Der Schofar – warum das Widderhorn für Juden und Christen so wichtig ist
Interessierten, die sich mit dem Judentum beschäftigen, ist der Schofar (dt. Widder- bzw. Schafhorn, ein weit verbreitetes, sehr altes vorderorientalisches Signal- und Musikinstrument) nicht unbekannt: Man weiß, dass er zu bestimmten Anlässen in Synagogen zum Einsatz kommt, dass er als Symbol immer wieder auftaucht, und in Israel findet man sogar als einfacher Tourist in vielen Läden und an den bunten Ständen die Widderhörner, mal aufwendig verziert mit jüdischer oder sogar christlicher Symbolik, mal ganz schlicht und natürlich gehalten. Den wenigsten ist jedoch bekannt, wie tief er in der jüdischen Geschichte und Tradition verankert ist und wie oft er tatsächlich Gebrauch finden soll.
Die frühe Bedeutung des Schofar. Das Schofarhorn taucht zahlreiche Male in den biblischen Schriften auf. Im hebräischen Text steht das Wort שׁוֹפָר (dt. Schofar), das das Horn eines Widders bezeichnet. Bis heute spielt dieses Widderhorn eine wichtige Rolle im Judentum. Seine Bedeutung beruht aber nicht einfach nur auf seinem mittlerweile Jahrtausende währenden Gebrauch in der jüdischen Tradition, sondern ist bis zum Stammvater des jüdischen Volkes zurückzuführen: Als Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte, hielt ein Bote Gottes ihn auf. Gott gab stattdessen einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Geäst verfangen hatte und nun geopfert werden konnte (Gen 22).1Im Hebräischen steht in Gen 22,13 zwar das Wort קֶרֶן (dt. keren), jedoch meint es dasselbe Horn, aus dem ein Schofar gemacht wird. (Vgl. auch Kammerer, Musik) Durch dieses frühe Geschehen, in dem ein Widder den Platz Isaaks einnimmt, wird der Schofar schon – in der rabbinisch-jüdischen Deutung – zum Symbol des Segens.
Bereits sehr früh wird die Funktion dieses Horns als Blasinstrument entdeckt. Jedoch kann der Schofar anders als andere Blasinstrumente wie Trompeten oder Flöten keine harmonischen Melodien spielen, sondern gibt einen durchdringenden Ton von sich. Deshalb wird es auch in der Bibel stets dort verwandt, wo Aufmerksamkeit errungen werden soll, sei es zur Verkündigung eines Geschehens, zur Warnung oder einem anders gearteten Aufruf.
Die erste Situation in der Geschichte des jüdischen Volkes nach dem Geschehen um Abraham und Isaak, in dem der Schofar wiederauftaucht und als ein Blasinstrument Verwendung findet, ist eine von enormer Bedeutung: Nachdem Gott Israel aus Ägypten befreit hat, führt er das Volk an den Sinai, wo er den Bund mit ihm schließt. In diesem Zusammenhang ist der laute Ton des Schofar2Im Hebräischen steht in Ex 19,16: וְקֹ֥ל שֹׁפָ֖ר חָזָ֣ק מְאֹ֑ד ein Begleitzeichen des Erscheinens Gottes. Dieser Moment, der Israel zum Bundesvolk erhebt, wird besonders durch die Gegenwart des allmächtigen Gottes, die durch den Schofarton angekündigt wird.
Der Gebrauch des Schofar als Gebot. Tatsächlich erschallt der Schofarton nicht nur bei Theophanien im Alten Testament. Gott gibt dem Volk Israel den Auftrag, zu verschiedenen Gelegenheiten das Schofarhorn selbst zu blasen, und zwar zu regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen, die fester Bestandteil des Bundes sein sollen. In der Tora (den fünf Büchern Mose, auch bekannt als Pentateuch) finden sich drei sog. Festkalender, in denen die Feste Israels beschrieben werden.3Die Festkalender stehen in Ex 23,14-17; Ex 34,18-26; Lev 23; Num 28-29; Dtn 16,1-18.
