Abtreibung im Judentum
Das Thema der Abtreibung wird auf vielerlei Art und Weise immer wieder zu einem gesellschaftlich viel diskutierten Thema. Es ist nach wie vor ein sogenanntes „heißes Eisen“. Dieser Artikel will die jüdische Sicht auf die Abtreibungsdebatte referieren, die sowohl biblische, als auch traditionell jüdische Aspekte beinhaltet.
Am 17.09.2016 fand er wieder statt. Der Marsch des Lebens. Er stand unter dem Motto: „Jeder Mensch ist gleich wertvoll – kein Kind ist unzumutbar“. Es versammelten sich dazu in Berlin wohl ca. 7500 Personen[1], meist christlicher Prägung, um einen stillen Protestmarsch für das Leben und gegen die Abtreibung zu vollziehen. Doch auch dieses Mal kam es wieder zu einer Gegendemonstration von Abtreibungsbefürwortern. Die Gesellschaft scheint gespalten. Eine ähnliche Polarität der Überzeugungen ist bei US-amerikanischen Lebensrechtbewegungen (Pro-Life) zu beobachten. Auch ihnen stellt sich eine Pro-Choice Bewegung entgegen, die sich für die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruches einsetzt. Die heutige Gesellschaft scheint also in Bezug auf die Abtreibung global zutiefst gespalten. Während der friedliche Berliner Schweigemarsch sich Sabotageversuchen und Blockaden, sowie obszönen Beleidigungen und Verunglimpfungen gegenübersieht, werden in Amerika von Seiten der Lebensrechtler Attentate auf Abtreibungsärzte verübt. Der Respekt vor ungeborenem Leben führt also zur Gewalt gegen schon geborenes Leben und umgekehrt. Die offizielle Gesetzeslage in Deutschland ist dabei zurzeit die Folgende: Nach §§218 und 219 StGB ist der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtwidrig, aber unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Der Schwangerschaftsabbruch ist dabei jedoch nur in den ersten 12-Wochen möglich. Eine Schwangerschaft darf darüber hinaus abgebrochen werden wenn sie Folge eines Kriminaldelikts ist oder eine medizinische Indikation vorliegt.[2]
Die Gemengelage in Bezug auf das Thema Abtreibung ist also gesellschaftlich und politisch aufgeladen und erschwert eine ethisch-differenzierte Standortbestimmung. In diesem Artikel soll dieses virulente gesellschaftspolitische Thema nun einmal von einer ganz anderen Perspektive aufgerollt werden, nämlich aus der Perspektive des Judentums. Wie argumentiert die jüdische Tradition, wenn es um die wichtigen Fragen geht, wie, „Wann beginnt menschliches Leben?“ und „Ab wann ist ungeborenes Leben unbedingt schützenswert?“
Judentum und Abtreibung
Das vorliegende Thema wird nun in zwei Schritten entfaltet. Als erstes wird nach der biblischen bzw. alttestamentlichen Evidenz für bzw. gegen Abtreibung gefragt und darauf folgend wird dann die jüdische Traditionsbildung in den Blick genommen.
Abtreibung und das Alte Testament – Ein Schlaglicht
Zunächst einmal gilt es festzustellen: Die Bibel sagt Nichts direkt zum heutzutage diskutierten „modernen“ Problem der Abtreibung. Doch auch wenn dieses „moderne“ Problem zutiefst von den neuen technischen Möglichkeiten bestimmt ist und diese in der Antike nun mal nicht vorhanden waren, heißt dies jedoch nicht, dass das Thema Abtreibung erst mit der Moderne aufkommt. Im Gegenteil: Auch zu früheren Zeiten wurden Kinder schon vor oder nach der Geburt ‚aussortiert‘ oder bei der Gefährdung der Frau im Leib der Mutter zerschnitten und getötet.[3] Des Weiteren kann der biblische Befund, wenn er schon in Bezug auf die konkrete Fragestellung der Abtreibung stumm bleibt, trotzdem auf die grundlegende Frage hin befragt werden inwiefern auch ungeborenes Leben schützenswert ist. Auch die Frage des Lebensbeginns kann von biblischer Sicht gestellt werden.
