„Schalom vom Zion – wie Israel zum Friedensbringer der Welt wird“ – eine Bibelarbeit von Tobias Krämer
Für den Israelkongress „Schalom Israel“, der vom 23.-26. September 2021 auf dem Gelände des Schönblick in Schwäbisch Gmünd stattfand, wurden zahlreiche renommierte Redner aus Deutschland, Frankreich und Israel eingeladen, um die Teilnehmer in die komplexen Inhalte rund um das Thema Frieden für Israel einzuführen. Einer dieser Redner war Tobias Krämer, Theologe, Israelexperte und Bereichsleiter von Theologie und Gemeinde bei „Christen an der Seite Israels“. Krämer hat schon zahlreiche Aufsätze und Artikel über Israel sowie das gefragte Buch „Wozu Israel“geschrieben. Am 25. September eröffnete der frühere Pastor den inhaltsreichen Tag mit einer spannenden Bibelarbeit unter dem Titel „Schalom vom Zion – wie Israel zum Friedensbringer der Welt wird“. Als Grundlage für seine Ausführungen dienten die Worte aus Jes 2,1-4.
Um eine Antwort auf die Frage, wie Israel zum Friedensbringer für die ganze Welt werden kann, vorzubereiten, gab Krämer zuerst einen Überblick über die Geschichte, die er mit Gottes Erwählung Israels einleitet. Diese sei im Grunde, wenn man die biblischen Texte sichtete, in vier Etappen zu gliedern: Am Anfang stehe Abraham als Vater des Bundesvolkes; die zweite Etappe sei das Gericht an Israel, dem aber drittens die Verheißung der Wiederherstellung folge; am Schluss stehe schließlich die Einbeziehung der Völkerwelt in das Heilsgeschehen. Anschließend lenkte der Redner den Blick konkret auf ausgewählte Heilsverheißungen, denn auch diese seien in sich in vier verschiedene Gruppierungen, denen die Heilstexte der Bibel zuzuordnen seien, zu unterteilen: Da sei zum einen die konkrete Wiederherstellung Jerusalems, des Zentrums des Heiligen Landes (etwa Jes 62); danach stehe die Wiederherstellung ganz Israels als erwähltes Volk Gottes sowie seines Landes (etwa Jes 59-60; Jer 30-33; Hes 36-39); dem folge die Wiederherstellung des Nahen Ostens (etwa Jes 19,21-25; Jer 12,14ff. 48,47. 49,6.39; Hes 16,53. 20,14) und schlussendlich die der ganzen Welt (etwa Jes 55,5. 60,1-3; Sach 8,23). Man sehe bei dieser Betrachtung, dass sich die Wiederherstellung durch Gott in konzentrischen Kreisen ausweite – und zwar vom Zentrum aus, in dem Israel als Bundesvolk Gottes stehe. Laut Krämer befindet sich die Welt gerade in der heilsgeschichtlichen Phase, in der die Welt wiedergeherstellt wird, nämlich durch den jüdischen Messias Jesus: Dadurch, dass das Evangelium von Jesus Christus verkündet werde und der Leib wachse, würden Menschen weltweit gerettet und die Wiederherstellung schreite fort.
Nach dieser Grundlegung sprach der Theologe über seine eigentliche These: Es gebe laut Altem Testament einen Fluchtpunkt, auf den die gesamte Menschheitsgeschichte zulaufe. Fluchtpunkte spielen bekanntermaßen in Bereichen wie Malerei und Fotografie eine gewichtige Rolle. Die Künstler entdecken gewisse Linien in ihrem Bild oder fügen sie künstlich ein, die alle auf einen bestimmten Punkt zulaufen, der den Fokus des Gesamtbildes bestimmt. Der Fluchtpunkt prägt das Werk maßgeblich und lenkt das Auge des Betrachters, auch wenn dieser den Fluchtpunkt oft nicht gleich erkennt. Diesen Vorgang übertrug Krämer nun als Metapher auf die biblischen Schriften. So gebe es einen Punkt, auf den alle Linien der Weltgeschichte zulaufen, und dieser werde uns in Jes 2,2-4 aufgezeigt:
2Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, 3und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 4Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Jes 2,2-4, LUT 2017)
In dieser Vision wird, so der Theologe, das bereits wiederhergestellte Israel geschildert: Jerusalem sei das wiederaufgebaute und heilige Zentrum des geheilten Volkes und der Tempel stehe wieder als Ort der Begegnung mit Gott. Dieser Zustand Israels würde so etwas wie einen „gewaltigen Impuls“ in die ganze Welt hinaussenden, sodass die Nationen sich aufmachten Richtung des Heiligen Landes. Unter ihnen wird, wie wir in V.3 lesen, die Erkenntnis einkehren, wer Israel ist – nämlich das Volk des lebendigen Gottes. Diesem Wissen folge dann die Suche nach der Torah, der Weisung dieses Gottes, in der man sich an sein Volk Israel wenden würde. Auf der anderen Seite steht laut V.4 das gerechte Gericht Gottes, das er an der Welt übt. Beides, das Gericht Gottes und die Suche der Völker nach der Weisung, führten schließlich, wie Krämer erklärte, zum weltweiten Frieden, der sich in zwischenmenschlicher Versöhnung und dem Verlernen von Feindschaft und Kriegsführung manifestiere.