Das biblische Fest, zu dem der Schofar erklingen soll, ist ein Fest, das in den Festkalendern nicht immer explizit benannt ist, aber heute als Rosh
haShana bekannt ist.4Die Gebote zu diesem Festtag finden sich in Lev 23,23ff. und Num 29,1-6. Er wird beschrieben als ein besonderer Tag, an dem der Hörnerschall erklingen soll. An diesem Tag soll die Arbeit ruhen, es sollen Opfer gebracht und eine Festversammlung gehalten werden. In Num 29,1 wird dieser Tag folgendermaßen beschrieben:
Und im siebten Monat, am Ersten des Monats, sollt ihr eine heilige Versammlung halten; keinerlei Dienstarbeit sollt ihr tun; ein Tag des ⟨Horn⟩blasens soll es für euch sein. (Num 29,1, ELB)
Gemäß dieser Beschreibung wurde dieser Festtag Jom T´rua (יֹ֥ום תְּרוּעָ֖ה, dt. Tag des Hornblasens), der seit der Gesetzgebung bis heute am 1. Tischri (dem siebten Monat) gefeiert wird, genannt und ist als dieser auch heute noch unter frommen und religiösen Juden bekannt.
Im Zusammenhang mit den Festtagen spielt der Schofar noch zu einem anderen Anlass eine wichtige Rolle, denn er soll das Jobeljahr ankündigen:
Und du sollst im siebten Monat, am Zehnten des Monats, ein Lärmhorn erschallen lassen; an dem Versöhnungstag sollt ihr ein Horn durch euer ganzes Land erschallen lassen. (Lev 25,9, ELB)
Das Jobeljahr soll ein besonderes Sabbatjahr sein, in dem nicht nur das Land ruhen soll, sondern auch die Gesellschaft, indem für Bedürftige gesorgt wird, Schulden erlassen und Leibeigene freigelassen werden (Lev 25). Dieser besondere Tag beginnt alle 50 Jahre am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, und soll durch den Schofarton im ganzen Land ausgerufen werden.
Weiterer Gebrauch im Alten Testament. Im Verlauf des Alten Testaments wird das Widderhorn für zahlreiche andere Anlässe gebraucht, die zumeist festlich sind und oft auch im Zusammenhang mit dem Kultus stehen. Ein besonderes Ereignis ist dabei etwa der Transport der Bundeslade nach Jerusalem, den David angemessen feiern lässt (2Sam 6,15). Daneben steht die Einsetzung eines neuen Königs wie etwa Salomo (1Kön 1,34.39.41).5Auch Absalom lässt den Schofar erklingen, als er sich unrechtmäßig als König einsetzen lässt (2Sam 15,10). Ebenso handelt Jehu, als er im Nordreich Israel den Thron besteigt (2Kön 9,13).
Doch lange, bevor es einen König in Israel gibt, wird der Schofar in kriegerischen Szenerien gebraucht. Im Josuabuch gibt Gott den Israeliten bei der Einnahme Jerichos (Jos 6), am siebten Tag nach der siebten Prozession um die Stadt Schofarot zu benutzen, während das Volk ein Kriegsgeschrei erheben soll, was dann die Mauern der Stadt zum Einsturz bringt (Jos 6,20). Dieser besondere Moment der Landnahme hat durchaus kultische Anklänge, da die Priester mitsamt der Bundeslade, die die Gegenwart des einen Gottes im Bundesvolk symbolisiert, das Volk bei der Umrundung der Stadt anführen. Doch im Laufe des Alten Testament wird das Widderhorn auch im profanen Kriegsgebrauch benutzt, etwa wenn Feinde gesichtet werden6Etwa Neh 4,12; Jes 18,3; Hos 8,1., wenn ein Heer zusammengerufen werden soll7Etwa Ri 3,27; 6,34., bei Beginn einer Schlacht8Etwa Ri 7,8. oder auch im Fall des Sieges9Etwa 1Sam 13,3..
