Franz-Delitzsch-Preisverleihung 2013: Über den antisemitischen Immanuel Kant
Warum war Immanuel Kant Antisemit?
Diese Frage stand im Fokus, als am Freitag, 26. April, im Rahmen einer feierlichen Zeremonie des Instituts für Israelogie der diesjährige Franz-Delitzsch-Förderpreis an Dr. Joel R. White (Gießen) für seinen Aufsatz “The Tale of the 144.000 in Revelation 7 and 14: Old Testament and Intra-textual Clues to their Identity” sowie an Markus Voss-Göschel (Jena) für seine Arbeit “Zum Stellenwert vom theoretischen Antisemitismus in Immanuel Kants Religionsphilosophie” verliehen wurde.
Zu Beginn der im Plenarsaal der Freien Theologischen Hochschule stattfindenden Preisvergabe begrüßte Prof. Dr. Helge Stadelmann die Gäste und übergab das Wort an Institutsleiter Dr. Berthold Schwarz, welcher zunächst einmal den Namensgeber des Preises vorstellte: Franz Delitzsch (1813-1890) aus Leipzig, ein großer Kenner der rabbinischen Literatur, der das Neue Testament ins Hebräische übersetzte und dessen mit Carl Friedrich Keil erarbeitete Kommentarreihe in ihrer philologischen Genauigkeit eine Orientierung für die Arbeit des Instituts für Israelogie darstellt. Somit verleiht dieses seit 2007 einen Franz-Delitzsch-Preis sowie -Förderpreis für Arbeiten exegetischer, dogmatischer oder historischer Natur, die in herausragender Weise sachkompetent und in Übereinstimmung mit den Forschungsschwerpunkten des Instituts eine heilsgeschichtliche Israel-Theologie (Israelogie) fördern.
Ein besonderer Gruß wurde an Dr. Fritz May zu seinem 77. Geburtstag gerichtet, der das Institut seit dessen Gründung mit dem Verein „Christen für Israel“ unterstützte und erst mögliche machte. May bedankte sich mit den Worten, die 77 sei zwar eine „vollkommene Zahl“, er habe aber lange noch nicht alles erreicht. Sein Herz werde weiter für Israel schlagen, bis Gott selbst ihn in den Ruhestand rufe.
Nun ging es mit der von allen mit Spannung erwarteten Preisverleihung weiter: Da in diesem Jahr kein – für eingereichte Monographien, Examensarbeiten o.ä. angesetzter – Hauptpreis verliehen wurde, gab es dieses Mal zwei Stipendien für die Teilnahme an der Sommeruniversität in Beer Sheva, Israel, auf das sich Studenten der Freien Theologischen Hochschule Gießen seit einigen Monaten bewerben konnten. Die Überraschung war gelungen für Philipp Wiens und Colin Bergen, die von Prof. Dr. Stadelmann mit den Worten „Warum soll nur einer fahren? Ich glaube, sie kommen miteinander klar“ als Gewinner verkündet wurden. Die beiden jungen Männer werden während ihrer vorlesungsfreien Zeit in Beer Sheva Hebräischkurse belegen und durch Vorträge sowie Ausflüge Land, Kultur und das Judentum besser kennen lernen werden.
Anschließend übernahm Institutsleiter Berthold Schwarz die Verkündigung der Gewinner des Franz-Delitzsch-Förderpreises. Dr. Joel R. White wurde für seinen Aufsatz über die famösen 144.000 aus Offenbarung 7 und 14, der demnächst in einem Sammelband der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ausgezeichnet. Dieser lohnenswerte Diskussionsbeitrag habe die Jury überzeugt, weil er entsprechend dem Anliegen des Instituts „erst die Fakten“ und „dann die Meinung“ darstellt und den wissenschaftlichen Austausch über eine herausfordernde Bibelstelle fördert.
