologie, sondern inzwischen viele Spielarten sowie Abschwächungen dieser Theologie, welche Israel zum Teil durchaus eine besondere Rolle in der Heilsgeschichte zugestehen und keineswegs allesamt behaupten, dass Gott seine Erwählung Israels wegen dessen Unglauben aufgehoben habe.

Der Irrtum von Vertretern des zweiten Heilsweges liege, führt Krämer fort, in einer falschen Bestimmung der Rolle des Glaubens. Laut ihr brauche Israel nicht an Jesus glauben, weil es ohnehin erwählt ist und auf einem eigenen Weg – ohne Jesus – „in den Himmel kommt“. Richtig sei aber: Der Glaube an Jesus ist auch für Israel unbedingte Bedingung für das Heil (vgl. Röm 11,14 und Paulus‘ großer Einsatz für die Errettung seiner Brüder).

Krämer bei seinem Seminar

Diesbezüglich kommt später eine Frage aus dem Publikum, nämlich wie zu erklären sei, dass Juden teilweise von einer Beziehung zu Gott sprechen, obwohl sie Jesus nicht als Messias angenommen haben. Krämers Einschätzung nach hängt dies damit zusammen, dass „Sünde“ in evangelikalen Kreisen nur als „Getrenntsein von Gott“ verstanden würde. Dies sei nicht falsch, aber nicht alles: Gerade bei frommen Juden sei zu beobachten, dass eine tiefe Beziehung zu und Vertrauen auf Gott Seite an Seite mit einer großen Erlösungsbedürftigkeit vorhanden sein kann.

Ersatztheologen sowie die Vertreter des zweiten Heilsweges lösen also laut Krämer die Spannung von Röm 11,28 falsch auf, indem sie einen der beiden „Fixpunkte“ relativieren oder negieren. Des weiteren ziehen sie jeweils falsche Rückschlüsse: Die Ersatztheologen vom geistlichen Stand (Unglaube Israels) auf die ethnische Verwerfung, die Vertreter des zweiten Heilsweges von der ethnischen Erwählung auf den geistlichen Stand (automatische Errettung).

Paulus hingegen biete eine andere Lösung für die Spannung, die in der Heilsgeschichte verwurzelt ist. Die Spannung wird geschichtlich aufgehoben, sie löst sich als propehtische Erwartung in der Zukunft: Weil Israel erwählt ist, wird es einst zum Glauben kommen und das ewige Heil empfangen.

Diese sehr durchdachte These Krämers beruht unseres Erachtens vor allem auf einer bestimmten Interpretation von Röm 11,26, nach der tatsächlich das gesamte Volk Israel zum Glauben kommen wird. Deutet man den Vers hingegen so, dass mit „ganz Israel“ nicht jeder einzelne Jude, sondern Israel als heilsgeschichtliche Gruppe – wie die Heiden, die auch nicht in ihrer Gesamtheit gerettet werden – gemeint ist, bleibt offen, wie Krämers These, nach der Juden als Geliebte wegen ihrer Erwählung noch zum Glauben finden werden, begründet werden könnte.

Tobias Krämer führt sein Seminar fort, indem er weitere Details des aus zwei Halbsätzen bestehenden Verses exegesiert:


Der erste Teil (Evangelium – Auswahl) der Halbsätze spreche jeweils von zwei unterschiedlichen Blickwinkeln, durch die man Israel betrachten kann. Im zweiten Teil (Feinde – Geliebte) werde deutlich: Die Feinde sind die Juden – wie alle ungläubigen Menschen – aufgrund ihrer eigenen Entscheidung. Die Geliebten aber sind sie durch Gottes Entscheidung. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb in Krämers Sicht dieser Blickwinkel am Ende gewissermaßen den Sieg davontragen wird. Der dritte Teil (um euretwillen – um der Väter willen) behandele die Begründung dieses Ist-Zustandes: Die Geliebten sind die Juden um der Väter willen, weil Gott mit ihren Vorfahren einen unauflöslichen Bund geschlossen habe. Die Feinde sind sie aber um unseret-, das heißt um der Christen willen. Inwiefern? Krämer erläutet diese mysteriöse Aussage mit dem genauso anmutenden mysteriösen Satz aus Röm 11,25, den er im Anschluss auslegt: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt.“

