Der jüdische Weg zu Gott

Rabbi Lionel Blue ist 1930 in London geboren, gehörte dem reformierten Judentum an und war Autor, Journalist und Fernsehmoderator. Rabbi Blue versucht in seinem Werk „Wie kommt ein Jude in den Himmel?“ vor allem den nichtjüdischen Personen die Spiritualität des Judentums näher zu bringen. Natürlich kann solch ein Versuch schnell von Andersgläubigen missverstanden werden. Deshalb werde ich im Folgenden die zehn Kapitel des Buches von Rabbi Blue zusammenfassend wiedergeben und in einer Auswahl näher erklären. Am Ende werde ich die Thematik aus meiner Sicht kommentieren. Auch werde ich meine eigenen Erfahrungen, die ich in Gesprächen mit Juden gemacht habe, bündeln und versuchen, diese verständlich wiederzugeben. Somit erhoffe ich mir, dass Sie einen Einblick erhalten, wie das jüdische Verständnis zum Allmächtigen und des Jenseitigen ist – aus der Perspektive von Rabbi Blue wohlgemerkt.

1. ‚Im Spiegel‘

Rab sagte: „Beim Gericht wird der Mensch Rechenschaft ablegen müssen über alle guten Dinge, die er hätte genießen können und nicht genossen hat.“ (Palästinensischer Talmud, Kidduschin).

Blue schreibt zur Thematik „Weshalb der steinige Weg der Religion sinnvoll ist“: Wo die Verwundung größer ist, muss die Versöhnung tiefer sein. Die dafür notwendige Disziplin bewahrt den Menschen vor der gefährlichsten religiösen Versuchung – dem Mangel an Respekt vor der Wirklichkeit. Denn religiöse Wahrheit ist letzten Endes bitter, stechend und schmerzhaft. Dahingegen religiöse Sentimentalität (Gefühl, Stimmung) nicht. Die jüdische Religion hat heute Probleme sich den aktuellen Problemen zuzuwenden. Sie fühlt sich in ihrer Tradition viel wohler. Lieber setzt man sich mit den klassischen Problemen von Armut und Verfolgung auseinander. Selten werden moderne Probleme der Freizeit, des Wohlstandes und der Enttabuisierung angegangen.

Juden sind es heute nicht mehr gewohnt, ihre religiösen Erfahrungen Außenstehenden zu erklären. Zum einen haben historische Erfahrungen dazu beigetragen, z.B. die traumatischen Erlebnisse der Zwangschristianisierung, zum anderen sieht es das Judentum nicht vor zu missionieren. Dies hat die theologische Zurückhaltung gesteigert. Somit kann es heute eher vorkommen, dass man, wenn man mit Juden über ihre religiösen Erfahrungen reden möchte, von ihnen zu einem Schabbatessen eingeladen wird. Eine Antwort auf die gestellten Fragen wird man vermutlich nicht erhalten.

Das jüdische Volk lebt heute aus der Hoffnung heraus. Es stellt sich heute die Frage, ob die Ära der Rabbis und der Synagogen womöglich zu Ende ist, so wie die Ära des Tempels auch schon zu Ende ging.

2. ‚Den Lebensunterhalt verdienen‘

Ein Lieblingswort von Rabbis von Javneh war:

„Ich bin Gottes Geschöpf, und mein Mitmensch ist Gottes Geschöpf. Ich arbeite in der Stadt, und er arbeitet auf dem Land. Ich stehe früh auf, um meine Arbeit zu tun, und er steht früh auf, um seine Arbeit zu tun. Wie er sich nicht anmaßt, meine Arbeit zu tun, so maße auch ich mir nicht an, seine Arbeit zu tun. Wirst du sagen: ich tue viel und er tut wenig? Wir haben gelernt: Mag jemand viel tun oder mag jemand wenig tun; Es ist alles dasselbe, vorausgesetzt, er erhebt sein Herz zum Himmel.“ (Talmud, Berachot)

Dieses Zitat aus dem Talmud soll verdeutlichen, dass es bei jeder Art von Arbeit immer auf die Herzenseinstellung ankommt.

„Religion“ heißt vor allem sie zu erfüllen. Man soll sie nicht betrachten, betend aufsagen, küssen oder über sie philosophieren. Für einen Juden ist Arbeit und Geschäft heilig, denn die Schöpfung ruht nicht. Es bereitet ihnen Freude, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Somit arbeiten sie für die Königsherrschaft Gottes oder für die Republik des Guten.

