Ziemlich beste Freunde? Wie Gemeinde und Israelfreunde doch noch zusammenfinden

Ein Gastbeitrag von Tobias Krämer (Christen an der Seite Israels, CSI)

 

Philippe führt das perfekte Leben. Er ist reich, adlig und gebildet, hat allerdings ein Handicap: Philippe sitzt im Rollstuhl. Eines Tages taucht Driss auf, ein junger Mann, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das charmante Großmaul eignet sich eigentlich nicht für den Job als Pfleger. Doch seine freche Art macht Philippe neugierig. Spontan engagiert er Driss. Die beiden verstehen sich zunächst überhaupt nicht. Doch sie raufen sich zusammen und so entsteht eine wunderbare Freundschaft, die Philippe und Driss für immer verändern wird. So die Story in dem Film Ziemlich beste Freunde aus dem Jahr 2012 – eine schöne Geschichte mit berührenden Momenten. Diese Story erinnert mich immer wieder an das Verhältnis zwischen Gemeinden und Israelfreunden, das nicht selten einer Hassliebe glich, Höhen und Tiefen hatte – und vielleicht doch noch ein gutes Ende nimmt. Diese Hoffnung habe ich und darüber will ich nun schreiben.

 

Das 20. Jahrhundert als Geburtsstunde der weltweiten Israelbewegung

Israelfreunde beriefen sich stets auf bestimmte Bibelstellen, in denen Gott eine eschatologische Wiederherstellung Israels verspricht.

Israelfreunde hat es immer gegeben, aber es gab nie viele. Dies hat seinen Grund darin, dass die Kirche Jesu Christi schon früh alle Verbindungen zu Israel und zum Judentum gekappt hat. Seither wächst die Christenheit sozusagen ohne Israelbezug heran. Das Judentum wurde zusehends zu einer fremden Größe, die oft verzerrt dargestellt und abgelehnt wurde. Vielfach glaubte die Christenheit sogar, das neue und wahre Israel zu sein – und auf die Juden verächtlich herabschauen zu dürfen. Durch die Jahrhunderte gewann stets nur eine Minderheit, die die Bibel genauer studierte, eine andere Haltung. Sie wusste, dass Israel noch immer Gottes erwähltes Volk war, und wartete darauf, dass Gott Israel wiederherstellen würde. Denn das wird bei den Propheten auf vielen Seiten verheißen (z. B. Jes 59+60; Jer 30-33; Hes 36-39).

Im 20. Jahrhundert kam eine neue Dynamik in die Gruppe der Israelfreunde. Der Grund war, dass das 20. Jahrhundert eine Umbruchszeit sondergleichen war. Auf der einen Seite hat es den fürchterlichen Holocaust gegeben, in dem 6 Millionen Juden, darunter 1,5 Millionen Kinder, umgebracht wurden. Die Christenheit sah weithin tatenlos zu oder machte sogar mit; nicht wenige begrüßten Hitler gar, als ob er der Messias wäre. Diese Absurdität führte in der Christenheit zu einem neuen Nachdenken: Wie hatte es zu diesem Versagen kommen können? Welche Israellehre herrschte in den Gemeinden und war sie mit dafür verantwortlich? Als Ergebnis kann man vereinfacht sagen: Der Gott der Bibel ist um ein Vielfaches israelfreundlicher, als es die Christenheit war und ist. Hier besteht Korrekturbedarf. Bis heute.

David Ben-Gurion verlas die Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates.

Ein zweites historisches Ereignis hat ebenso für ein Aufhorchen gesorgt: Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel wieder gegründet. 1800 Jahre, nachdem er von den Römern zerstört und die Juden in alle Welt zerstreut worden waren. Dies war aufsehenerregend und einzigartig in der Geschichte der Menschheit! So mancher fragte sich, wie so etwas überhaupt möglich war und ob die Staatsgründung auch eine theologische Dimension hatte. Diese Frage war für Bibelkenner nicht schwer zu beantworten. Die Propheten haben in großer Breite vorhergesagt, dass Gott am Ende der Tage sein Volk Israel aus der ganzen Welt wieder zurückholen und in seinem Land sammeln würde. Israel sollte als Nation wieder auferstehen und auch geistlich erneuert werden. Das ist geradezu eine Hauptlinie der biblischen Prophetie!

