Zeit zum Schweigen

Ein Gastbeitrag von Michael Schneider (zuerst abgedruckt in „Zeit & Schrift“ 5/ 2023, S. 3),

veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors zur Weiterverwendung

 

Die junge Biologin Marie-Luise Vollbrecht, bekannt durch ihr mutiges Eintreten für die Zweigeschlechtlichkeit, schrieb am 11. Oktober 2023 auf Twitter: „Entschuldigung, dass ich noch nicht meine eigenen deepen Analysen zum Nahost-Konflikt geteilt habe. Ich hänge ja so der Theorie an, dass es Wichtigeres gibt, als dass jeder erst mal seine Meinung zu allem sagt.“1Rechtschreibung und Zeichensetzung normalisiert.Knapp 200 Lesern (darunter auch mir) sprach sie damit aus der Seele.

Unzählige Menschen meinen derzeit die Öffentlichkeit mit ihren Ansichten zum Hamas-Angriff auf Israel beglücken zu müssen, vor allem in den sozialen Medien. Man fühlt sich an das legendäre Karl-Valentin-Zitat erinnert: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“

Auch Christen sind von diesem Drang nicht ausgenommen. Da gibt es solche, die genau wissen, wie die aktuellen Ereignisse in den endzeitlichen Ablaufplan einzuordnen sind; andere beschränken sich auf theologische Grundsatzaussagen, die für sich genommen gar nicht falsch sein mögen, aber jede Empathie für das Schicksal der betroffenen Menschen vermissen lassen. So schrieb ein von mir sonst sehr geschätzter Bruder am 10. Oktober in der Facebook-Gruppe So-Called (Plymouth) Brethren:2Alle folgenden Übersetzungen aus dem Englischen von mir (Michael Schneider).

„Es gibt hier keine richtige oder falsche Seite. Israel als Nation hat seinen Messias, den Herrn Jesus, verworfen, aber sie werden einen anderen annehmen, der in Seinem Namen kommt, den Antichrist. Können wahre Christen diejenigen unterstützen, die Christus abgelehnt haben, aber den Antichrist annehmen werden? Die palästinensische Sache ist nicht richtiger als die israelische (oder umgekehrt), sondern Palästinenser und Israelis müssen sich gleichermaßen (individuell) dem Herrn Jesus als ihrem Retter zuwenden.“

Besonders das zuletzt Gesagte wird niemand bestreiten wollen, aber sind das insgesamt die richtigen Worte in einer Situation, in der gerade Hunderte von Zivilisten auf teils bestialische Weise ermordet wurden?

Noch schockierender wirkte eine Äußerung des bekannten amerikanischen Pastors John MacArthur, die am 12. Oktober auf der Instagram-Seite Reformed Theology Hub geteilt wurde:

„Neulich sagte [der jüdische Journalist] Ben Shapiro, dass die Hamas bald erfahren werde, wie sich Gottes Zorn anfühlt … Die Realität ist, dass Israel gerade erlebt, wie sich Gottes Zorn anfühlt … Sie haben sich für die Lage entschieden, in der sie sich befinden, weil sie den Messias abgelehnt haben.“

Das ging selbst einigen MacArthur-Anhängern zu weit. „Ich bin ein großer Fan von JMac, aber diese Aussage ist unsensibel“, schrieb da jemand, und ein anderer ergänzte: „Schreckliches Timing für eine so krasse Äußerung inmitten von Leid und Gräueltaten.“ Sollte man – so ein dritter Kommentator – als Christ mit Einfluss seine Internetreichweite wirklich dazu nutzen, „um den Hunderten und Aberhunderten von Familien, deren Frauen, Kinder und Babys nur wenige Tage zuvor vergewaltigt, ermordet, enthauptet und geschändet wurden, zu sagen, dass sie es verdient haben“?

Es gibt eine „Zeit zum Reden“ und eine „Zeit zum Schweigen“ (Pred 3,7 NeÜ). Vielleicht ist jetzt einmal nicht die Zeit zum Publizieren theologischer Richtigkeiten, sondern die Zeit zum Trauern und Mitfühlen – und vor allem die Zeit zum Gebet. „Bittet um den Frieden Jerusalems!“, möchte man mit Ps 122,6 ausrufen; und: „Mögen beschämt werden und zurückweichen alle, die Zion hassen!“ (Ps 129,5).

 

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    Alle folgenden Übersetzungen aus dem Englischen von mir (Michael Schneider).

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