Laut den jüdischen Kommentaren zu den Lehren des Jesaja heißt es: „Nenne uns nicht Deine Kinder, sondern Deine Bauleute!“ Auch heute beschreiben sich Juden als „Arbeiter“ und Gott als den „Arbeitgeber“. Der Talmud sagt: Gott ist „treu und wird uns unseren Lohn zahlen“. Die Aussage „Arbeit macht frei“, die über den KZ-Lagern als zynisch-verachtendes Motto auf Schildern zu lesen war, verzehrte eine Wahrheit des Judentums. Demnach die Erlösung, das Heil, zu dem das ehrlich verrichtete Tagewerk die Tür sei!

Das Ziel eines gläubigen Juden ist es, in einem Büro oder in einer Fabrik mit der sich nicht verändernden Wirklichkeit zu vereinen, mit der Wirklichkeit, die dahinter liegt, mit dem Jenseitigen. Die Mitte des Judentums ist daher nicht ein Glaubensbekenntnis, eine Theologie oder eine Erfahrung. Die fünf Bücher des Mose (Thora) berichten wenig von solchen Dingen. Die Weisungen Gottes der Thora sind vielmehr eine Aufgabe! Es geht nicht um eine Orthodoxie, vielmehr um eine Orthopraxie (= richtiges Handeln), bei der alle für dieselbe Sache arbeiten.

Juden stellen die Kulturen, in denen sie leben, stets in Frage. Blue schreibt, sie arbeiten zu schwer, sie reden zu viel und passen nicht dazu. Demnach ist die größte Sünde für ein Werkzeug (= einen Juden) die Untätigkeit. Sie gebrauchen die Arbeit auf dreierlei Weise: um sich zu heiligen, sich  vor anderen Leuten und sich selbst zu schützen und um von Gott wegzulaufen. Arbeit ist ein Mittel um Gott zu begegnen, aber auch gleichzeitig um Ihm auszuweichen.

3. ‚Der Herr der Heerscharen in der Vorstadt‘

„Die Thora wurde nicht Engeln gegeben.“ (Talmud, Berachot)

Juden machen sich seit jeher Knoten, um sich an etwas zu erinnern. Zum Beispiel werden Knoten an Kleidungsstücken oder Taschentücher gemacht.

Wenn Christen oder Touristen heute jüdische Vorstädte betrachten, so wirken viele Verhaltensweisen und Ereignisse sehr interessant oder merkwürdig bis irritierend. Sie wirken weder spirituell ansprechend, noch schön. Wenn Juden beobachtet werden, wie sie zur oder von einer Synagoge gehen, so scheint ihnen die innere Glut einer mystischen Erfahrung zu fehlen. Außenstehende können diese kleine fremdwirkende Welt leicht missverstehen. Für Jesus und die Apostel war sie nicht fremd.

Viele Juden sehen heute die Details in der jüdischen Religionspraktik, ohne den Grund dafür zu kennen. Somit sind für sie die Knoten selbstverständlich und zugleich sehr sonderbar. Die Religion wird zum Sammelsurium alter soziologischer Verhältnisse, sie gleicht einem Raritätenladen religiöser Antiquitäten. So kann es heute bei traditionellen Juden vorkommen, dass eine dreifache Teilung im Kühlschrank stattfindet: Milch, Fleisch und Verbotenes.

Rabbi Jochanan ben Zakkai schreibt: „Und sein Rat lautet „Übergabe“… Die Thora ist kein Buch der Toten, sie ist ein Buch für die Lebenden. Die Toten kennt sie kaum. Für den Juden sind sie in Gottes Reich, die Lage der Lebenden ist komplizierter.“

Für Juden ist das Gesetz seit Jahrhunderten eine aufregende, leidenschaftliche und liebenswerte Sache. Man kann sich darüber freuen, es genießen und sogar damit spielen.

Im Judentum spielt sich ein Kampf ab: „Kann Gottes Wille im Wohlstand ebenso erfüllt werden, wie in schlechten Zeiten?“ Diese Frage stellt man sich in unserer Gegenwart. Das Judentum hatte nicht die Absicht gehabt, aus religiösen Gründen die Welt auf den Kopf zu stellen. Auch wollte man nicht den gesunden Menschenverstand der Thora und des Talmuds durch Paradoxe ersetzen. Wenn es sich aber zeigen sollte, dass Gott nur im Unglück gefunden werden kann, wenn der Mensch über seine Natur hinaus geprüft wird, dann ist das Judentum an das Ende eines Weges angekommen. Das Judentum müsste dann Symbole von Hoffnung und Wohlfahrt mit Leiden ersetzen. Das wäre das Ende des pharisäischen Judentums.