Der Theologe legt anhand von Paulus‘ Argumentation in Röm 11,11 den Ablauf der Heilsgeschichte dar: Die Ablehnung des Evangeliums von Seiten der Juden war ein maßgeblicher Motor für die Heidenmission. Laut Krämer handelt es sich um eine Verstockung, die sich das Volk Israel selbst auferlegt hat, indem es sich gegen Jesus Christus entschied. Allerdings, so führt er aus, habe Gott seine Hand im Spiel, indem er diese Verstockung sozusagen um der Heiden willen versiegelt bzw. verlängert – bis heute. In diesem Punkt würde nicht jeder Krämer zustimmen, so besagt eine alternative Auslegung, dass diese Verstockung nur eine kurze Zeit lang anhielt, aber mit dem Beginn der Weltmission und der Bekehrung zahlreicher Heiden zu Lebzeiten des Paulus – zumindest von Gottes Seite her – beendet wurde und der Weg für die Juden frei ist.

In Krämers Argumentation geht es wie folgt weiter: Aufgrund ihrer fortbestehenden Verstockung zugunsten der Heiden bleibe den Juden keine andere Möglichkeit, als auf diese zu blicken. Daher rührt seine anfängliche Betonung des „zur Eifersucht Reizens“. Die Rettung der Heiden sei also kein Selbstzweck, sondern diene letztendlich wieder der Rettung der Juden. Gott sage seinem Volk laut Krämer: „Ihr wolltet das Evangelium nicht haben, dann bekommt ihr es jetzt auch erstmal nicht. Schaut stattdessen darauf, was Gott unter den Heiden bewirkt und vielleicht weckt das in euch den Wunsch, ihnen nachzueifern.“ Diese Verstockung dauere so lange an, bis nach Vers 25 „die Vollzahl der Nationen“ gerettet sei. Wann oder wie viele Menschen dies sein werden, wisse keiner, betont Krämer richtig.

Und nun trete der essentielle Vers 26 in Kraft, den der Theologe bereits am Anfang des Seminars erwähnt hatte: „So wird ganz Israel gerettet werden.“ Krämer erläutert, dass das griechische οὕτως nicht temporal mit „dann“ zu übersetzen ist, als gäbe es erst eine Zeit der Heiden und dann eine Zeit der Juden. Stattdessen liege hier eine modale Bedeutung vor: „So“ im Sinne von „auf diese Weise“ wird Israel gerettet werden – nämlich durch den Glauben der Heiden, der sie zur Eifersucht reize. Dies sei der von Gott vorgesehene Weg, auf dem die Juden das Heil erlangen könnten. Hier schließe sich der Kreis und so erkläre sich auch das „um euretwillen“ aus Vers 28: Israel glaubt nicht um der Heiden willen und die Heiden glauben um Israel willen. Das ist für Krämer die im Römerbrief dargestellte Heilsgeschichte auf den Punkt gebracht.

Die ganze Tragik der Kirchengeschichte liege nun darin, dass wir Christen diesen Mechanismus zerstört hätten, so Krämer: „Welcher Jude will denn an Jesus glauben, wenn alle Christen Antisemiten sind?“ Dementsprechend liegt es an den Christen und ihrem Verhalten, ob Israel zum Glauben komme und bleibe noch viel wiedergutzumachen, damit die Heilige Schrift sich erfüllen könne. Gelinge der Mechanismus, werde über kurz oder lang ganz Israel gläubig werden. Ob das „ganz Israel“ nur das Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt impliziert oder anders zu deuten ist, versucht Krämer nicht zu beantworten, was ihm hoch anzurechnen ist.

Diese These Krämers hängt damit zusammen, dass er das Phänomen des „zur Eifersucht Reizens“ aus den Versen 12, 14 und evtl. 25 des 11. Kapitels des Römerbriefs als einen Soll-Zustand deutet: Es sei Auftrag der Christen so zu leben, dass den Juden der Glaube schmackhaft gemacht werde. Dies ist sicherlich grundsätzlich in Bezug auf unser Verhältnis zu jedem ungläubigen Menschen wahr. Man könnte die Aussagen des Paulus allerdings auch als eine Beschreibung des Ist-Zustandes verstehen: Die Juden werden automatisch zur Eifersucht gereizt, wenn Menschen aus den Nationen zum Glauben kommen.