Der alttestamentliche Bibeltext, der der Abtreibungsthematik wohl am nächsten steht, ist wohl Exodus 21,22-25. Dieser beschreibt innerhalb der Gesetzesbestimmungen des Bundesbuches für das Volk Israel folgenden Tatbestand: „Wenn Männer sich raufen und dabei eine schwangere Frau stoßen, so dass ihr die Leibesfrucht abgeht, aber kein weiterer Schaden entsteht, so muss dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt werden, je nachdem, wie viel ihm der Eheherr der Frau auferlegt, und er soll nach dem Ermessen von Schiedsrichtern geben. Falls aber ein weiterer Schaden entsteht, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.“[4] Die Elberfelderübersetzung bietet sich zur Entfaltung des vorliegenden Bibeltextes an, da sie die Bedeutungsoffenheit des Textes adäquat ins Deutsche überträgt. Zumindest wenn man das „Abgehen“ der Leibesfrucht offenhält sowohl für die Deutung als Frühgeburt, bei dem das Kind überlebt, als auch für die Deutung als Fehlgeburt, bei der das Kind stirbt. Denn das Hebräische Verb yatsa (וְיָצְא֣וּ) heißt „herausgehen“ oder „herauskommen“ und kann eine normale Geburt ohne Komplikationen bezeichnen (Gen. 25,25; 38,28; Hi. 1,21).
Im vorliegenden Kontext, in dem es um Gewaltdelikte geht, ist jedoch auch die Deutung als Fehlgeburt eine zulässige. Weiterhin ist strittig worauf sich die Wendung „kein weiterer Schaden“ (וְלֹ֥א יִהְיֶ֖ה אָס֑וֹן) bezieht. Bezieht es sich auf die Frau, der trotz Fehlgeburt und totem Kind kein zusätzlicher Schaden oder gar der Tod zustößt? Oder bezieht es sich auf das frühgeborene Kind, dem trotz der Frühgeburt kein weiterer Schaden zustößt. Es ist leicht zu sehen, dass Abtreibungsbefürworter sich für letztere Deutung und Abtreibungsgegner sich für erstere Deutung aussprechen. Die vorliegende Bibelstelle bleibt also ambivalent und ist wohl nicht als Grundtext in der Abtreibungsdebatte heranzuziehen. Es kann hier lediglich von einer Minimalauslegung ausgegangen werden, die festhält, dass das Verursachen einer Frühgeburt (ob sie mit dem Tod des Kindes endet oder nicht) ein verurteilenswertes Delikt ist, das bestraft werden muss. Dabei sind keine starken Prinzipien, wie die unantastbare Menschenwürde des Kindes vor der Geburt herausgelesen, sondern lediglich die Beobachtung, dass das Verfahren mit ungeborenem Leben dem israelitischen Gesetz nicht gleichgültig war.
Anzumerken ist an dieser Stelle jedoch, dass sich der Talmud für die letztere Deutung ausspricht. Er deutet das „Unglück“ oder den „weiteren Schaden“ als den Tod der Mutter. Nur in diesem Falle handele es sich um Totschlag und die Talionsformel sei nur aus diesem Grund gerechtfertigt.[5] Diese talmudische Deutung deutet also auf eine unterschiedliche moralisch-qualitative Wertung von geborenem und ungeborenem Leben hin. Denn wenn das Töten des Kindes lediglich mit einer Geldstrafe, das Töten der Mutter und des Kindes jedoch mit der Todesstrafe geahndet wird, dann ist die Schlussfolgerung unumgänglich, dass das ungeborene Kind nicht den gleichen moralischen Status hat, wie der der Mutter. Diese talmudische Position kann durchaus als eine erste Weichenstellung für die weitere jüdische Tradition zum Thema Abtreibung angesehen werden, die im Folgenden behandelt wird.[6]
Jüdische Tradition und das Thema der Abtreibung
Um die jüdische Tradition differenziert zu beleuchten, sollen nun in Kürze zwei Teilfragen der Abtreibungsdebatte aus der Sicht der rabbinisch-jüdischen Tradition beantwortet werden. Zum einen: Wann wird im Judentum der menschliche Lebensbeginn festgesetzt? Und zum anderen: Wie stark ist das Prinzip des schützenswerten Lebens vor der Geburt in der Tradition des Judentums verankert?