Rabbis versuchen nicht, die Natur des Menschen und ihre Sehnsüchte zu verändern. Sie versuchen dem Menschen zu helfen, diese anzunehmen, wie sie geschaffen sind, und ihrem Leben eine Dimension der Heiligkeit zu verleihen.

4. ‚Heiligkeit am Abwaschbecken – das jüdische Heim‘

Im jüdischen Heim – dem Wohnhaus eines Juden mischt sich häufig Heiliges und Weltliches. Alle Dinge können verwandelt werden, wenn sie für Gott gebraucht werden. Cocktailschränkchen und Küchenschubladen sind die Sakristei für die häusliche Liturgie, die am Schabbat durchgeführt wird.

Jüdische Erfahrung hat immer einen bittersüßen Geschmack. So gibt es die Tradition, dass an einer Hochzeit bevor alle nach Hause gehen ein Glas vom Bräutigam zerbrochen wird. Er erinnert sich an traurige Dinge, dass das Liebesverhältnis schwer aufzubauen und leicht zu zerbrechen ist. Beim Passahfest wird ein Glas Wein erhoben, es erinnert an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Bevor daraus getrunken wird, werden zehn Tropfen vergossen. Diese erinnern an die zehn Plagen an die Ägypter.

Die Geschichte des Judentums wird symbolisch an vielen kleinen Ereignissen  im Leben eines Juden sichtbar. Einige besuchen am Schabbat die Synagoge, die meisten ziehen das Heim vor. Denn die einfachen durchschnittlichen traditionellen Juden sind nicht aus Lehrbüchern geboren. Am Schabbat wird bei Kerzenlicht, Wein und Brot der Geburtstag der Welt gefeiert. In einigen Synagogen wenden sich die Versammelten zur Tür, wenn die Schabbat-Braut eintritt. Diese begleitet die Gemeinde nach Hause und bringt ihnen ein Geschenk – eine besondere Seele für diesen Tag.

Die jüdischen Feste scheinen schlicht und ungezwungen. In Wirklichkeit sind sie Kunstwerke, die Blüte des rabbinischen Judentums. Die 613 Gebote und Verbote des Judentums sind nicht um ihrer Selbstwillen da. Sie dienen nicht der Buße oder Kasteiung – sie vermitteln Erfahrung. In der Stille des Schabbats kann sich der äußere Friede zum inneren Frieden wenden. Bei den meisten Juden ist diese Idylle oft nur noch eine Erinnerung. Die Welt ist zu kompliziert geworden, als dass man sich den siebenten Tag freihalten könnte. Die Fragen: „Wofür arbeiten wir?“ „Wem widmen wir unsere Aktivität?“ „Wozu sind wir auf diese Erde gekommen?“ werden immer seltener gestellt. Wenn diese Fragen nicht mehr gestellt werden, werden selbst gute Werke zu einer Ausflucht vor der Frage nach dem Lebenszweck.

5. ‚Die Synagoge, das heilige Rathaus‘

„Was sind unsere Gebetsräume… anderes als Schulen der Klugheit, des Mutes, der Mäßigkeit und Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, Heiligkeit und Tugend?“ (Philo)

Der Unterschied einer Synagoge zu einer Kirche liegt vor allem darin, dass es viel lauter und lebendiger zugeht. Eine Synagoge ist vielmehr als ein Haus des Gebetes. Sie ist das Rathaus, das Parlament, das Versammlungshaus und vor allem die Universität der Gemeinde, ihre heilige Schule. Es wird keine Teilung von Wirklichkeiten geduldet. Es sind die Werkzeuge der Kraft – die Frommen, die eine Synagoge braucht. Sie dient nicht für die subjektiven Erfahrungen. Sie soll dazu dienen, die Welt zu erhalten, in der man lebt. Gebet, Geschwätz und Erörterungen bilden im jüdischen religiösen Leben eine Einheit. Diese Mischung ist wirksam, auch wenn sie nicht entspannend ist. Das Gebetsbuch sagt: „Der Heilige, gepriesen sei Er, schläft und schlummert nicht.“ Die rabbinische Antwort auf die Frage, was ‚Gottes Job‘ ist und an was er arbeitet, ist: „Es sind dieselben Dinge an denen auch wir arbeiten. Nur tut er es ohne Lohn, ohne weiteren Grund. Er steuert die Braut aus, besucht die Kranken und begleitet die Begräbnisse, bei denen es keinen weiteren Trauernden gibt.“