White bedankte sich in einer kurzen Rede für die Auszeichnung, die er als „Würdigung der andauernden Wichtigkeit der Exegese“ versteht, welche aus aus einem kritischen Hinterfragen systematisch-theologischer Entwürfe bestehe. Nach seiner Deutung, die sich von dem typisch reformierten Ansatz, aber auch vom klassischen Dispensationalismus unterscheidet, stellen die 144.000 in der Offenbarung judenchristliche Gläubige im 1. Jh. dar. Dieser bereits von Victorinus von Pettau (2. Jh.) und vereinzelten Forschern des 19. und 20. Jh. vertretenen Auslegung hofft er im 21. Jahrhundert durch seinen Aufsatz zu einer Wiederbelebung zu verhelfen.
Dem Theologiestudenten Markus Voss-Göschel aus Jena wurde für seine Arbeit über Immanuel Kants Antisemitismus der zweite Franz-Delitzsch-Förderpreis überreicht. Hierbei handele es sich um einen grundlegend verschiedenen Ansatz, welcher religionsphilosophische Aspekte aufzeige, erläuterte Schwarz und bat den Preisträger mit der Aufforderung, dem Publikum zu erklären, „was man über Kant sonst noch so zu lernen hat außer dem, was in der Philosophieprüfung abgefragt wird“, zum Rednerpult.
Diese Aufforderung ließ Voss-Göschel nicht unbeantwortet und ließ ein von großem Engagement und viel Feingefühl geprägtes Impulsreferat über die eher unbekannten Seiten des großen Philosophen folgen. Gesucht hatte der Theologe zu Beginn seiner Arbeit Kants Verständnis von Religion, gefunden einen radikalen Antisemitismus bei einem Immanuel Kant, den er während des Studiums seiner Schriften als wesentlich komplexer und vielschichtiger kennen lernte, als gemeinhin angenommen wird.
Was viele von Kant nicht kennen, seien beispielsweise die Stellen, in denen er Juden als „Vampyre der Gesellschaft“ bezeichnet und von einer dringend erforderlichen „Euthanasie des Judentums“ spricht – und das, obwohl der Königsberger Philosoph gute Beziehungen zu Juden wie Moses Mendelsohn und Marcus Herz pflegte. Wie passt das zusammen? Dieser Frage, so erzählt Voss-Göschel weiter, widmete er sich fortan in seinen Recherchen: Wie kommt es, dass ein eigentlich so menschenfreundlicher und klarer Denker wie Kant derart brutale Äußerungen von sich gab, dass sich später sage und schreibe sogar Adolf Eichmann in Jerusalem auf ihn berufen konnte?
Darauf verstand der Preisträger in den kommenden 40 Minuten eine Antwort zu geben, die studentische Zuhörer und Akademiker gleichermaßen fesselte. So kommt Voss-Göschel zunächst zu der Erkenntnis, dass zu differenzieren ist zwischen Kants positiver Beziehung zu einzelnen Juden sowie seiner prinzipiellen Aversion gegenüber dem Judentum als solches, die offenbar aus seinem komplexen Religionsverständnis resultierte. Deshalb „nur“ ein theoretischer Antisemitismus.
Den Zusammenhang zwischen Kants Religionsphilosophie und seinen judenfeindlichen Aussagen erläuterte Voss-Göschel nun mit Hilfe des folgenden Schemas: Das Christentum als geoffenbarte / historische Religion, die sich auf mehrere Offenbarungsereignisse stützt, sei zwar gut, beinhalte aber viele Elemente, die weder überprüfbar wahr, noch praktisch oder moralisch nützlich seien, da es aufgrund seines historischen Charakters keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen könne. Wie sollen wir zum Beispiel sicher wissen, dass die Auferstehung wahr ist, wenn wir nicht dabei waren, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden?
Kants Schlussfolgerung lautet: Es muss alles Geoffenbarte, weil zu konkret, und alles Historische, weil zu begrenzt und materiell, von der christlichen Religion „weggeschnitten“ werden. Was bleibt, ist eine von jeder Offenbarung abstrahierte Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Doch selbst zu dieser, so resümierte der Theologe aus Jena Kants Argumentation, habe ein Mensch von den Fidschi-Inseln, der weder die Bibel besitzt, noch Missionaren begegnet, keinen Zugang. Es müsse deshalb etwas geben, dass jeder Mensch zu jeder Zeit und an jedem Ort erkennen, dass jeder aus sich selbst heraus tun kann, damit eine Gottesbeziehung entsteht.