Unbedingt zu nennen ist auch noch der sog. Tag JHWHs, der sehr häufig in den prophetischen Büchern vorkommt. Hier ist er oft ein Tag des Gerichts, aber auch des kommenden Heils, oft geprägt von kriegerischen Ereignissen, aber vor allem vom Erscheinen Gottes selbst. Dieser Tag des HERRN wird begleitet vom Erklingen des Schofar10Etwa Jo 2,1; Zeph 1,16; Sach 9,14; Jes 18,3 u.a..
Der Schofar unter römischer Fremdherrschaft. Aus einer heutigen Perspektive ist zu beobachten, dass der Schofar zwar durch die gesamte jüdische Geschichte hindurch eine bedeutsame Rolle spielt, aber auch, dass sich sein Gebrauch mit der Zeit verändert und gewissen Umständen angepasst hat. Schon in den Psalmen lesen wir davon, dass der Schofar nicht nur zum Jobeljahr und dem jährlichen Jom T´rua geblasen wurde:
Stoßt am Neumond in das Horn, am Vollmond zum Tag unseres Festes! (Ps 81,4, ELB)
Diese Aussage aus dem Psalm Asafs lässt darauf schließen, dass schon in einer Zeit vor dem babylonischen Exil der Schofar zum Rosh Chodesch11Rosh Chodesch meint den Beginn eines Monats, der im jüdischen Kalender durch den Neumond markiert wird. geblasen wurde, also monatlich Verwendung fand. Diese Tradition wird heute jedoch so nicht mehr ausgelebt.
Wie es bei vielen jüdischen Traditionen zu beobachten ist, erfährt auch der Gebrauch des Widderhorns eine maßgebliche Veränderung in dem fast zwei Jahrtausende währenden zweiten Exil. Eine bis heute gängige Erweiterung bildet sich schon während der römischen Besatzung: Bereits im Monat Elul, der dem Jom T´rua (Rosh haShana) am 1. Tischri vorangeht, wird täglich der Schofar geblasen. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, wann genau diese Tradition ihren Anfang nahm, aber schon im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt wird sie in rabbinischer Lehre behandelt, nach der sie tatsächlich auf einem historischen Ereignis beruhen soll: Es sei der 1. Elul gewesen, an dem Gott Mose aufgefordert habe, nach dem Geschehen rund um das goldene Kalb und den Zerbruch der ersten Bundestafeln erneut auf den Berg zu steigen, um die Gebote noch einmal zu empfangen. Als Mose sich zum zweiten Mal auf den Weg auf den Berg Sinai machte, sei im Lager der Israeliten der Schofar geblasen worden, um sie zur Teschuwa (Umkehr) zu rufen, damit sich die Abkehr von Gott nicht wiederholen würde. So hat sich die Tradition entwickelt, am 1. Elul den Schofar zu blasen, wie Rabbiner Eliezer ben Hyrkanos laut der Schrift Pirkej deRabbi Eliezer überliefert hat.12Vgl. Guski, Schofar. Über Rabbiner Eliezer ben Hyrkanos ist nicht allzu viel bekannt; sicher ist aber, dass er Lehrer des berühmten Rabbi Akiwa war, der 50-135 n.Chr. in Jerusalem lebte, und somit war Rabbi ben Hyrkanos vermutliche in Zeitgenosse Jesu Christi selbt.13Vgl. Dubrau, Akiba. Das bedeutet, dass Rabbi ben Hyrkanos sich auf die Tradition des Schofarblasens am 1. Elul als etwas bezieht, das zu Jesu Zeit schon fest etabliert war.