Beim Eintritt von Außenstehenden in eine Synagoge scheint es dort häufig verwirrend zuzugehen und kein sehr heiliger Ort zu sein. Ständig kommen und gehen Leute. Es ist laut, der Rabbi liest still für sich auf einem Podest, während Vertreter der Gemeinde noch über die Einzelheiten des Gottesdienstes diskutieren. Man hört unterdrücktes Gelächter eines jüdischen Witzes. Der Geist der Außenwelt strömt in die Synagoge, die Atmosphäre bringt einen „Außenstehenden“ aus der Fassung.

Gottes Wille geschieht, mit oder ohne unsere Zustimmung, sagt er Talmud. Studium und Gebet helfen uns, das zu erkennen.

Es hat nicht viel Sinn, den Willen Gottes zu erkennen, wenn er nicht in die Tat umgesetzt wird. Das Wissen bringt keine Taten hervor, nur Schuldgefühle. Es hat die Krankheit des Zerfalls. Gott muss mit Respekt behandelt werden, denn zwischen Ihm und seinem Volk besteht eine Distanz.

6. ‚Das Gebet die innere Arbeit‘

„Wer anfängt zu beten, sollte von einem gewöhnlichen Arbeiter lernen, der manchmal einen ganzen Tag braucht, um eine Arbeit vorzubereiten. Ein Holzfäller, der den größten Teil des Tages zum Schärfen der Säge verwendet, und nur die letzte Stunde zum Sägen des Holzes, hat seinen Tageslohn verdient. (Mendel von Kotz)

Rabbi Blue führt auf, gemäß einem Rabbi sind Bittgebete „heilige Unverschämtheit“ und „Angriffe auf den Himmel“.

Christen bitten Gott, dass er in ihnen wirkt, sodass sie sich vollständig und frei Ihm hingeben können. Juden beten, dass sie ihren Willen ändern und an sich selbst arbeiten können, damit sie ein besseres Werkzeug für Gott werden.

Es benötigt Zeit, um sich an die Objektivität und Distanziertheit der jüdischen Gebete zu gewöhnen und um sie zu verstehen. Gebet ist auch eine Art Arbeit, so wie die Arbeit im Berufsleben oder die, die sie an sich selbst zu leisten haben.

Es benötigt Jahre der Psychoanalyse und des Gebets, um zu einem Schimmer von Selbsterkenntnis oder einer winzigen Veränderung des Ich zu erreichen. Man kann die Welt nur verändern, wenn man an sich arbeitet, sich selbst verändert, so wie die Thora es verlangt. Die Arbeit fängt bei einem selbst an.

Blue schreibt über Christen: „Ein Christ fängt mit der Rettung seiner Seele an und endet bei der Rettung der Welt, vorausgesetzt er ist nicht beim Pietismus stehengeblieben und hat die Welt vergessen und sich zur Heiligkeit emporgearbeitet. Weiter schreib Blue: „Der Jude versucht die Welt zu verändern und merkt, dass er sich während des Prozesses selbst erlöst.“

Ein Gebet führt von Problem zu Problem. Das Gebet und das Problem reifen bei dem Vorgang. Das ist religiöses Wachstum.

Gott ist die Vereinigung der Gegensätze. Die Auflösung dieser wird zu Lebzeiten nicht erfahren werden können. Als Mensch sieht man die Wirklichkeit nur bruchstückhaft. Man ist so beschaffen, dass man nur durch Gegensätze erkennen kann, was die Wahrheit ist. Demnach wäre es als Jude unheilvoll, dem einen oder anderen Pol der Wahrheit nachzugeben. Es würde die Arbeit, die jeder Jude tun muss, unmöglich machen. Das jüdische Gebetsbuch verdeutlicht die Realität der jüdischen Psyche und die, wie Juden die Welt erfahren. Die gegensätzlichen Abschnitte des Gebetsbuches gleichen einem jüdischen Spiegel, der das Leben reflektiert. Ein Leben lang wird ein Jude zwischen den gegensätzlichen Polen der Erfahrungen seines Volkes hin- und hergerissen. Der jüdische Beter muss seinen Weg durch die Gegenpole hindurch finden. Er muss die Komplexitäten seines Lebens annehmen und darf nicht nach der Bequemlichkeit verlangen, die Gott anderen geschenkt hat.

