Die Tora – ein zumutbares Gesetz?

Dieser Beitrag wird sich mit der Frage der Tora und der Halacha, dem rechtlichen Teil der mündlichen Überlieferung, beschäftigen. Ein wesentlicher Punkt, der diskutiert werden wird, ist die heutige jüdische Gemeinde in Deutschland. Inwiefern setzen Juden heute in Deutschland die 613 Ge- und Verbote um, und wie wichtig ist das Umsetzen der Gebote (= 10 Dekalog-Gebote und 603 weitere Einzelgebote). Zu Beginn werden jetzt einige grundlegende jüdische Ansichten skizziert, bevor wir uns der eigentlichen Frage widmen.

Mose hat die Tora auf dem Berg Sinai empfangen, so lautet die jüdische Überlieferung. Von Mose wurde sie dann an Josua weitergegeben, später an die Ältesten und Propheten, bis hin zu den Männern der Großen Ratsversammlung. Die Ratsversammlung wird im Neuen Testament durch den griechischen Begriff „συνέδριον“ (sünedrion) ausgedrückt. Nach Num 11,16.17 versammelte Mose 70 Männer von den Ältesten als Helfer vor dem Herrn. Im Neuen Testament gibt es folgende Stellen, die auf einen solchen Rat hinweisen: Joh 18,31; Lk 22,66; Apg 4,1-23; 5,17-41; 6,12-15; 22,30; 23,1-10. Die Mischna (Niederschrift der mündlichen Tora) lehrt wie folgt: „Seid bedächtig beim Rechtsprechen! Nehmt viele Schüler an! Macht einen Zaun um das Gesetz!“ Sie sollten ehrlich und nicht bestechlich sein, vielen Schüler die Gebote lehren und die Gesetze so ausleben und weiterlehren, dass sie auf keinen Fall gebrochen werden. Mit diesem letzten Zitat beginnt das Buch „Sprüche der Väter“ aus der Mischna (Wiederholung).

Für die Frage, ob Juden heute in Deutschland das Gesetz halten, müssen Begrifflichkeiten wie Tora, Halacha und Mischna gedeutet werden. Im orthodoxen Judentum geht man davon aus, dass die Tora, die fünf Bücher des Mose, so wie wir sie heute vorfinden, Mose von Gott am Berg Sinai empfangen hat. Dieser Meinung ist auch der Gelehrte Maimonides aus dem 12. Jhdt. Es wird jedoch zwischen den schriftlichen Geboten (Tora) und den mündlichen Geboten (Mischna) unterschieden, die Mose am Sinai erhalten habe.

Die Tora und die Gebote stellen Kernelemente der Existenz eines frommen Juden im Judentum dar. So sprach Mose in Dtn 32,46-47: „Nehmet zu Herzen alle Worte, die ich euch heute bezeuge, dass ihr euren Kindern befehlt, dass sie halten und tun alle Worte dieses Gesetzes und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden. Denn es ist nicht ein vergebliches Wort an euch, sondern es ist euer Leben; und solches Wort wird euer Leben verlängern in dem Lande, da ihr hin gehet über den Jordan, dass ihr es einnehmet.“ So wird über den Schabbat gesagt: „Der Schabbat bewahrte mehr das Volk Israel als das Volk Israel den Schabbat bewahrt hat.“ Denn durch den arbeitsfreien Tag, war das Judentum stets aufgefordert zusammenzuhalten, stark und vereint zu bleiben. Diese Punkte standen häufig primär im Vordergrund, mehr als die Gesetze zur Bewahrung des Schabbats an sich.

Über die Frage, ob es der Gebote (Mitzwot) überhaupt bedarf und ob diese erklärt werden müssen, gibt es verschiedene Meinungen unter den jüdischen Gelehrten. Es besteht bei allen Gruppierungen des Judentums kein Zweifel an der Wichtigkeit der Tora. Die frühen Weisen hatten das Ziel, dass Juden mehr Mitzwot einhalten und das mit mehr Lust tun. In der Mischna (Wiederholung) wird z.B. in Traktat Brachot über folgendes Gebot diskutiert: Derjenige, der ein Vogelnest mit Eiern findet, darf die Eier nehmen, nachdem der Vogel freigelassen wurde. Er darf die Eier jedoch nicht nehmen, solange der Vogel darauf sitzt. So standen die frühen Weisen vor der Frage, ob Gebote beliebig interpretiert werden dürfen. In diesem Fall scheint es so zu sein. Maimonides sagt ausdrücklich in seinem Buch „Führer der Unschlüssigen“, Teil 3, Kapitel 31: „Jedes der 613 Gebote dient dazu, um die Wahrheit zu sagen und um schlechte Meinung zu entfernen oder vor schlechtem Verhalten zu warnen. Und alles hängt von drei Dingen ab: Meinungen und Tugenden und Taten der politischen Führung.“ Auf Basis dieser Richtlinie fand Maimonides einige Gründe für einen Teil von Geboten der Tora. Andere Gelehrte hingegen sind anderer Meinung: Denn ein Mensch kann versuchen, die Gründe, die er für Gebote gefunden hat, als nichtig und sinnlos zu erklären, was wiederum dazu führen kann, dass Gebote als sinnlos und unbrauchbar erklärt werden. Rabbi Channania ben Akashia sagte in der Mischna, Makot 3,17: „Gott wollte dem Volk Israel etwas Gutes tun und deshalb hatte er viele Gebote und die Tora gegeben.“