Der Schofar in der Diaspora. Als mit der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 136 n.Chr. das zweite Exil besiegelt ist, werden Juden in verschiedene Länder gebracht und finden sich in unterschiedlichen Kulturen wieder. In einem Jahrhunderte andauernden Kampf zwischen Erhaltung der eigenen Identität und Traditionen und der Anpassung an neue Kulturen und die aktuellen Umstände verändern sich mit der Zeit Traditionen, die sich dann sogar in den unterschiedlichen jüdischen Strömungen voneinander in gewissem Grad unterscheiden. Es ist etwa zu beobachten, dass in orientalischen Ländern durch die gesamte Geschichte hindurch bis heute ein möglichst großes und gewundenes Schofarhorn von bis zu einem Meter Länge verwendet wird. Unter den Aschkenasim, die in Ost- und Westeuropa angesiedelt sind, hat sich dagegen der Gebrauch kleiner Schofarot etabliert.
Doch nicht nur das Aussehen, sondern auch der Gebrauch hat sich verändert: War der durchdringende Ton des Horns in alttestamentlichen Zeiten auch ein Signal der Warnung in Kriegszeiten, wird es seit der Diaspora nur noch für festliche und rein religiöse Zwecke verwendet. Dabei wurde fernab von Israel und ohne den Tempel der Gebrauch des Schofars zu den großen Herbstfesten noch ausgeweitet, weil das Gebet die Opfer ersetzen musste. Im späten Mittelalter berichtet Rabbiner Josef Karo (1488-1575) im Schluchan14Der Schluchan Aruch ist ein Auszug aus einem Kommentar von Rabbiner Josef Karo zu einem halachischen Werk. Mehr dazu finden Sie hier: https://www.talmud.de/tlmd/der-schulchan-aruch/ davon, dass es zu seiner Zeit fast überall Brauch war, dass nicht nur zu Beginn, sondern im ganzen Monat Elul täglich der Schofar in den jüdischen Gemeinden geblasen würde. So hat es sich bis heute gehalten. Die einzige Ausnahme, an dem das Widderhorn schweigt, ist der Vorabend von Jom Tr´ua, damit der Klang am 1. Tischri seine volle Bedeutung bekommen kann.15Vgl. Guski, Schofar.
Ein besonderer Schofar. Um zu verstehen, wie bedeutend der Schofar für Juden ist, lohnt sich ein Blick in die Schreckenszeiten des Holocaust. Es sind mittlerweile zahlreiche Schicksale einzelner Menschen und Gemeinschaften aus dieser Zeit bekannt, die allesamt unserer Aufmerksamkeit wert sind. Eine dieser bewegenden Geschichten ist die von Moshe Ben-Dov Winterer, die von der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem überliefert wurde. Winterer wurde, wie zahlreiche andere Juden aus seiner Gegend, in das Zwangsarbeitslager Skarżysko-Kamienna inhaftiert und musste unter schwersten Bedingungen für das deutsche Rüstungsunternehmen HASAG16Mehr Informationen zu der Zwangsarbeit jüdischer Menschen für HASAG finden Sie hier: https://www.zwangsarbeit-in-leipzig.de/zwangsarbeit-in-leipzig/ns-zwangsarbeit/zwangsarbeit-bei-der-hasag/ arbeiten. Unter den Mitgefangenen war auch der Rabbiner Yitzhak Finkler, der trotz der Umstände, in denen er und seine Glaubensgeschwister sich wiederfanden, das Gebot erfüllen wollte, an Rosh haShana 1943 das Schofar ertönen zu lassen. So bat er Winterer, ein entsprechendes Horn nach halachischen Vorschriften zu bearbeiten, nachdem Rabbi Finkler durch Bestechung eines polnischen Wachmanns ein solches beschaffen konnte. Dieser lehnte die Bitte zuerst ab, da ein Verstoß gegen die Vorschriften des Unternehmens durch einen Zwangsarbeiter eine sofortige Todesstraße nach sich ziehen würde. Schließlich nahm er das Risiko auf sich, bearbeitete das Horn und überreichte es rechtzeitig dem Rabbi. Am Abend, an dem das Neujahrsfest im Jahr 1943 begann, versammelten sich zahlreiche jüdische Insassen, um mit dem Ton des Schofarhorns das neue Jahr zu begrüßen. Bald wurde Winterer in das Konzentrationslager Tschenstochau (Częstochowa) überführt, wohin er das Horn mitnehmen konnte. Doch als er nach Buchenwald deportiert wurde, blieb der Schofar in Częstochowa und wurde nach Kriegsende der dortigen jüdischen Gemeinde gegeben und gelangte schließlich in die USA. Winterer überlebte den Holocaust und emigrierte nach Israel. Von dort unterstützte er Yad Vashem bei der Überführung des Schofars nach Israel in das Museum, wo es seit 1977 verwahrt wird.17Vgl. N.N., Schofar Lebensgefahr.
