Zionismus – Jurek Schulz
Zionismus – Jurek Schulz
Jüdisch-messianische Israelkonferenz Berlin
16. November 2012
Als nächstes ist Jurek Schulz an der Reihe. Seine Geschichte ist eine ganz besondere: Er ist Kind zweier der wenigen deutschen Juden, die den Holocaust im Land überlebt haben. Im Alter von 24 Jahren gelangte der jüdisch erzogene junge Mann durch das Studium des Neuen Testaments zu der Überzeugung, dass es sich bei Jesus Christus um den verheißenen Messias handelt. Eigentlich schade, dass er auf seine Biographie, vielleicht weil beim Publikum bereits bekannt, nicht zu sprechen kommt.
Stattdessen beschäftigt er sich mit dem Thema des Zionismus und gibt zu Beginn einen kurzen historischen Überblick: Seit dem Exil des Volkes Israel seien Jerusalem und Zion zu Symbolen der Sehnsucht geworden (Psalm 137,4-5). Schon immer habe das Volk um sein Überleben kämpfen müssen. Schulz sagt, so wie im Jahre 70 n. Chr. nach Angaben von Josephus 1,1 Millionen Juden getötet wurden, Gott also scheinbar sein Volk verstoßen hat, geschehe dies auch gegenwärtig. Er zitiert Psalm 83, der für ihn das nie endende Schicksal des Gottesvolkes und somit mehr als eine spezifische geschichtliche Situation beschreibt. Deshalb der Zionismus. Deshalb wurde Israel 1897 in Basel geboren.
Ab hier wird der Vortrag ein wenig unübersichtlich, denn Schulz vermischt die Geschichte mit persönlichen Bemerkungen gegenüber „Israelfeinden“. Er erzählt wie in der Geburtsstunde des Zionismus eine Fahne für das neue Land gebraucht wurde und David Wolffsohn – der Nachfolger Herzls als Präsident der Zionistischen Weltorganisation – auf den weiß-blauen Tallit zeigte mit den Worten: „Wir haben doch eine Fahne!“ (Weiterführende Informationen zur Entstehung der israelischen Nationalflagge gibt es übrigens hier.) Wolffsohn selbst kommentierte dieses Geschehnis mit den folgenden Worten: „Auf Geheiß unsres Anführers Herzl kam ich nach Basel, um Vorbereitungen für den Zionistischen Kongress zu treffen. Unter den vielen Problemen, die mich damals beschäftigten, war eines, das in gewisser Weise das Wesen des jüdischen Problems in sich barg: Welche Flagge würde in der Kongresshalle hängen? Da durchfuhr mich eine Idee: Wir haben eine Flagge – und die ist blau und weiß. Der Tallit, den wir um uns wickeln, wenn wir beten: das ist unser Symbol. Lass uns diesen Tallit hervornehmen und vor den Augen Israels und aller Völker entrollen! Also bestellte ich eine blauweiße Flagge, auf die der Davidstern gezeichnet wäre. Und so entstand die Nationalflagge, die über der Kongresshalle wehte.“ (Übersetzung: wikipedia.de)
Für Schulz ist die Flagge heute „Zeichen des Ärgernisses“ – hier benutzt er eine biblische Formulierung, die sonst nur für Jesus Christus verwendet wird (vgl. Jesaja 8,14; Römer 9,33; 1. Korinther 1,23; Galater 5,11; 1. Petrus 2,8). Seine Begründung ist, dass beispielsweise im CVJM-Zentrum in Westjerusalem alle Flaggen der Welt hängen – außer der israelischen. Das ist eigentlich aber nur die halbe Wahrheit: Bei dem Fahnenschmuck handelt es sich unseren Recherchen nach nicht um eine dauerhafte Einrichtung, sondern um eine zeitlich begrenzte Aktion im Rahmen eines Sommercamps für jüdische, christliche und muslimische Kinder. Hier wurde bewusst auf die israelische sowie die palästinensische Flagge verzichtet, was kritisiert werden kann und vielleicht sollte, aber nicht zum Ausdruck bringen wollte, dass der CVJM Israels Existenz nicht anerkennt.
Zion und der Zionismus blieben ein Zeichen des Ärgernisses. So werden in der aktuellen EKD-Orientierungshilfe zu Land und Staat Israel (siehe hier auf S. 84) christliche Zionisten als schädlich für den christlich-jüdischen Dialog und im Kern „judenfeindlich“ beschreiben – in der Tat harte Worte.