Bleibt man bei Krämers Deutung, ist der Antisemitismus – der zu einem Großteil von Christen oder solchen, die sich Christen nannten, verübt wurde – der Hauptgrund, weshalb es Juden schwer fällt, Jesus als ihren Messias anzunehmen. In dem Fall muss es unsere oberste Priorität sein, die Vergangenheit aufzuarbeiten und diesen „Fehler“, davon spricht Krämer des Öfteren, wiedergutzumachen. Eine wahrlich große Aufgabe, zumal viele Juden leider Gottes mehr auf „die Christen“ in ihrer Gesamtheit blicken – welche in der Kirchengeschichte selten gut da standen -, als auf den einzelnen ernsthaften Christen. Können wir dieser von Krämer und anderen auf dem Kongress hervorgehobenen Verantwortung jemals gerecht werden?

Neben dieser Ermahnung steht allerdings die immer wiederkehrende, mutmachende These Krämers, beruhend auf seiner Auslegung von Röm 11,26: Weil Israel erwählt ist, wird es eines Tages zum Glauben an Jesus Christus kommen.

Zum Schluss seines intensiven Seminars kommt Tobias Krämer zur praktischen Bedeutung des von ihm ausgelegten Schlüsselverses: Sämtliche Literatur könne nun daraufhin überprüft werden, ob dieses in Röm 11,28 dargestellte Spannungsfeld korrekt wahrgenommen wird. Krämer betont die traurige Realität, dass viele auf einer Seite vom Pferd fielen: Entweder werde von Israel-Fans die Besonderheit der Juden überbetont, als bräuchten sie das Evangelium nicht mehr, oder aber es werde von evangelistischen oder eben ersatztheologisch geprägten Menschen die Verlorenheit der Juden überbetont, als gebe es für sie keine Hoffnung und als spiele ihre Erwählung keine Rolle mehr.

In diesem Sinne lässt der im Seminar vermittelte Inhalt auf mehr Sachlichkeit und Ausgewogenheit in israelfreundlichen Kreisen hoffen, weshalb zu bedauern ist, dass Krämers Vortrag nicht zum Hauptprogramm des Kongresses gehörte.

 Interview mit Tobias Krämer

Lieber Herr Krämer,

wie wichtig ist Ihres Erachtens das Israel-Anliegen im Vergleich zu anderen Aufträgen Gottes an die Christen? Sollten sich alle Christen gleichermaßen für Israel engagieren oder ist denkbar, dass sich hinter den theologischen Differenzen unterschiedliche Berufungen verbergen, bei denen die einen sich für einen geistlichen Aufbruch in Israel einsetzen, während anderen Muslimen das Evangelium bringen und wieder andere sich für Arme und Schwache stark machen?

Israel gehört m.E. zu den 10 wichtigsten Beauftragungen Gottes an die Gemeinde Jesu. Ein Ranking möchte ich hier nicht vornehmen, da die Bibel das auch nicht tut. Aber Israel sollte so selbstverständlich und natürlich zum „Portfolio“ an Beauftragungen dazugehören wie Mission, Evangelisation, Diakonie u.a. auch. Besteht hier im Grundsätzlichen Klarheit, dann kann es in der praktischen Umsetzung durchaus Unterschiede geben. Als Pastor ist mir die Tatsache geläufig, dass Christen unterschiedliche Gaben und Berufungen haben. Ähnlich sehe ich das auch für Gemeinden, evtl. auch für ganze Netzwerke und Kirchen. Schwerpunktsetzungen darf es geben. Kritisch wird es erst dort, wo man einen Auftrag Gottes nicht erkennt oder gar ablehnt. Das ist in Sachen Israel stellenweise im Leib Christi anzutreffen. Und das ist der Sache gegenüber nicht angemessen.

Wie würden Sie auf die folgende These eines moderaten Vertreters der Ersatztheologie reagieren? „Das Volk Israel hat seine Erwählung nicht verloren. Es ist weiterhin erwählt, nur definiert es sich anders. Gott hat entschieden, im Neuen Bund die Zugehörigkeit zu seinem erwählten Volk nicht mehr über die Abstammung, sondern den Glauben an den Messias zu definieren.“

Das ist eine Position, über die man diskutieren kann, weil sie von der Grundsubstanz her viel Biblisches enthält. Problematisch sehe ich zwei Aspekte: (1.) Der Erwählungsbegriff wird inhaltlich nahezu entleert. Worin besteht denn die Erwählung Israels, wenn sich Israel bleibend anders definieren kann? Das wäre zu klären. (2.) Der Abrahamsbund und damit die Väterlinie gehen hier unter. Paulus aber hält diese – man denke nur an Röm 11,28! – bis zum Schluss fest. Und zwar bewusst und mit theologischen Konsequenzen. Das darf man nicht aus den Augen verlieren.