Die gesamte Welt der Halacha (rechtliche Teil der Tora) basiert auf dem Bedürfnis, den Weg zu definieren, wie die Gebote praktiziert werden sollen. Die schriftliche Tora dient als Basis dazu. Die Details, die Definitionen und den Rahmen hingegen lieferten zuerst die mündliche Tora (Mischna), dann der Babylonische Talmud und erst danach die Bücher der Halacha und die Schulchan Aruch (16. Jhdt. Verfasste religiöse Vorschriften).

Wenn deine Mitmenschen Gebote nicht praktizieren, dann sollst du diesen nicht hassen, sondern du sollst ihn zurechtweisen (Lev 19,17). Auch Maimonides unterstreicht diese Aussage ganz ausdrücklich in ‚Hilchot Deot‘ (Kapitel 6, Halcha 7). Was ist aber mit den unwissenden Juden, die mit dem Gesetz nicht vertraut genug sind, wie es häufig Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind, da sie aufgrund des Kommunismus keine Möglichkeit hatten, die Religion auszuleben? In diesem Fall unterscheidet die Halacha zwei Menschengruppen:

  1. Jemand, der sich freiwillig dazu entscheidet, Gebote nicht zu halten, unabhängig von der Motivation – es handelt sich hierbei um den Willen, keinen guten Weg zu gehen, gehört zur Personengruppe derer, die „als Baby von den Nichtjuden gefangen genommen“ angesehen werden. Das heißt, da diese Personen nicht die Möglichkeit hatten, sich mit den Geboten zu beschäftigen und somit unwissend sind, werden sie nur für eine einzige Sünde büßen, so die Interpretation des Talmuds.
  2. Dann gibt es die Juden, die die Möglichkeit des Torastudiums hatten und dementsprechend zur Rechenschafft gezogen werden.

Nach der Einwanderung von ca. 100.000 Juden aus der UdSSR nach Deutschland, hat sich für die ca. 30.000 alteingesessenen Juden in Deutschland eine neue Situation ergeben; sie mussten lernen, mit den eher traditionellen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion klar zu kommen. Somit sind Juden verpflichtet, Juden zurechtzuweisen, wenn sie die Gebote der Tora nicht praktizieren. Im Allgemeinen besteht jedoch eine positive Einstellung gegenüber einem Menschen, der niemals gelernt hatte, wie die Gebote in die Praxis umgesetzt werden sollen.

Gegenwärtig sind überwiegend Juden aus der zweiten Generation des Holocausts in Deutschland, deren Eltern aus Polen stammen. Die Minderheit sind deutschstämmige Juden. Für die meist traditionellen Juden heute sind eher Gebote mit rituellen oder kollektiven Charakter wichtig:

  1. Der jüdische Lebenszyklus.
  2. Der jüdische Jahreszyklus.
  3. Die Synagoge spielt eine wichtige Rolle.
  4. Die Pflege des jüdischen Bildungssystems.
  5. Almosen.
  6. Identifikation und Unterstützung des Staates Israel.

Gesetze und Gebote wie Beschneidung, Eheschließung, das Verbot des Benutzens von öffentlichen Verkehrsmitteln und des Autos am Schabbat, Arbeits- und Schulverbot am Schabbat usw., werden heutzutage von Juden in Deutschland kaum noch umgesetzt.

Bei all dem wird weder Zurechtweisung, noch Zwang hilfreich sein, so lautet die einvernehmliche Auffassung unter Juden. Helfen kann in diesen Fällen nur Aufklärung über die Dinge des Judentums! Eventuell kann der positive Umgang zu positiveren Ergebnissen führen, sodass es wieder zur Stärkung und Bewahrung der Gebote im jüdischen Sinne kommt.

(mr)

 

Internet:

http://egora.uni-muenster.de/ijd/pubdata/Tora_und_Halacha_in_Judentum_im_heutigen_Deutschland.pdf

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