Dass nun anfing zu geschehen, was Jahrtausende zuvor verheißen worden war, löste in vielen christlichen Herzen Begeisterung aus. Zugleich spürte so mancher auch die Verantwortung, nach der schrecklichen Vergangenheit den Juden anders zu begegnen und ihnen einfach nur Gutes zu tun. Beides – der Holocaust wie die Staatsgründung – führten dazu, dass in den kleinen Kreis der Israelfreunde neue Dynamik kam. Heute ist aus den Israelfreunden eine weltweite, kraftvolle und gut vernetzte Bewegung geworden.

 

Das Anliegen der Israelfreunde

Für Israelfreunde war und ist es unbegreiflich, dass der weitaus größte Teil der Christenheit überhaupt nicht reagierte. Weder auf den Holocaust noch auf die Staatsgründung Israels noch auf die biblischen Texte, die neuen Fragestellungen oder neue Forschungsergebnisse. Die meisten Christen taten so, als wäre nichts gewesen. Es gab zwar verschiedene kirchliche und gesellschaftliche Initiativen, aber an der Basis der Gemeinden kam meist nicht viel an. Was um Himmels willen muss denn noch geschehen, dass man aufwacht? Was könnte denn markanter sein als Holocaust und Staatsgründung, sodass Christen ins Nachdenken kommen? Das waren die Frage vieler Israelfreunde. Am Anfang war die Stimmung noch positiv. Es war ja klar, dass die Israeldimension der Bibel erst wieder entdeckt werden musste. Dafür brauchte es Zeit, Informationen und Lehre. Biblische Israellehre musste neu entwickelt werden, denn es gab sie ja kaum. Zugleich musste geklärt werden, welche Verantwortung die Christenheit gegenüber Israel und den Juden hat.

Schnell war klar: Das Verhältnis zwischen Christen und Juden musste grundsätzlich revidiert werden. Die Juden mussten als erwähltes Gottesvolk anerkannt werden (vgl. nur Röm 11.28), die alte Judenfeindschaft musste durch eine herzliche Freundschaft ersetzt werden, aus der Geschichte mussten Konsequenzen gezogen werden und man sah sich verpflichtet, nun – nun endlich! – die Juden zu achten und zu Israel zu stehen. Umkehr und geistliche Erneuerung waren angesagt. Das war die Christenheit Gott und den Juden schuldig. Israelfreunde machten sich mit Freude ans Werk. In der Annahme, dass die Gemeinden dies begrüßen würden oder zumindest dafür offen wären. Die Enttäuschung war riesig, als man feststellte, dass dies zum größten Teil nicht der Fall war. Die Anliegen der Israelfreunde fanden wenig Anklang. Kein Interesse, keine Zeit, keine Relevanz – das war die Grundbotschaft vieler Gemeinden in Richtung Israel(freunde).

 

Ablehnung und Reaktionen

Tobias Krämer ist Theologe und arbeitet bei Christen an der Seite Israels, um Gemeinden dieses wichtige Thema näher zu bringen.

Die Reaktionen auf diese Ablehnung waren unterschiedlich. Manche Israelfreunde sammelten sich in eigenen Gebetsgruppen, andere gaben auf und zogen sich aus ihren Gemeinden zurück, wieder andere konnten sich mit der Situation nicht abfinden und drängten darauf, Gehör zu finden. Dies führte dazu, dass sich einige radikalisierten: Aus Israelfreunden wurden Israelfreaks. Sie versuchten, mit der Brechstange zu erreichen, was auf freundliche Weise nicht zu erreichen war. Manche lebten im Alten Testament und verloren zusehends den Bezug zum Neuen. Jüdische Gebräuche zogen ein. Einige verloren den Glauben an Jesus, andere gebärdeten sich eigenartig religiös. Dies wirkte auf Gemeinden und Pastoren abstoßend.