Der Lebensbeginn
Zuerst einmal ist festzuhalten, dass in jüdisch-biblischer Tradition die Schaffung und Zeugung des Menschen eine Sache ist, an der Gott beteiligt ist. Gott „schafft“ jeden Menschen, und daher ist er schützenswert. So sind in diesem Zusammenhang einige Psalmen zu erwähnen, die davon sprechen, dass jeder Mensch schon im Mutterleibe von Gott gebildet wurde (Ps. 22,9-10; Ps. 139,13-14). Die Menschwerdung ist also ein von Gott hervorgerufenes Geschehen
und geschieht schon vor der eigentlichen Geburt. Doch trotz dieser wertschätzenden Sichtweise der Menschwerdung als göttliches Geschehen lässt sich in der jüdischen Tradition ein Punkt festlegen, an dem der Mensch zum Mensch wird. So taucht im babylonischen Talmud an einigen Stellen die Zählung von 40 Tagen auf. Vierzig Tage nach der Befruchtung erlangt der Fötus moralische Relevanz. Diese Bestimmungen finden sich im Kontext der Reinheitsvorschriften zur Geburt und Menstruation. In der Zeit vor dem vierzigsten Tag wird der Embryo in dieser Tradition als „bloßes Wasser“ bezeichnet. Diese Einschätzung hinsichtlich des Werdens des menschlichen Lebens ist als Grundtendenz in der jüdischen Tradition anzusehen, auch wenn es einige Talmudstellen gibt, die darauf hinweisen, dass der Mensch schon mit dem Beginn der Bildung im Mutterleib moralisch relevant ist.
Ist ungeborenes menschliches Leben dem geborenen Leben gleichgestellt?
Nachdem nun also klar ist, dass das moralisch zu achtende menschliche Leben erst etwa vierzig Tage nach der Befruchtung der Eizelle anzusiedeln ist, muss nun gefragt werden, ob dieses moralisch relevante, aber noch nicht geborene Leben in der jüdischen Tradition auch als moralisch gleichwertig mit geborenem Leben zu setzen ist. An dieser Stelle müssen Überlegungen aus dem jüdischen Strafrecht herangezogen werden. So wird beispielsweise bei der Gefährdung des Lebens der Mutter durch das ungeborene Kind, das Kind als Gefahr und Bedrohung angesehen, die – als ultima ratio – ‚beseitigt‘ werden muss. Das Kind darf also im Mutterleib getötet werden. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Mutter bei der unmittelbaren Geburt in Lebensgefahr schwebt, jedoch die Geburt schon fast vollendet ist (z.B. der Kopf des Kindes schon zu sehen ist, die Schwangerschaft schon weit fortgeschritten ist usw.). Hier kann das Kind nicht leichtfertig getötet werden, da es der Mutter in diesem Moment vom moralischen Wert her gleichgestellt ist. Es scheint also so, als ob das Kind im Leibe der Mutter zwar schützenswert ist, jedoch nur in eingeschränkter Weise. Erst mit der Loslösung von der Mutter, wird der Mensch zu einem autonomen Subjekt, das moralisch gleichwertig ist.
Diese Grundtendenz der jüdischen Wertung wird auch durch einen weiteren rechtlichen Spezialfall gestützt. Wenn beispielsweise eine schwangere Frau ein schlimmes Vergehen begangen hat und hingerichtet werden soll, so soll bei dieser Frau nach den jüdischen Gesetzesbestimmungen nicht gewartet werden bis sie ihr Kind geboren hat, sondern sie soll sofort, samt ihres noch ungeborenen Kindes hingerichtet werden. Die Grundtendenz scheint also zu sein: Bis zur Geburt ist das Kind rechtlich gesehen ein Teil der Mutter. Erst mit der Geburt erlangt der Mensch also den moralisch gleichwertigen Status im Vergleich zu anderen Menschen. Diese Deutung der jüdischen Tradition spielt also vor allem den Abtreibungsbefürwortern in die Karten, die behaupten, dass die schwangere Frau selbst über das Schicksaal ihres Kindes bestimmen darf. Nach dem Motto: „Mein Bauch gehört mir!“ Auch wenn dieses emanzipatorische Motiv keinesfalls in der jüdischen Tradition selbst implizit ist, ist es nicht schwer zu sehen wie Abtreibungsbefürworter solche Bestimmungen der jüdischen Tradition für sich instrumentalisieren könnten. So ist innerhalb der jüdischen Tradition gegen die emanzipatorische Lesart einzuwenden, dass trotz dieses eventuell etwas überraschenden Befundes in der jüdischen Tradition die Bildung des Menschen im Mutterleib trotzdem als ein Akt Gottes angesehen wird und somit auch das ungeborene Leben schützenswert und wertvoll ist und es keinesfalls allein der Besitz der Mutter ist über den sie frei verfügen kann. Von der unbedingten Menschenwürde, die von der Befruchtung der Eizelle an besteht, ist jedoch nicht oder nur sehr vereinzelt und in Nebenlinien der jüdischen Tradition die Rede.