Der Schofar heute. Auch wenn Touristen und Kunstliebhaber heute sehr aufwendig verzierte Schofarot erstatten können, ist es unter frommen und religiösen Juden üblich, den Schofar möglichst naturbelassen zu gebrauchen. Auch darin unterscheidet es sich von später entwickelten Instrumenten wie etwa Trompeten aus Holz, Bronze oder Silber, die natürlich geformt werden mussten und dekorativ verändert wurden. Für den religiösen Gebrauch wurden keine Verschönerungen am Schofar vorgenommen und es wurde nicht einmal ein metallenes Mundstück angefügt.18Vgl. Ringgren, שׁוֹפָר, S.541.
Heute ist das Widderhorn immer noch ein nicht wegzudenkender Bestandteil jüdischer Tradition. Seine Rolle im jüdischen Festjahr beginnt immer noch am 1. Elul, wie Rabbiner ben Hyrkanos schon zur Zeit Jesu lehrte: Jeden Morgen soll das Horn in jüdischen Gemeinden nach dem Morgengebet erklingen, um die Menschen auf den Beginn des Jom T´rua und die ihm folgenden Feiertage vorzubereiten. Der Tag des Hornklangs (Jom T´rua) wurde mit der Zeit zum jüdischen Neujahrsfest, das wir als Rosh haShana kennen. Doch auch wenn es heute als ein Neujahrsfest gefeiert wird, ist der Höhepunkt dennoch das Blasen des Schofar. Um das hervorzuheben, ruht am Erew Rosh haShana, also an dem Abend, mit dem das Fest beginnt, das Horn. Erst am folgenden Morgen wird es im Gottesdienst geblasen, doch dann sogar hundert Mal, um das biblische Gebot entsprechend zu ehren. Auch dabei hat sich eine bestimmte Tradition eingespielt: Zuerst wird die Tekia gespielt, ein langer Ton; dem folgen die Sch´warim, drei mittellange Töne; abgeschlossen wird das Blasen des Schofar mit neun T´rua, sehr kurzen Tönen.19Vgl. N.N., Schofar. Danach wünschen sich jüdische Menschen gegenseitig, dass sie für ein weiteres Jahr im Buch des Lebens eingeschrieben sein mögen, was gleichzeitig über das eigene Leben reflektieren lässt.
Laut mündlicher Überlieferung des Judentums wurde am 1. Tischri die Erschaffung der Welt abgeschlossen. Der Schofar erinnert demnach an Gottes Schöpfungswerk und damit den Beginn der Menschheit ebenso wie an den damit einhergehenden Beginn von Gottes Herrschaft als König über die Schöpfung. Vor diesem König muss sich der Mensch verantworten. Obwohl Rosh haShana ein fröhliches Fest ist, trägt es also einen mahnenden Unterton in sich. Denn ob man in das Buch des Lebens geschrieben wird oder nicht, hängt von den eigenen Entscheidungen und der Vergebung Gottes ab, die am Jom Kippur erbeten wird.