Wiederum setzt also der Philosoph die Schere an und erhält einen reinen Religionsglauben, der sich fortan einzig und allein um den moralischen Bezug dreht. Denn in theoretischen Fragen könnten die Meinungen divergieren, in moralischen nicht. Für Kant wird Glaube zu einem moralischen und Moral zu einem religiösen Begriff. Ein gläubiger Mensch ist für ihn derjenige, der der menschlichen Sinnlichkeit Grenzen und somit Prioritäten zugunsten der moralischen Besserung setzt. Ungläubig ist dagegen derjenige, der unsittlich handelt.
Aus diesen Überlegungen, so erläuterte Voss-Göschel behutsam, aber bestimmt, folgt für den Philosophen der Aufklärung die folgende Systematisierung und Einordnung der religiösen Haltungen – und hier nähern wir uns langsam aber sicher den Gründen für die kantischen Ressentiments wider das Judentum.
So sei stets zu fragen, ob ein Mensch eine Grundhaltung mit oder ohne moralischen Bezug habe, und ob diese Haltung unstatutarisch, das heißt, ohne Regeln, eher nach Gefühl, oder aber statutarisch, also kasuistisch, auf Regeln und Gesetze fixiert, funktioniere. Daraus ergeben sich für Kant die folgenden vier Möglichkeiten:
1. Ist jemand auf Moral bedacht, und zwar so sehr, dass er keine Gesetze nötig hat, stellt dies den reinen Religionsglauben dar.
2. Ist jemand auf Moral bedacht, benötigt aber dazu Gesetze, handelt es sich um die kultische Religion des Gunsterwerbs. (Hierbei gehe es in erster Linie um die Gunst, nicht um den Betreffenden selbst, es sei deshalb kein Glaube, sondern Religion.)
3. Ist jemand nicht auf Moral bedacht und befolgt auch keine Gesetze, ist er ein Anarchist oder Freigeist.
4. Ist jemand nicht auf Moral bedacht, hält sich aber gleichzeitig an Gesetze, die niemandem etwas bringen, dann muss er wohl ein Jude sein.
So wird das Judentum für den Philosophen zur abscheulichsten aller Religionen, weil zweierlei fehlt: Zum einen der moralische Bezug, denn das Judentum könne einen Menschen nicht moralisch verbessern und diene dem Nächsten nicht, da die Gesetze keinen humanitären Aspekt aufweisen, und zum anderen eine Gesinnungsethik: Kant meint damit das unstatutarische Denken, eine intrinsische Motivation, ein Pflichtbewusstsein des Menschen – statt äußerer Mittel wie einem Gesetz, mithilfe derer man sich disziplinieren müsse.
Wieso aber ordnet Kant das Judentum in diese Kategorie ein und spricht ihm jeden moralischen Bezug ab? Diese Frage schwirrte sicher in den Köpfen der gespannten Zuhörer herum. Markus Voss-Göschel beschreibt für alle verständlich das kantische Bild von Judentum. Der Philosoph habe sich der harten Kritik der Ersatztheologie angeschlossen, in der das Judentum Gesetz und das Christentum Freiheit bedeutet. Für ihn ist der Gott des Judentums einer, der – unabhängig davon, wie der Mensch sich fühlt, was es bringt, ob es dem Verstand entspricht – die bloße Verfolgung von Geboten bezwecke, aber keine Besserung des Menschen an sich. Solch ein Gott aber sei „doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben“. In diesem Sinne stelle das Judentum nicht viel mehr als eine autoaggressive Weltanschauung dar, sei aber – durch den fehlenden moralischen Bezug – „eigentlich gar keine Religion“.
Denn Religion, wir erinnern uns, ist für Kant nicht mehr und nicht weniger als Moral mit Gottesbezug und somit stets anthropozentrisch. Gottesdienst ohne Menschendienst verfehle seinen Zweck, und letzteren weist das Judentum seiner Kenntnis und Bibellektüre nach nicht auf.