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich selbst noch keinen Bezug zu Israel hatte. Ich war ausgebildeter Theologe, Pastor und Bibellehrer, hatte aber keine Ahnung von Israel. Damals waren mir zwei Dinge klar: Dass ich eine Bildungslücke hatte, die ich eines Tages schließen musste, und dass das, was jene Israelfreaks lebten, für mich nicht in Frage kam. Die Zeit ging ins Land. Ich wusste zwar, was ich nicht wollte, schob aber auch die Entscheidung, mir biblisches Israelwissen anzueignen, auf die lange Bank. Jahr für Jahr war anderes wichtiger. Dies bereue ich heute, denn ich bin damals meiner Verantwortung als geistlicher Leiter nicht gerecht geworden.

Die Fronten zwischen Gemeinden und Israelfreunden verhärteten sich zusehends. Die Gemeinden wehrten den Anspruch der Israelfreunde, dass Israel in den Gemeinden ein Thema werden müsse und Umkehr nötig sei, oft recht entschieden ab, während Israelfreunde ihn umso energischer einforderten. Der Ton wurde rauer, man griff sich gegenseitig an und machte sich Vorwürfe. Entfremdung trat ein.

 

Gemeinden und Israelfreunde heute – der Status quo

Nach meiner Einschätzung hat sich heute die Lage entspannt, aber nicht grundlegend verändert. Der Umgang miteinander ist freundlicher geworden. Die Ablehnung der Israelthematik in den Gemeinden ist nicht mehr so entschieden, das Drängen der Israelfreunde, Israel zum Thema zu machen, nicht mehr so vehement. Man sucht nach Wegen, miteinander im Gespräch zu bleiben und die gegenseitige Wertschätzung aufrecht zu erhalten. Das ist gut. Positiv ist auch, dass sich vermehrt Gemeinden öffnen und sich mit der Israelthematik auseinandersetzen. Das Empfinden, dass Israel eine geistliche Dimension hat, wächst, und die Verengung auf politische Fragen weicht einer ganzheitlicheren Sicht. Dies sind zweifellos Fortschritte, die zu würdigen sind. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gemeinden in Deutschland in Sachen Israel nicht gut aufgestellt sind. Wenn ich in die Gemeinden komme, dann höre ich oft die ehrliche Aussage: „Komm mal zu uns und erzählt uns was über Israel, denn wir wissen so gut wie nichts!“ Und so ist es dann auch.

Nun ist es nicht damit getan, dass ein Israelexperte einmal für ein paar Stunden in eine Gemeinde kommt. Verstehen muss über die lange Strecke wachsen, Lehre muss verstoffwechselt werden, Zusammenhänge müssen begriffen und Bibelstellen eingeprägt werden. Da genügt es nicht, ein Wochenende einen externen Sprecher einzuladen. Der Missstand ist eigentlich offensichtlich, doch ist es noch immer so, dass man ihn vielerorts nicht ansprechen darf. Auch gute und feine Israelfreunde, die sich in der Gemeinde einbringen, fleißig mitarbeiten und ihren Zehnten geben, finden mit ihrem Anliegen nicht wirklich Gehör. Man ist zwar freundlich zu ihnen, ignoriert sie unterm Strich aber und ordnet sie in die Kategorie ein: gute Leute, aber eben mit Israelmarotte. Das ist in der Sache nicht angemessen und bringt jene Geschwister in Not. Was ist zu tun?

 

Die Verantwortung beider Seiten

Zunächst einmal muss den Gemeindeleitungen wieder neu bewusstwerden, dass sie Verantwortung für die Lehre haben. Es kann nicht sein, dass Prediger und Predigerinnen vor allem ihre Lieblingsthemen verkündigen und das, was die Leute hören wollen. Die Aufgabe besteht darin, die ganze Bibel zu lehren. Systematisch. Alle Themen. Die Christen müssen ein breites und tragfähiges Fundament an Bibellehre bekommen, denn nur so gelangen sie zur Reife und zu Mündigkeit. Dafür sind Wortverkündiger, Pastoren und Gemeindeleitungen verantwortlich. Wenn nun entscheidende Teile ausgelassen werden, dann fehlt nicht nur etwas, sondern die ganze Lehre ist betroffen. Die innere Balance stimmt nicht mehr, die Statik des Lehrgebäudes wird schief. Das heißt: Wo Israel fehlt, fehlt wirklich was.

Theologen und Pastoren stehen in der Verantwortung, die gesamte Bibel zu vermitteln – nicht nur beliebte Texte.