An dieser Stelle bringt Schulz das auf den Punkt, was viele der Konferenzredner auf die eine oder andere Art zu vermitteln suchten: „Was früher die Judenfrage war, ist heute die Israelfrage geworden.“ Eine Aussage, die in ihrer simplistischen Form, gerade angesichts der Brisanz des Themas des Antisemitismus, nicht so stehen gelassen werden sollte. Es handelt sich selbstverständlich um eine subjektive Empfindung und kein Nichtjude kann einem Juden vorschreiben, wie er die Dinge wahrzunehmen hat. Doch muss zumindest erwidert werden, dass es sich bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in der Tat um Antisemitismus in seiner Reinform handelte, einen rassistisch motivierten Hass auf Anhänger des jüdischen Volkes. Es ist sicherlich nicht zu leugnen, dass die moderne (oftmals aus dem linken Lager kommende) Israelkritik antisemitische Motive enthalten kann und sich teilweise antisemitischer Parolen bedient. Doch ist grundsätzlich zunächst der rassistisch begründete Antisemitismus vom politisch begründeten Antizionismus bzw. der Kritik an der israelischen Regierung zu unterscheiden – wenn auch beide zum Teil beide in der Praxis ähnliche Konsequenzen haben und Ausuferungen annehmen können.
Schulz weist darauf hin, dass in der UN-Resolution 3379 von November 1975 Zionismus als Rassismus bezeichnet wurde, ein Spruch, der übrigens bis heute überall in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten in Form von Graffitis zu finden ist. Daneben wurde Israel mit Ländern wie Südafrika, in denen Apartheid herrschte, verglichen. Was er nicht erwähnt, ist der (immerhin) knappe Ausgang der Abstimmung: 72 Ja-Stimmen, 32 Enthaltungen und 35 Nein-Stimmen, vornehmlich von den westlichen Ländern. Im Jahre 1991 wurde die Resolution zurückgenommen und vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als „Tiefpunkt“ in der Geschichte der Vereinten Nationen beschrieben. Das ist erfreulich. (Eine kurze Antwort auf die Frage, ob Zionismus tatsächlich als Rassismus eingestuft werden kann, gibt aus juristischer Perspektive Calev Myers: http://www.youtube.com/watch?v=pGYbH294C9g.)
Dennoch bleibt die UN für Schulz der Buhmann: Es gebe kein Land, das seit seiner Staatsgründung von dem Staatenbund so diskreditiert wurde wie Israel, d. h. gegen das so viele Resolutionen verfasst wurden. Dabei sei nicht allein der Zionismus im Fokus der Kritik, sondern der gesamte Staat. Israel sei für die UNO das Sicherheitsproblem der Region, von dem der Weltfrieden abhinge. In einem anderen Vortrag wies Schulz an dieser Stelle auf die fast lächerlich erscheinende Größe dieses kleinen, angeblich so gefährlichen Landes im Gegensatz zu den es umgebenden nicht-demokratischen arabischen Ländern hin (http://www.youtube.com/watch?v=Y1U6LZ1yq3U – siehe 44. Minute). Wenn man es so sieht und die Tatsache bedenkt, dass Israel die einzige stabile Demokratie des Nahen Ostens darstellt, erscheint es in der Tat erstaunlich, dass 59 % der Europäer und 64 % der Deutschen in Israel das größte Sicherheitsproblem sehen. Man weiß allerdings nicht, ob sie damit zum Teil gemeint haben könnten, dass in den nahöstlichen Auseinandersetzungen viel von Israel abhängt und es nicht für sich allein eine Bedrohung des Weltfriedens ist.
Nun kommt Jurek Schulz wieder auf sein eigentliches Thema zu sprechen: den Zionismus. Er möchte die Rolle betonen, die Christen bei der Gründung des Staates Israel zugekommen ist. So habe Theodor Herzl den Judenchristen und Christen in Basel einen Platz freigehalten, damit sie am Kongress teilnehmen können. Des weiteren würden drei Freunde des Zionismus-Begründers in dessen Tagebüchern öfters erwähnt, die allesamt Christen waren: Kaiser Wilhelm, Friedrich von Baden und William Hechler. Letztgenannter war anglikanischer Pastor und ihm ist zu danken, dass über seine Bekanntschaft zu Friedrich von Baden der Kontakt zwischen Herzl und dem Kaiser hergestellt werden konnte. Über Theodor Herzl ist laut Schulz bekannt, dass er mehr Angst davor hatte, in eine Synagoge zu gehen, als in einer Kirche zu predigen. Er war säkular. Doch Hechler hatte ihm die Augen geöffnet, so unser Redner, er nennt ihn den „Wegbereiter“ des biblischen Zionismus. Laut Schulz steht ein Christ am Anfang der zionistischen Idee – eine interessante These, der weiter nachgegangen werden sollte.