Religiöse Erfahrung ist kein Lohn für Gebete. Es ist wichtig, das festzuhalten, denn unsere Gesellschaft ist vergnügungssüchtig. Der Allmächtige liebt uns und es ist uns befohlen, ihn zu lieben. Er kann aber niemals unser Kumpel werden. Wir beschreiben diese Beziehung mit menschlichen Begriffen, es ist aber absolut keine menschliche Beziehung, die zu Gott besteht.

Im Judentum befindet sich eine gewisse Hoffnungsfreudigkeit. Egal, welche Krise, welche Lebenslage, auch jedes Ende eines jüdischen Gottesdienstes bezeugt den unverwüstlichen Optimismus des Volkes. Am Schluss des Gottesdienstes heißt es: „Möge sein Reich kommen zu euren Lebzeiten und den Lebzeiten eurer Kinder!“ Die Toten sind bei Gott. Die Toten brauchen das Gebet nicht so sehr dringend, viel mehr aber die Kinder, die nächste Generation.

7. ‚Wie seltsam von Gott…‘

„Als Jidd wurde ich geboren, und ich bin ein Jidd“, sagt ein Volkslied. Diese platte Feststellung war gute Theologie und zugleich schmerzhafte Wirklichkeit. Es wird ganz unsentimental und trocken im frühen Talmud festgestellt: „Ohne deine Zustimmung wurdest du geboren, und ohne deine Zustimmung lebst du, und ohne deine Zustimmung stirbst du, und ohne deine Zustimmung musst du Rechenschaft ablegen vor dem König der Könige, dem Heiligen, gepriesen sei Er.“

Jüdisches Nachdenken kreist daher nicht um die Frage der Bekehrung. Dieses Stadium ist vorbei, es wurde bereits entschieden. Ein Jude befindet sich bildlich gesprochen schon nach der Geburt in einem fahrenden Zug – Gott ist der Fahrer. Es ist nicht leicht, abzuspringen. Jüdische Religion ist nicht subjektive Erfahrung, die man versucht zu veranschaulichen, sie ist vielmehr objektive Tatsache. Auch soll Religion nicht die Empfindung verstärken, sondern sie tagtäglich nutzbar und lebbar machen.

Spiritualität bedeutet für einen Christen etwas anderes als für einen Juden. Für Christen ist Spiritualität Aufschwung nach oben oder ein Weg nach innen – ein Abenteuer der Seele, die in eine dunkle Nacht reist. Für einen Juden ist Spiritualität ein Weg, in der Nacht der Verfolgung und in der Dunkelheit dauernder Unsicherheit normal zu bleiben. Für einen Christen ist jüdische Spiritualität etwas Prosaisches (Nüchternes, Trockenes). Für einen Juden ist der Weg eines Christen phantastisch (merkwürdig, seltsam).

Die Aufgabe jüdischer Spiritualität ist es, sich Gottes Willen anzupassen. Der jüdische Humor ist häufig hilfreich dabei. Nur Humor und heilige Witze retten die jüdische Welt vor Lächerlichkeit. Christen und Juden werden die gleichen Tugenden gelehrt, die Mittel der Unterweisung sind jedoch sehr verschieden. Ein Jude sucht nicht Demut, indem er auf die Knie fällt, sondern in dem er sich in Witzen selbst erniedrigt. So wird Gewissenserforschung durch Selbst-Entfremdung ersetzt.

Die Größe des Judentums liegt nicht darin, Leid zu transzendieren, sondern es auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

8. ‚Den Weg zum Himmel erstreiten‘

„Guten Morgen, Allmächtiger Gott, Ich, Levi Jitzchak, Sohn von Sara von Berditchev, komme wegen eines Urteils gegen Dich. Was willst Du von Deinem Volk Israels? Bei der kleinsten Sache sagst Du, „Sprich zu den Kindern Israels“.“ (Rabbi Levi Jitzchak)

Die jüdische Religion ist geräuschvoll, selbst die Gläubigen sind selten still. Auch das göttliche Gesetz wird paarweise studiert. Damit sie besser miteinander streiten können. Streiten und Verhandeln ist nichts Neues bei der religiösen Suche. Schon in der frühsten hebräischen Tradition sind diese Phänomene wiederzufinden. Abraham betet nicht nur passiv zum Allmächtigen und handelt mit ihm. Er feilscht sogar um das Geschick der Leute von Sodom, mit derselben Hartnäckigkeit, wie die Händler heute auf einem jüdischen Markt. Bileam streitet mit seinem Esel, Mose mit den Kindern Israels und diese untereinander und mit dem Schöpfer.