Sich ein fremdes Thema wie Israel zu erobern, mag Arbeit bedeuten. Vor allem dann, wenn man diesem Thema im Theologiestudium nie begegnet ist und sich auch danach nie näher damit beschäftigt hat. Aber das darf kein Hinderungsgrund sein. Zumal die Arbeit schon vielfach geleistet worden ist. In den Dutzenden von Israelwerken, die es in Deutschland gibt, liegt alles vor, was gebraucht wird. Man muss es nur abrufen. Das ist die Aufgabe der Gemeindeleitungen und Pastoren. Israelfreunde hingegen sollten verstehen lernen, dass Gemeinden eine Vielzahl von Themen abzudecken haben. Die Bandbreite ist riesig und alle Themen sind wichtig. Die Erwartungen, wie stark die Israelthematik im Kontext einer Gemeinde repräsentiert sein sollte, sind unter Israelfreunden oftmals zu hoch. Manche Pastorenkollegen haben mir im Hinblick auf Israelfreunde schon gesagt: „Ich kann machen, was ich will, es ist einfach nie genug.“ Das ist nicht gut. Gemeinden können Israel nicht so intensiv behandeln, wie Israelfreunde das tun – und sich wünschen. Das geht über den Rahmen des Möglichen hinaus.

 

Wie´s doch noch was werden kann

Was es braucht, ist Verständigung. Die Gemeinden sollten das Themenfeld Israel nicht länger ignorieren, sondern sich ein biblisches Fundament an Lehre und grundlegende Informationen aneignen. Anders geht es einfach nicht. Israel sollte zu einem Thema werden, das beständig mitläuft und präsent ist, und das ist gar nicht so schwer. Genauso selbstverständlich sollten Israelfreunde begreifen, wie vielfältig die Aufgaben sind, die die Gemeinde hat. Und sie sollten mit anpacken. Auch ein Israelfreund kann beim Weihnachtsbazar mithelfen, Kranke besuchen oder einen Hauskreis leiten.

Für meine Begriffe ist es an der Zeit, Integrationsarbeit zu leisten. Das Themenfeld Israel sollte in die Verkündigung, die Lehre und das Leben der Gemeinde integriert werden. Beständig und konsequent. Umgekehrt sollte ein biblisches Gemeindeverständnis in den Herzen der Israelfreunde integriert werden. Genauso beständig und genauso konsequent. Wenn beide Seiten gegenseitig ihre Anliegen integrieren, ist tatsächlich ein neuer Punkt erreicht. Ich glaube, dass es dann mit Israelfreunden und Gemeinde doch noch was werden kann. Trotz der holprigen Vorgeschichte.

Daraus wiederum würde sich eine nicht geringe Segens- und Heilungsperspektive ergeben. Die kann ich nur kurz andeuten:

  • Wenn Ortsgemeinden und Israelfreunde zusammenfinden, entstehen Einheit und geistliches Wachstum. Das trägt zum Gedeihen des Leibes Christi bei (Ps 133,1; 1 Kor 12,25; Eph 4,13).
  • Wenn Christen in ein geklärtes Verhältnis zum Judentum bzw. zu Israel finden, finden sie neu Zugang zu ihren Wurzeln. Das stärkt ihre geistliche Identität (Röm 11,17-24).
  • Wenn die Gemeinde Jesu wieder mit reinem Herzen die Liebe Gottes zu Israel ausstrahlt, kann sie trotz der Vorgeschichte noch zu einem Zeugnis werden. Zu einem Zeugnis, das Juden auf Jesus hinweist (Röm 11,11-15).

Die Israelthematik ist ein Weg, Quellen des Segens und der Heilung zu erschließen, indem man selbst zum Segen des jüdischen Volks wird (vgl. 1 Mo 12,3). Wäre es nicht wunderbar, gerade so zu einem Wohlgeruch Christi zu werden (2 Kor 2,14)?

 

Tobias Krämer ist Diplomtheologe und lebt im Großraum Stuttgart. Jahrelang war er Pastor und Theologiedozent und ist nun bei „Christen an der Seite Israels e.V.“ tätig (www.csi-aktuell.de). Parallel dazu ist er Berater von Gemeinden und Führungskräften. Seine Leidenschaft ist es, Probleme zu lösen.

 

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