Voss-Göschel kommt zum Schluss: Kann man nun Immanuel Kant einen Vorwurf für seine Überzeugung machen? Ja, könne man. Denn für den sonst so redlichen und intellektuellen Philosophen kamen eben nicht – gemäß dem Motto des Instituts für Israelogie – erst die Fakten und dann die Meinung, sondern stand seine Grundhaltung an erster Stelle. Er habe sich nicht die Mühe gemacht, seine jüdischen Freunde zu fragen, worum es im Judentum geht, sondern auf eklatanten Falschinformationen aufgebaut. Und er habe das getrennt, was in unserem Leben im Grunde eins und untrennbar ist: abstrakt und konkret, emotional und rational, heilig und sündig zugleich…
Somit war sein Antisemitismus Folge eines Systemzwangs. Das Judentum passte nicht in sein System, deshalb ließ er Fehlinformation und unüberprüfte eigene Prämissen zu, blieb auf einem Auge blind, um es doch in seinem System unterzubringen. Doch weil er abstrakt und konkret so weit auseinandergerissen hatte, konnte sich das Abstraktum dem Vorurteil nicht mehr entziehen. Und wo Dialog nicht mehr möglich und gewünscht ist, folgt Polemik, so Voss-Göschel über Kants Denkmuster.
Der Preisträger stellte abschließend allen die Frage: Bin ich bereit meine Meinung zu revidieren, wenn ich feststelle, dass diese nicht zu den Fakten passt?
Voss-Göschel beschreibt den großen Immanuel Kant als in einem Käfig gefangen, den er sich selbst gebaut hat und aus dem er nicht mehr auszubrechen vermochte. Was dem Philosophen gefehlt hat, war Freiheit, und zwar eine gerichtete Freiheit, die es ermöglicht, den Blick zu weiten und die Realität zuzulassen – ob sie einem passt oder nicht. Denn letztendlich müssen wir unsere Schlüsse stets aus der Realität, und nicht aus unserer Meinung ziehen.
So ist es dem Gewinner des Franz-Delitzsch-Förderpreises in diesem Vortrag gelungen, Kants aggressive Verachtung des Judentums im Rahmen seiner Religionsphilosophie verständlich zu machen, ohne seine Argumentation und Ergebnisse auch nur ein Stück weit gutzuheißen.
Seine Arbeit bietet eine grundlegende Erklärung zu dem – zunächst einmal kontraintuitiven, aber doch so wirkmächtigen – Antisemitismus der Aufklärung, und in diesem Sinne betonte Prof. Dr. Stadelmann im Anschluss: Es habe nicht immer alles so grob begonnen, wie es schließlich endete, im Gegenteil, der Antisemitismus und der Antijudaismus der deutschen Geschichte begannen abstrakt, fein und durchdacht – und doch von Anfang an defizitär. Dafür sei Immanuel Kant ein Beispiel, als großer Denker, der am Anfang eines Jahrhunderts, in dem die Juden gedacht hatten, sie wären nun endlich etabliert, angekommen, fatale Impulse setzte.
Solche Prozesse zu verstehen, könne helfen, die gleichen Fehler nicht zu wiederholen, und so dankte der Rektor der FTH Gießen Voss-Göschel für dessen rundum gelungenen Versuch, Kant einmal verständlich zu erklären.
Stadelmann beendete die Feierlichkeiten mit einem Appell im Sinne des Gehörten:
Eine aus Fakten resultierende Meinung sei immer konstruktiver, und so sei beispielsweise die Begegnung mit messianischen Juden, in deren Genuss die beiden Studierenden der Sommeruniversität gelangen werden, ein in diesem Sinne sehr förderliches Geschenk. Genauso solle auch der Franz-Delitzsch-Preis immer wieder einen Ansporn darstellen, sich mit dem zu beschäftigen, von dem wir wissen, dass es Gott ein Anliegen ist: sein erwähltes Volk.
Umrahmt wurden die einzelnen Programmpunkte der Preisverleihung mit inspirierenden und musikalisch hochwertigen Interpretationen von Viktor Martens (Flügel) und Denis Grams (Saxophon), darunter Chopins „Fantaisie Impromptu“ und Beethovens „Pathétique II“. Gemütlich und von anregenden Gesprächen geprägt klang die diesjährige Franz-Delitzsch-Preisverleihung schließlich bei Kaffee und Kuchen aus.
Wir freuen uns auf das nächste Jahr!
(jp)
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