An Rosh haShana schließen sich die Jamim Noarim, die sog. ehrfurchtsvollen Tage an. Diese zehn Tage geben dem Menschen Zeit für eine persönliche Umkehr bis zum großen Versöhnungstag (Jom Kippur), in den diese Tage einmünden. Genau genommen werden diese Tage der Umkehr sogar durch das Erklingen des Schofar an Rosh haShana eingeleitet. Nach den zehn Tagen, die von Besinnung, Reflexion und Vergebung geprägt sind, wird der Jom Kippur begangen, an dem 24 Stunden gefastet und in der Synagoge gebetet wird, um von Gott Vergebung zu erbitten. Abgeschlossen wird diese geistlich intensive Zeit, die mit dem 1. Elul begann, am Ende des Versöhnungstages mit einem besonderen Gottesdienst, nach dem die Gemeinde in Freude ausbrechen soll – begleitet durch einen einzelnen Schofarton.
Der Schofar und die Christen. Es ist eine Tatsache, dass unter vielen Christen das Schofar eher unbekannt ist: Wenn man nicht gerade schon mal in Israel war oder intensiveren Kontakt mit jüdischen Menschen hatte, kann es durchaus sein, dass man von dem Widderhorn und seiner biblischen Bedeutung noch nichts gehört hat. Wie ist das möglich, kommt das Horn doch sehr häufig in der Schrift vor?
Ein Grund dafür mag eine weit verbreitete Fehlübersetzung in deutschen Bibeln sein: Um die kulturelle Distanz zum Urtext zu überwinden, haben viele Übersetzer das hebräische Wort Schofar mit einem vergleichbaren, in Europa bekannten Instrument wiedergegeben. Martin Luther beispielsweise hat das Wort Schofar durch Posaune und manchmal auch Trompete ersetzt.20Vgl. Kühn, Horn. Daher gibt es im deutschen Sprachgebrauch auch geflügelte Worte wie „die Posaunen von Jericho“ – obwohl es diese nie gab. Die Posaune, wie sie in kirchlichen Kreisen bekannt ist, gab es im antiken Israel nämlich nicht, wurde aber durch die abgewandelte Übersetzung lange Zeit damit in Verbindung gebracht. Trompeten kamen im kultischen Kontext am Tempel vor, aber auch sie waren ganz anders gestaltet als solche zur Zeit Luthers. Anders als beim Schofar im Judentum verhält es sich mit den Blechblasinstrumenten im Christentum. Ihre gottesdienstliche Funktion unterscheidet sich vollkommen von der des Schofars. An die Stelle des aufrüttelnden, archaisch-schroffen Signaltons tritt in der Reformation primär das Lob Gottes in Musik und gesungenen Bibelversen. So wie es in Martin Luthers Übersetzung von Psalm 150 heißt: „Lobet Gott in seinem Heiligtum! Lobet ihn mit Posaunen!“ (nicht mit Widderhörnern) Diese „Fehlübersetzung“ hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Kirchen- und der Volksmusik in ganz Europa und darüber hinaus.
Beim Lesen des Neuen Testaments sollte man achtsam bleiben, wenn in einigen Schriften in gängigen Übersetzungen das Wort „Posaune“ auftaucht.21Etwa 1Kor 14,8; 15,52; 1Thess 4,16; Hebr 12,19; Offb 1,10; 4,1; 8,13; 9,14. Da es sich bei den Autoren der Briefe und der Offenbarung durchweg um jüdische Männer aus der Zeit Jesu oder kurz danach handelt, die also in einer Zeit an Jesus Christus als ihren Retter glaubten, in der der Schofar noch in Gebrauch war und eine bedeutende Rolle spielte, muss an den entsprechenden Stellen von diesem Bild ausgegangen werden: Es wird keine Posaune geblasen, wie wir sie gelegentlich in Gottesdiensten von Posaunenchören hören, sondern das Widderhorn, das für Segen steht und Signaltöne zur Aufmerksamkeit abgibt, das vor allem das Erscheinen des einen Gottes ankündigt, das warnt und ermahnt und (eschatologisch) dem Tag JHWHs vorausgeht. Gerade wenn es in diesen Textstellen um die Auferstehung der Toten und die Wiederkehr des Messias geht, sind sie vor dem eschatologischen Hintergrund der alttestamentlichen Stellen zu lesen.