Der Ansatz, die Zugehörigkeit zum erwählten Volk würde im AT über die Abstammung, im NT aber über den Glauben an Christus laufen, ist so exklusiv formuliert eine Verkürzung. „Abstammung“ ist im AT nicht alles und im NT nicht nichts. Die Verhältnisse sind komplexerer Natur. Wenn man hier simplifiziert, geht theologisch viel verloren.

In Ihrem Seminar haben Sie betont, dass Paulus‘ Schmerz über die Verstockung seines Volkes (vgl. Röm 9,2) auch deshalb so groß ist, weil diesem damit nicht nur der Zutritt zum Himmel, sondern eine ganzheitliche Wiederherstellung entgeht. Wie kommt es, dass Paulus eine solche nationale Wiederherstellung Israels, also eine wörtliche Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen, außerhalb von Röm 9-11 nicht thematisiert?

Die Frage ist berechtigt – und sie hätte sogar noch kritischer ausfallen können. Zunächst einmal ist es wichtig zu sehen, dass die paulinischen Briefe (am ehesten noch mit Ausnahme des Römerbriefes) alle Gelegenheitsschreiben waren, die durch bestimmte Anlässe motiviert waren. Paulus schreibt, weil in der Gemeinde was nicht stimmt, und geht darauf ein. Das ist der Grundansatz. Von daher versteht es sich von selbst, dass das Tagesgeschäft die Inhalte der Briefe maßgeblich bestimmt hat. Was für ein Glück, dass es in Korinth Probleme mit dem Abendmahl gab! Sonst hätte Paulus vielleicht nie etwas darüber geschrieben. Hinzu kommt, dass uns nicht alle paulinischen Briefe erhalten geblieben sind. Von denen an Korinth fehlen uns wahrscheinlich welche. Die argumentatio e silentio greift hier also noch weniger als sonst.

Im Übrigen hätten Sie auch fragen können, ob Paulus in Röm 9-11 die Perspektive einer ganzheitlichen Wiederherstellung Israels überhaupt im Blick hat. Expressis verbis hat er das nicht. Er kommt „nur“ bis an die Stelle, dass „ganz Israel gerettet“ wird (was auch sein Hauptinteresse gewesen sein dürfte). Folgt man jedoch seinem Schriftbeweis, dann führen diese Verse in Texte aus den Propheten Jesaja und Jeremia zurück. Texte, die von einer ganzheitlichen Wiederherstellung sprechen. Bedenkt man nun noch, dass schriftgelehrtes Zitieren von Belegstellen nicht nur die zitierten Verse meint, sondern das Textumfeld in Erinnerung rufen will, aus dem sie entnommen sind, darf man den Schluss ziehen, dass eine ganzheitliche Wiederherstellung Israels implizit im Blick, wenngleich nicht im Fokus der paulinischen Argumentation ist.

Für Sie ist Röm 11,28 das Koordinatensystem biblischer Israellehre. Der Kontext dieses Verses könnte nahelegen, ihn wie Vers 2a als Antwort auf Paulus‘ rhetorische Frage aus Vers 1 zu verstehen: „Gott hat die Juden aufgrund ihres momentanen Unglaubens nicht definitiv und endgültig vom Evangelium ausgeschlossen, da sie zu seinem auserwählten und geliebten Volk gehören.“ Muss Röm 11,28 zwingend als Spannung interpretiert werden, die sich allein durch die zukünftige Errettung des Volkes Israel auflösen kann oder kann Paulus gemeint haben: „Sie sind Feinde des Evangeliums, aber weil ich sie einmal erwählt habe, werde ich sie deshalb nicht verstoßen, sondern sie mit offenen Armen aufnehmen, sobald sie zu mir kommen“?