Nach diesen Erläuterungen zu dem bedeutenden prophetischen Text von Jesaja überraschte Krämer die Zuhörer, indem er die weitere These aufstellte, dass es laut den neutestamentlichen Schriften einen zweiten Fluchtpunkt gebe neben diesem ersten alttestamentlichen. Dies erschien auf den ersten Blick etwas widersprüchlich. Man würde eigentlich denken, dass es nur einen Zielpunkt der Geschichte geben kann, nicht zwei. Doch schon führte der Israelexperte den zweiten Text an:
20Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. 21Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. 22Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. 23Ein jeder aber in der für ihn bestimmten Ordnung: als Erstling Christus; danach die Christus angehören, wenn er kommen wird; 24danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er vernichtet hat alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt. 25Denn er muss herrschen, bis Gott »alle Feinde unter seine Füße gelegt hat« (Psalm 110,1). 26Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. 27Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. 28Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott sei alles in allem. (1Kor 15,20-28)
Diese besonderen Worte vom Apostel Paulus stellen die Auferweckung am Ende der Tage in Aussicht, wenn Jesus Christus, der Messias Israels und Retter der Welt, wiederkommen und ihm alles von Gott übergeben wird, so Krämer. In dieser Phase der Heilsgeschichte werde alles vernichtet, was sich gegen Gott stelle, bevor der Messias das Reich wieder an Gott gibt und dieser als König regiere.
Doch wie kann eine Geschichte zwei Fluchtpunkte haben, die doch so verschiedene Inhalte vermitteln – den Zug zum Zion im wiederhergestellten Jerusalem in Jesaja und auf der anderen Seite die Auferstehung mit dem Kommen des Messias nach Paulus, der doch als Pharisäer die Worte Jesajas ganz genau kannte?
Schon begann Krämer, die offene Frage, die im Raum stand, zu beantworten: Auf den ersten Blick schiene es zwar, dass hier zwei verschiedene Ereignisse als Fluchtpunkt der Menschheitsgeschichte beschrieben würden, es also zwei verschiedene geben müsse; aber eigentlich handle es sich um ein und denselben, der aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet würde. So ergänzten sich die beiden Texte in ihren Aussagen. Sehr logisch klang die Ergänzung der alt- und neutestamentlichen Texte, die Tobias Krämer nun aufzeigte: Beide Texte sprächen von der Endzeit und der dann geschehenden weltweiten Erlösung, die das Ziel des gesamten Heilsgeschehens sei. Genau darin würden sie einander ergänzen und zusammengenommen ein größeres Bild zeigen: Darin gehe der Wiederkunft des Messias, die in 1Kor 15,20ff. beschrieben wird, der Zug der Völker nach Zion in Jes 2,1ff. voraus. In dieser Betrachtung sei die schlichte Tatsache zu erkennen, dass das heilsgeschichtliche Geschehen gemäß Bibel nicht ohne Israel stattfinden könne. Schließlich komme aber Gottes Bund mit seinem Volk zum Ziel. Auf dem Weg dahin sei es der Auftrag der Christen in diesem bedeutenden Geschehen, Israel zu begleiten in Freundschaft, Partnerschaft und Solidarität.
Die Darlegungen von Tobias Krämer waren erfrischend und im Kontext des Kongresses und seines Themas „Frieden für Israel“ sehr hilfreich. Indem er zwei Prophetien aus dem Alten und dem Neuen Testament zusammengebracht hat, hat er ein ausgewogenes Bild der Israellehre und der christlichen Lehre gezeichnet: Gott bleibt seinem Volk treu und führt seinen Bund mit Israel zum Ziel, sodass die Wiederherstellung Israels eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Erfüllung seines Heilsplanes ist. Dabei wird jedoch korrekterweise die Herrschaft Christi zur tatsächlichen Erfüllung der Verheißung – die Herrschaft des Messias, der der wahre Friedefürst ist. So ist das, was Krämer als Fluchtpunkt beschreibt, eigentlich eine Phase, in der Gott seine großen Verheißungen erfüllt: die Wiederherstellung Israels, die Wiederkunft des Königs auf dem Zion, die Auferstehung am Ende der Tage und damit die Wiederherstellung der Welt.
Leider herrscht immer noch der Zustand vor, dass in vielen christlichen Kreisen das Alte getrennt vom Neuen Testament gelesen wird – manchmal, um eine gewisse Distanz zum Judentum aufrecht zu erhalten und dadurch Respekt gegenüber jüdischen Menschen auszudrücken, manchmal, weil die christliche Botschaft so sehr von ihrem Hintergrund des Alten Testaments getrennt wurde, dass schlicht das Verständnis dafür fehlt. In diese Lücke der kirchlichen Lehre hat Tobias Krämer hineingesprochen und es geschafft, auf verständliche und simple Art und Weise das Zusammenspiel alt- und neutestamentlicher Prophetien zu erklären. Denkt man, man habe einen scheinbaren Widerspruch zwischen den Schriften entdeckt (wie etwa in diesem Fall, dass zwei Zielpunkte derselben Geschichte aufgestellt würden), sollte man diesen eben nicht einfach stehen lassen, sondern tiefer bohren, um die Tiefe der Schriften, die Tiefe der Beziehung zwischen Juden und Christen und unsere eigene Verantwortung im geistlichen Geschehen dieser Welt zu entdecken. Es ist eine schlichte, aber deutliche Erkenntnis: Ohne Israel und den Bund zwischen Gott und seinem erwählten Volk wird es keinen weltweiten Frieden geben, der immer wieder von verschiedensten Gruppierungen weltweit bepriesen wird. Diese Tatsache ist in christlichen Kreisen noch viel zu wenig verbreitet und sollte uns zum Nachdenken anregen. Auch wenn nur der Messias selbst den Frieden für Israel bringen kann, der der weltweiten Wiederherstellung vorausgeht, können wir Christen dennoch Stellung beziehen – und zwar an der Seite Israels.
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