Vielerorts hat in christlichen Kreisen schon eine gedankliche Wende Einzug gehalten: Wachgerüttelt durch den Holocaust und die Gründung des Staates Israel ist bei vielen Christen eine Neugier auf biblische Originale und jüdische Traditionen zu finden, die sich mindestens in ihren Wurzeln auf den biblischen Text zurückführen lassen. Nicht nur, um der Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber nachzukommen, sollte der Wissensdurst unter Christen aber noch weiter zunehmen, sondern auch zur Freude an der biblischen Vielfalt von „alttestamentlichen Vorbildern“, die Christen in liturgischer Freiheit anwenden dürfen, z.B. im gelegentlichen Gebrauch des Schofar: Wenn Christen die jüdische Welt besser verstehen, können sie teilweise auch den jüdischen Messias Jesus Christus verstehen und einen Einblick in zukünftige Ereignisse bekommen, die das Neue Testament ankündigt.
- 1Im Hebräischen steht in Gen 22,13 zwar das Wort קֶרֶן (dt. keren), jedoch meint es dasselbe Horn, aus dem ein Schofar gemacht wird. (Vgl. auch Kammerer, Musik)
- 2Im Hebräischen steht in Ex 19,16: וְקֹ֥ל שֹׁפָ֖ר חָזָ֣ק מְאֹ֑ד
- 3Die Festkalender stehen in Ex 23,14-17; Ex 34,18-26; Lev 23; Num 28-29; Dtn 16,1-18.
- 4Die Gebote zu diesem Festtag finden sich in Lev 23,23ff. und Num 29,1-6.
- 5Auch Absalom lässt den Schofar erklingen, als er sich unrechtmäßig als König einsetzen lässt (2Sam 15,10). Ebenso handelt Jehu, als er im Nordreich Israel den Thron besteigt (2Kön 9,13).
- 6Etwa Neh 4,12; Jes 18,3; Hos 8,1.
- 7Etwa Ri 3,27; 6,34.
- 8Etwa Ri 7,8.
- 9Etwa 1Sam 13,3.
- 10Etwa Jo 2,1; Zeph 1,16; Sach 9,14; Jes 18,3 u.a.
- 11Rosh Chodesch meint den Beginn eines Monats, der im jüdischen Kalender durch den Neumond markiert wird.
- 12Vgl. Guski, Schofar.
- 13Vgl. Dubrau, Akiba.
- 14Der Schluchan Aruch ist ein Auszug aus einem Kommentar von Rabbiner Josef Karo zu einem halachischen Werk. Mehr dazu finden Sie hier: https://www.talmud.de/tlmd/der-schulchan-aruch/
- 15Vgl. Guski, Schofar.
- 16Mehr Informationen zu der Zwangsarbeit jüdischer Menschen für HASAG finden Sie hier: https://www.zwangsarbeit-in-leipzig.de/zwangsarbeit-in-leipzig/ns-zwangsarbeit/zwangsarbeit-bei-der-hasag/
- 17Vgl. N.N., Schofar Lebensgefahr.
- 18Vgl. Ringgren, שׁוֹפָר, S.541.
- 19Vgl. N.N., Schofar.
- 20Vgl. Kühn, Horn.
- 21Etwa 1Kor 14,8; 15,52; 1Thess 4,16; Hebr 12,19; Offb 1,10; 4,1; 8,13; 9,14.