 Dass Gott bereit ist, sein Volk Israel mit offenen Armen aufzunehmen, und sich sogar danach sehnt, ist schon seit Röm 10,21 klar. Röm 11,28 in diesem Sinne zu interpretieren, würde heißen, den gedanklichen Fortschritt in Kap. 11 zu verkennen. Und der führt immerhin an den Punkt, dass ganz Israel gerettet werden wird (Röm 11,26), also weit über Röm 10 und den von Ihnen genannten Interpretationsansatz hinaus. Diese Gewissheit wiederum erreicht Paulus über das Studium der Schrift (Gott wird die Gottlosigkeit von Jakob abwenden und Israels Sünden wegnehmen; V.25f), und so entsteht das Spannungsfeld in 11,28, dass Gott an der Erwählung Israels festhält und sie zum Ziel führt, obwohl Israel aktuell in Feindschaft gegenüber dem Evangelium verharrt. Dieses Spannungsfeld wird übrigens auch im Aufbau des Verses sichtbar: zwei strikt parallel gebaute Vershälften, die antithetisch miteinander verbunden sind (zwar – aber) und so einen stehenden Gegensatz bilden.

Der Clou liegt, wie dann auch der Fortgang in Röm 11,30ff zeigt, darin, dass am Ende von Kap. 11 Gott allein es ist, der Israel in seine Erlösung führt. Das ist weit mehr als das Warten auf Umkehr, das am Ende von Kap. 10 zu finden ist. Und es ist der Grund für den großartigen Lobpreis, mit dem Röm 9-11 endet.

Schließt das πᾶς Ἰσραὴλ („ganz Israel“) aus Röm 11,26 Ihrer Deutung nach alle Juden zu allen Zeiten oder nur die zu einem gewissen Zeitpunkt lebenden Juden ein? Wenn letzteres, wie ist das Schicksal der Millionen Juden der Geschichte einzuordnen, die bis heute trotz ihrer Erwählung ohne den Glauben an Jesus Christus sterben?

Paulus´ Denken in Röm 9-11 ist insgesamt nach vorne gerichtet. Die Frage ist, ob Israel noch zum Ziel kommt oder auf der Strecke bleibt. Und hier erlangt Paulus am Ende von Kap. 11 die Gewissheit, dass Ersteres der Fall sein wird: Ganz Israel wird gerettet, also zu Jesus finden und von seinen Sünden befreit werden. Es deutet zunächst nichts darauf hin, dass hier mehr gemeint sein könnte als die Volkserweckung des jüdischen Volkes, also ein geschichtliches Ereignis in Raum und Zeit.

Das Problem, das Sie hier ansprechen, betrifft im Übrigen ja nicht nur die Juden, sondern alle Menschen, die ohne den Glauben an Jesus Christus sterben, vor allem all diejenigen, die nie das Evangelium gehört und verstanden haben. Man soll von der Gnade Gottes wirklich nicht klein denken, aber hier bleibt ein Bangen und Zagen, wie Gottes Urteil im Endgericht wohl ausfallen wird.

Sie haben erläutert, dass das οὕτως („so“) aus Röm 11,26 nicht temporal („dann“), sondern modal („auf diese Weise“) zu verstehen ist: Israel wird dadurch gerettet, dass Christen ihnen den Glauben schmackhaft machen – was schwerlich möglich war, wenn diese gleichzeitig Antisemiten waren. Wie können wir mit der Tatsache umgehen, dass es immer Menschen gab und geben wird, die im Namen Christi Unheil gegenüber Juden anrichten (z. B. die Deutschen Christen) und die von vielen Juden – wie auch vielen Muslimen – als die Christen betrachtet werden?

Da bleibt m.E. nur ein Weg, nämlich der, dass sich die gesamte Christenheit (welcher Couleur auch immer) an die Brust schlägt und betet „Gott sei uns Sündern gnädig“. Das können auch die Nachfahren der von Ihnen genannten „Deutschen Christen“ tun – angesichts dessen, was geschehen ist. Wenn dann noch ein öffentliches Eingestehen und Benennen der Schuld erfolgt, dann wird deutlich, dass die Verfehlungen der Christen nicht auf das Konto Jesu Christi gehen, sondern ihm geradezu widersprechen. Und dann ist schon viel gewonnen. Solche Schuldeingeständnisse werden übrigens in Israel sehr wach gehört. Sie haben eine große Auswirkung.

Es ist „im Namen Jesu Christi“ viel Schlimmes passiert. Das sollte Anlass genug sein, jetzt mit aller Kraft und Entschiedenheit das Richtige zu tun. Noch ist es nicht zu spät.

 Herzlichen Dank für das Interview!

(jp)

 
Fotos:
Krämer: privat
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