Gesetzeslage in Israel
Angesichts dieser Lage der jüdischen Tradition ist es umso überraschender zu sehen, dass Abtreibung im Staat Israel bis 1977 grundsätzlich verboten war und demjenigen, der sie durchführte bis zu fünf Jahre Haft drohten.[7] Ab 1977 wurde jedoch eine Gesetzesnovelle beschlossen, die die Abtreibung unter einigen Bedingungen zuließ. Unter anderem fallen darunter Bedingungen (Indikationen), wie eine illegal oder durch Gewaltdelikt entstandene Schwangerschaft, eine schwerwiegende Erkrankung des Kindes, eine Gefährdung der Mutter oder aber äußerst schlechte familiäre oder soziale Folgen für die Familie. Auch die Schwangerschaft einer Frau über 40 Jahren kann straffrei abgebrochen werden. Die hallachische Sicht hat vor allem mit den beiden letzten Bestimmungen durchaus seine Probleme und stimmt der Gesetzeslage hier nicht uneingeschränkt zu.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Judentum in seiner Tradition eine aus christlich-ethischer Sicht durchaus überraschende Position zur Abtreibung von ungeborenem Leben einnimmt. Diese Sicht löst sich jedoch trotzdem nicht von den grundsätzlichen christlich-theologischen Grundeinsichten von der Schöpfung des Menschen im Mutterleib durch Gott und von der Schützenswürdigkeit des ungeborenen Lebens.
Bei der konkreten Bestimmung des Lebensbeginns können die christlich-ethische und die traditionell jüdische Position dabei jedoch durchaus divergieren. Gerade vor diesem Hintergrund sollte der christliche Abtreibungsgegner seine Argumente gegen die Abtreibung klar abwägen, ohne dabei zu unterstellen, dass die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs ein modernes Phänomen sei, das lediglich eine Modeerscheinung der heutigen Emanzipationsbewegung wäre. Bei dem möglichen Schwangerschaftsabbruch handelt es sich ohne Zweifel um eine schwerwiegende ethische Frage, bei der die Argumente im Für und Wider genau abgewogen werden müssen und dabei der biblische Befund der entscheidungsleitenden Basistexte genau evaluiert werden muss, bevor eine ethisch differenzierte Meinung gebildet wird. Ein jedes Einlassen auf die gesellschaftlichen Polaritäten von Gut und Böse, christlich und nichtchristlich, konservativ und emanzipiert ist hier oft nicht zielführend und daher zu vermeiden. Letztlich müssen die Argumente überzeugen, die gerade für Christen auch notwendigerweise eine biblisch-theologischer Verantwortung impliziert.
(tf)
Verwendete Literatur:
- Stassen, Glen H., Gushee, David P., Kingdom Ethics: Following Jesus in Contemporary Context, 2003.
- Willam, Michael, Mensch von Anfang an?: Eine historische Studie zum Lebensbeginn im Judentum, Christentum und Islam, Freiburg 2008.
- Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.), Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (Hg.), ,Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg‘ – Ethik im Judentum, Berlin 2015.
[1] http://www.marsch-fuer-das-leben.de/
[2] Vgl. Ethik im Judentum, 73.
[3] Für nähere Ausführungen zur Abtreibungspraxis und zur Theorie des Lebensbeginns in den verschiedenen Weltreligionen siehe: Willam, Michael, Mensch von Anfang an?: Eine historische Studie zum Lebensbeginn im Judentum, Christentum und Islam, Freiburg 2008 (im Folgenden wird vor allem auf die Abschnitte 78ff.; 174ff. Bezug genommen).
[4] Zitiert nach der Elberfelder Übersetzung.
[5] Vgl. Ethik im Judentum, 73.
[6] Es könnten auch weitere Bibeltexte herangeführt werden, die Gott als Bildner des Menschen im Mutterleib beschreiben. (Ps. 139, 13-14; Ps. 22, 9-10; Jeremia 1,5) Dies könnte auf den hohen moralischen Status der Ungeborenen als vollwertige Menschen hinweisen. Doch können Abtreibungsgegner beim Anführen dieser Bibelstellen das Genre der Textstellen für sich geltend machen: „Prochoice Christians aver that these passages are not scientific treatises or treatises on the moral status of fetal life. They are about God’s prevenient grace and knowldege. They affirm and celebrate prayerfully the godness of God and a purposeful human life as ordained by God“ (Stassen/Gushee, Kingdom Ethics, 218.)
[7] Vgl. Ethik im Judentum, 79.
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