Quellen:
Berger, Rabbiner Joel, Psalm 27, https://www.juedische-allgemeine.de/glossar/psalm-27/ (Stand 6.9.2021)
Dubrau, Alexander, Akiba, Rabbi, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/akiba-rabbi/ch/22e3e1db4be35a8fc030f2c063349f77/ (Stand 31.8.2021)
Guski, Chajm, Schofar, https://www.juedische-allgemeine.de/religion/schofar/ (Stand 31.8.2021)
Kammerer, Stefan, Musik / Musikinstrumente, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/musik-musikinstrumente/ch/5f8a4dce528957bd57535447e55b8e56/(Stand 30.8.2021)
Klebe, David, Tag des Posaunenschalls, https://www.juedische-allgemeine.de/religion/tag-des-posaunenschalls/ (Stand 6.9.2021)
Kühn, Tobias, Vom Horn zum Blech. Wie aus dem Schofar die Posaune wurde, https://www.deutschlandfunk.de/vom-horn-zum-blech-wie-aus-dem-schofar-die-posaune-wurde.2540.de.html?dram:article_id=453646 (Stand 27.8.2021)
N.N., Die Hohen Feiertage – die furchtbaren Tage. haJamim haNora´im, https://www.hagalil.com/judentum/feiertage/kippur/noraim.htm (Stand 6.9.2021)
N.N., Schofar, hergestellt unter Lebensgefahr im Zwangsarbeitslager Skarżysko-Kamienna, Polen 1943, https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/rosh-hashana/shofar.asp (Stand 30.8.2021)
N.N., Schofar. Schofarblasen als Aufruf zu guten Taten, https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/848412/jewish/Schofar.htm (Stand 31.8.2021)
N.N., Wie wird Jom Kippur eingehalten?, https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/1294862/jewish/Wie-wird-Jom-Kippur-eingehalten.htm (Stand 6.9.2021)
Ringgren, שׁוֹפָר, in: TDOT 14, S. 541-542.
- 1Im Hebräischen steht in Gen 22,13 zwar das Wort קֶרֶן (dt. keren), jedoch meint es dasselbe Horn, aus dem ein Schofar gemacht wird. (Vgl. auch Kammerer, Musik)
- 2Im Hebräischen steht in Ex 19,16: וְקֹ֥ל שֹׁפָ֖ר חָזָ֣ק מְאֹ֑ד
- 3Die Festkalender stehen in Ex 23,14-17; Ex 34,18-26; Lev 23; Num 28-29; Dtn 16,1-18.
- 4Die Gebote zu diesem Festtag finden sich in Lev 23,23ff. und Num 29,1-6.
- 5Auch Absalom lässt den Schofar erklingen, als er sich unrechtmäßig als König einsetzen lässt (2Sam 15,10). Ebenso handelt Jehu, als er im Nordreich Israel den Thron besteigt (2Kön 9,13).
- 6Etwa Neh 4,12; Jes 18,3; Hos 8,1.
- 7Etwa Ri 3,27; 6,34.
- 8Etwa Ri 7,8.
- 9Etwa 1Sam 13,3.
- 10Etwa Jo 2,1; Zeph 1,16; Sach 9,14; Jes 18,3 u.a.
- 11Rosh Chodesch meint den Beginn eines Monats, der im jüdischen Kalender durch den Neumond markiert wird.
- 12Vgl. Guski, Schofar.
- 13Vgl. Dubrau, Akiba.
- 14Der Schluchan Aruch ist ein Auszug aus einem Kommentar von Rabbiner Josef Karo zu einem halachischen Werk. Mehr dazu finden Sie hier: https://www.talmud.de/tlmd/der-schulchan-aruch/
- 15Vgl. Guski, Schofar.
- 16Mehr Informationen zu der Zwangsarbeit jüdischer Menschen für HASAG finden Sie hier: https://www.zwangsarbeit-in-leipzig.de/zwangsarbeit-in-leipzig/ns-zwangsarbeit/zwangsarbeit-bei-der-hasag/
- 17Vgl. N.N., Schofar Lebensgefahr.
- 18Vgl. Ringgren, שׁוֹפָר, S.541.
- 19Vgl. N.N., Schofar.
- 20Vgl. Kühn, Horn.
- 21Etwa 1Kor 14,8; 15,52; 1Thess 4,16; Hebr 12,19; Offb 1,10; 4,1; 8,13; 9,14.