Für einen Juden ist es nicht richtig, Verfolgung und Unheil einfach zu erdulden. Er hat einen Mund bekommen, um Fragen stellen zu können, und Glieder, um handeln und reagieren zu können.

Auch der Talmud ist nicht ein Buch mit religiösen Lösungen. Er ist ein Buch religiöser Auseinandersetzung. Der Gelehrte Hillel schreibt über Entscheidungen: „Es kommt auf die Art und Weise an, wie wir zu Entscheidungen kommen, sie selbst sind nicht so wichtig. Sollen wir sitzen, oder wollen wir stehen? Beide Haltungen haben ihre Vor- und Nachteile. Weil man die eine wählt, ist die andere nicht falsch.“

„Ein Ehestreit kam vor einen Rabbi. Dieser hört die Frau geduldig an und sagte: „Du hast recht.“ Der Ehemann mischte sich ein, und der Rabbi hörte auch ihn an und überlegte sorgfältig. „Und auch du hast recht“, rief er aus. Hat man jüdische Ohren, wird man hören, und hat man jüdischen Verstand, wird man verstehen. Das Judentum spricht nicht die Sprache griechischer Logik, seine Botschaft ergeht in der Flexibilität der „maschal“ – der Gleichnisse, und sein Geheimnis ist im Innern der Witze verborgen.“

Das Ziel des jüdischen Studierens war nie die Gotteserfahrung, viel mehr die Erkenntnis Seines Willens. Gotteserfahrung ist Vergnügen – Seinen Willen erkennen dahingegen Pflicht und Arbeit.

„Das ist der Weg der Thora! Ein Stück Brot mit Salz wirst du essen, eine Ration Wasser wirst du trinken, auf dem Boden wirst du liegen, ein Leben der Mühsal wirst du führen, und du wirst an der Thora arbeiten. Wenn du das tust, „glücklich wirst du sein“ – in dieser Welt. „Und es wird dir wohlgehen – in der kommenden Welt.“

9. ‚Offenbarung in der Zeitung‘

„Möge Sein Königreich zu euren Lebzeiten kommen und in euren Tagen, und zu Lebzeiten der ganzen Familie Israels – schnell und eilig möge es kommen. (Kaddisch, Aramäisches Gebet in der Liturgie)

Juden sind leidenschaftliche Politiker. Zeitschriften politischer Parteien werden studiert, nicht nur gelesen. Sie werden wie religiöse Texte behandelt. Denn wenn diese richtig gelesen werden, liefern sie eine Offenbarung des Allmächtigen. Auch schon der Prophet Jeremia hatte sich auf die Außenpolitik spezialisiert. Die meisten Propheten hatten etwas zur Innen- und Außenpolitik ihres Volkes zu sagen.

Blue hielt nach einem finanziellen Schock den Gottesdienst am Versöhnungstag. Die Intensität der Teilnahme und Frömmigkeit war erfreulich. In der Liturgie ging es um die Welt, die nur Staub sei, und dass man sich auf keinen Menschen verlassen könne. Die Beter stimmten dem vollständig zu. Die Zustimmung wurde noch größer, als Blue über die Schwachheit des Menschen, die Vergänglichkeit der irdischen Dinge und die Seligkeit der kommenden Welt sprach. Blue wusste, dass die Faszination der Zuhörer über die kommende Welt nur kurzlebig sein würde. Denn die Gezeiten des Judentums tragen sein Volk zu den religiösen Forderungen im Hier und Jetzt.

Unter dem einfachen jüdischen Volk verbreiten sich Deutungen, ohne Hilfe von Intellektuellen oder Rabbinern. Die Deutungen sind überzeugend und möglicherweise auch gefährlich. „Für manche war die Zerstörung des europäischen Judentums die Strafe für die Assimilation, für das Nachgeben gegenüber den Verlockungen der nichtjüdischen Welt, für den Ausverkauf des jüdischen Erbes und Erstgeburtsrecht.“ Juden sind in Bezug auf Israel sehr empfindlich. An der Existenz Israels hängt die in geschichtlichen Ereignissen sichtbar gemachte Gerechtigkeit Gottes.

