Weise Greise – Respekt gegenüber Senioren im Judentum

Das Judentum ist eine Religion der Weisheit. Ein Fünftel aller Verse der jüdischen Bibel gehört zur sogenannten „Weisheitsliteratur“ – unter diesem Begriff sind die Bücher Hiob, Psalmen, Sprüche, Kohelet (Prediger) und Hohelied zusammengefasst. Weisheit ist ein zentraler Begriff im Alten Testament und in anderen jüdischen Schriften. Als Quelle aller wahren Weisheit gilt dabei die Gottesfurcht und das Halten der göttlichen Gebote (z.B. 5 Mose 4,6; Hiob 28,28; Spr 9,10 u.a.).

Weisheit kommt aber auch aus der Lebenserfahrung eines Menschen; deshalb werden alte Menschen oft als besonders weise angesehen. Ihren einsichtigen Rat zu verwerfen, bedeutet großes Unglück – in diesem Zusammenhang nimmt beispielsweise der Talmud gern Bezug auf König Rehabeam, der den weisen Rat der Alten verstieß und auf den törichten Ratschlag seiner gleichaltrigen Freunde hörte, was zur Teilung seines Königreiches führte (1 Kön 12). Auch weitere biblische Beispiele lassen sich anführen, wie etwa die Könige Joasch (2 Chr 24) und Usija (2 Chr 26), die sich jeweils nach dem Tod ihrer alten Ratgeber von Gott abwendeten.

Alte, lebenserfahrene Menschen nehmen demnach im Judentum eine besondere Stellung als weise Ratgeber ein. Bis heute ist die jüdische Gesellschaft vom Respekt gegenüber alten Menschen geprägt. Im Gegensatz zu anderen Kulturen, die Senioren nur als Belastung für die Gesellschaft auffassen, erfahren sie im Judentum aktive Wertschätzung und Ehrerbietung. Auch wenn sie vielleicht körperlich nicht mehr so kräftig sind, wie in der Jugend, so wird doch ihre geistige Kraft und Lebensweisheit umso höher geachtet.

Dennoch bleibt das Judentum in diesem Punkt realistisch, denn: auch das Alter schützt vor Torheit nicht. „Es ist der Geist im Menschen und der Atem des Allmächtigen, der Menschen verständig werden lässt. Nicht nur die Betagten sind die Weisen, noch verstehen stets die Alten, was recht ist“, sagt bereits die Bibel in Hiob 32,8-9. Weisheit kommt eben nicht nur aus der Lebenserfahrung, sondern ist eine Gabe Gottes, die er auch an junge Menschen verleihen kann – wie das Beispiel Salomos im Alten Testament zeigt. Eine gute Beziehung zu Gott macht „einsichtiger als Greise“ (Ps 119,100).

In der jüdischen Bibel ist die Ehrerbietung den Alten bzw. den Senioren gegenüber ein direkter Befehl Gottes: „Vor grauem Haar sollst du aufstehen und die Person eines Greises ehren, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der Herr“ (3 Mose 19,32). Doch die Meinungen gehen darüber auseinander, ob diese Pflicht, den Alten Ehrerbietung zu erweisen, wirklich gegenüber allen Alten gilt oder nur gegenüber denjenigen Alten, die auch „weise“ im biblischen Sinne (geworden) sind. Im Babylonischen Talmud (Traktat Qiddušin Fol. 32b) werden beide Positionen zitiert:

„R. Jose der Galiläer sagte: Unter Alten ist einer zu verstehen, der Weisheit erworben hat, denn es heißt: der Herr hat mich erworben am Anfang seines Weges. […] Isi b. Jehuda sagte: Vor einem Greise sollst du aufstehen, darin ist jeder Greis inbegriffen.“

Die Frage ist hier: Gilt das Recht auf Ehrerbietung den alten Menschen, weil sie alt sind oder weil sie besonders erfahren und weise sind? Und umgekehrt: Haben auch törichte und sündhafte Greise ein Recht darauf, dass man sie ehrt – allein aufgrund ihres Alters?

Ein erneuter Blick auf die Bibelstelle zeigt, dass die Ehrung von Senioren hier mit der Furcht vor Gott verknüpft wird. Dass Gott „der Herr“ ist, gilt als die absolute Begründung dafür, alten Menschen Respekt zu erweisen. Wer einen Greis nicht ehrt, zeigt damit, dass er Gott nicht fürchtet. Der Respekt gegenüber dem Alter wird hier nicht an das Verhalten oder den Lebensstil des alten Menschen gebunden, sondern an den Respekt vor Gott.

In diesem Sinne verstehen auch die meisten Juden heutzutage das Gebot. Die Wertschätzung von Senioren – unabhängig von deren Lebensstil oder Lebensweisheit – gilt als direkt von Gott befohlen. Deshalb hat das Alter im Judentum einen besonders hohen Stellenwert und Senioren haben im Allgemeinen ein besonderes Ansehen als weise Ratgeber und erfahrene Helfer – bis heute.

Für weitere Stellen aus Talmud und Mischna über den Umgang des Judentums mit alten Menschen sei auf den folgenden Artikel des Joseph-Carlebach-Institutes hingewiesen: http://www.jci.co.il/?cmd=judaism.207.

(sg)

Quellen:

http://www.jci.co.il/?cmd=judaism.207

Goldschmidt, Lazarus, Der Babylonische Talmud. Sechster Band, 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1996

Rienecker, Fritz / Gerhard Maier, Alter, in: Lexikon zur Bibel, 5. Aufl. Wuppertal 2005, Seiten 67-69

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