Doch bis 1948 verging noch viel Zeit. Die Sehnsucht nach Zion, so Jurek Schulz, blieb bestehen. Sie drückte sich aus beim Feiern des Pessach („Nächstes Jahr in Jerusalem!“) oder bei Hochzeiten (wo zur Erinnerung an den zerstörten Tempel ein Glas zertreten wird). Kein anderes Volk habe über Jahrtausende die Bindung zu seinem Land in diesem Maße erhalten.
Allerdings wurde der Traum von Zion für die Juden zum Albtraum. Im Folgenden verbindet Schulz – ob absichtlich oder unabsichtlich – die auf Augustinus beruhende Ersatztheologie, die besagt, dass Israel nicht mehr Gottes Volk ist, mit dem Holocaust. Schulz greift eine ersatztheologisch begründete klassische Abbildung des christlich-jüdischen Verhältnisses auf: die der als Frauen dargestellten „triumphierenden Kirche“ und der „erniedrigten“ oder „blinden Synagoge“ (siehe zum Beispiel hier oder die in Straßburg abgebildeten Reliefs hier), wie sie sich bis heute an so manchem Kirchengebäude findet. Die Kirche: siegend, gekrönt, erhobenen Hauptes und mit einem Kelch in der Hand. Die Synagoge: gebeugt, die Lanze gebrochen, blind (bezüglich der Identität Christi) und in der Hand die Gesetzestafeln. Und dies ist nur ein Beispiel für judenfeindliche Darstellungen seitens der Kirchen, die eins deutlich machen wollten: Das Judentum hat gegenüber dem Christentum eine bittere, endgültige Niederlage eingesteckt, es ist allerhöchstens seine irrende Schwester, deren Zeit abgelaufen ist. Diese Theologie gipfelte laut Schulz in der Shoa. Doch liegt unseres Erachtens dieser These ein so komplexer Sachverhalt zugrunde, nämlich die Frage nach dem Entstehen und Grund des Antisemitismus, dass Vorsicht geboten sein sollte.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Jurek Schulz betont, dass es neben diesen Gräueltaten der Kirche immer Gläubige gab, welche dem Wort Gottes bedingungslos vertrauten (hiermit meint er: einer bestimmten Auslegung des Wortes Gottes), so beispielsweise August Hermann Francke, der habe verlauten lassen: „Eines Tages wird das Volk der Juden wieder in Eretz Israel gesammelt werden – das Wort Gottes wird es bestätigen.“
Und dies ist für Schulz die Aussage von Hesekiel 37 – dem Schlüsselkapitel über Gottes heilsgeschichtliches Handeln: Israel wird aus den Toten auferstehen, wie es auf dem Relief der Skelette in Yad Vashem und auf der Menora vor der Jerusalemer Knesset abgebildet ist. Bei diesem Bild könne es sich nicht um die Kirche handeln, gibt doch Gott in Vers 11 selbst Auskunft, wie das Kapitel zu deuten sei: „Diese Gebeine sind das Haus Israel.“ Schade, dass der messianische Jude diese wörtliche, und etwas simplistisch anmutende, Interpretation des Kapitels nicht rechtfertigt.
Am 14. Mai 1948 wird schließlich durch David Ben Gurion der Staat Israel ausgerufen, vorhergesagt durch den säkularen Prophet Herzl, der Ende des 19. Jahrhunderts verkündet hatte: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. In fünf, spätestens fünfzig Jahre wird es jeder sehen.“
Schulz endet mit einigen aktuellen Informationen und damit verbundenen Aufforderungen an das Publikum: Man dürfe bei Israel nicht nur an die dort lebenden Juden denken, immerhin sei die Hälfte des Landes palästinensische Autonomiezone und lebten dort Drusen, Muslime sowie (teils christliche) Araber. Ein wichtiger Punkt. Innerhalb der Landesgrenzen herrsche aufgrund des Raketenbeschusses aus Gaza häufig Ausnahmezustand. Bedenklich sei auch die wachsende Armut in Israel. Die Zukunft liege deshalb einzig und allein in einer Ein-Staaten-Lösung, einem Friedensreich, in dem jeder Hass überwunden wird und Menschen aller Völker gemeinsam den Messias anbeten (Psalm 87,3-4), allen voran die Palästinenser (Sacharja 9,6-7), Syrien und Ägypten (Jesaja 19,23-25). Sie werden allesamt Gott erkennen, schließt Schulz und beendet seinen Vortrag wie eine Predigt mit einem „Amen“.
Wer sich näher über Geschichte, Definition und Ausprägungen von Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus informieren will, findet hier zahlreiche Artikel:
http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37944/was-heisst-antisemitismus
Hier ein Interview mit Jurek Schulz über sein Leben:
http://www.bibeltv.de/mediathek/bibel_tv_das_gespraech/Juden_Christen_Judenchristen_Jurek_Schulz-426.html
(jp)
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