10. ‚Unterwegs zum unbekannten Land‘

„Auf dem dunklen Pfad, auf dem ein Mensch hier auf Erden gehen muss, gibt es gerade so viel Licht, wie er braucht, um den nächsten Schritt zu tun. Mehr würde ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht verwirrt ihn.“ (Moses Mendelssohn)

Ein Schriftgelehrter sagte an seinem Totenbett zu seinen Schülern: „Fürchtet Gott so, wie ihr die Menschen fürchtet! So wenig! riefen seine Schüler aus. So viel! antwortete er.“

Es gibt eine rabbinische Tradition, die aussagt: Gott habe mehrere Welten erschaffen, alle gingen zugrunde. Damit nicht auch diese Welt dieses Schicksal erleidet, versuchen die Pharisäer und ihre Schüler, die Menschheit davor zu bewahren.

Der Korridor, der für das Leben steht, führt selbstverständlich zur Tür, welche der Tod ist. Was sich jenseits davon befindet, wird dogmatisch nicht beschrieben. Ein pharisäischer Meister sagte sehr vernünftig: „Es ist noch niemand von dort zurückgekommen“. Am Eingang eines jüdischen Friedhofs steht in hebräischer Schrift „das Haus des Lebens“.

Bei Juden ist die Ehrfurcht vor Gott groß. Darüber hinaus ist Furcht eher selten. Nur Heiden, die Gottes Wesen nicht kennen, die Seine Erlösung in ihrer Geschichte nicht erlebt haben, fürchten sich vor ihren eigenen Dämonen. Das Zeichen eines Gläubigen ist Vertrauen. Dahingegen quält einen Juden die Furcht vor Tod, Erbsünde und Hölle nicht. Deshalb ist die christliche Botschaft der Befreiung von diesen dreien nicht so wichtig für einen Juden. Juden, die sich von dem Evangelium des Messias Jesus angezogen fühlen, müssen dafür andere Gründe haben.

‚Zusammenfassender Kommentar‘

Die Verschriftlichung von Rabbi Lionel Blue macht vor allem deutlich, dass man sich als Jude nicht die Frage nach Erlösung stellt. Es stellt sich eher die Frage nach dem richtigen Handeln in jeder Lebenssituation.

Nach Gesprächen mit traditionellen Juden wurde mir außerdem erläutert, dass traditionelle und reformierte Juden sich nicht groß mit der Frage des Jenseitigen beschäftigen. Für sie ist klar, wenn sie am Jom Kippur (Versöhnungstag) mit aufrichtigen Herzen zu Gott beten und den ganzen Tag fasten, dann haben sie an dem Leben nach dem Tod Anteil. Noch besser ist es, wenn sie während der Zeit vom Neujahrsfest und Versöhnungsfest gute Taten vollbringen. Auch sollten sie bei anderen um Vergebung für Fehler bitten, die im zurückliegenden Jahr begannen wurden.

Fragt man dagegen orthodoxe Juden oder ultra-orthodoxe Juden, so wird klar, dass reformierte/ traditionelle Juden keinen Anteil an der zukünftigen Welt haben werden. Denn für orthodoxe Juden leben diese nicht nach dem Willen Gottes. Sie halten die 613 Ge- und Verbote nicht korrekt nach dem Willen des Allmächtigen ein. Deshalb sieht man unter anderem auch orthodoxe Juden auf dem Markt in Israel. Sie versuchen u.a. traditionelle Juden dazu zu animieren, dass sie sich die Gebetsriemen anlegen und beten. Ihrem Verständnis nach wird Israel erst Frieden und Wohlstand haben, wenn sich das gesamte Judentum an die Gebote und Weisungen Gottes hält, so wie sie diese verstehen.

Eine Sache ist mir erneut positiv im Judentum aufgefallen, während ich mich mit dieser Thematik beschäftigt habe. Ich finde es beeindruckend, wie in Krisen nicht immer die Frage auftaucht, „Warum lässt Gott das zu?“ Es geht im Judentum vielmehr darum, dass man lernt, mit der Situation gottgefällig umzugehen, und nicht, Gott in Frage zu stellen.

(mr)

Quelle:

Blue, Lionel, Wie kommt ein Jude in den Himmel? Der jüdische Weg zu Gott, München 1976

 

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