Zeuge eines Wunders Teil 2

Warum Yad Vashem ein Muss für jeden und insbesondere für Christen ist

Ein Erfahrungsbericht von Kristina Stegemann

 

Bohrende Fragen. Zitternd stehe ich dort in der heißen Sommersonne Israels und versuche, nach dem Gesehenen und Gehörten wieder in der Gegenwart anzukommen. Ich stehe dort als eine Frau, die in dem Kulturraum und Land aufgewachsen ist, in dem der Holocaust seinen Anfang nahm, in dem die Strategien für die sog. „Endlösung der Judenfrage“ erdacht und umgesetzt wurden. Mein Heimatland war das Heimatland vieler der Juden, deren Geschichte ich gerade gelesen und gehört habe, doch wurden sie von dort vertrieben oder deportiert – einfach, weil sie Juden waren.

Ausblick auf den Jerusalemer Wald von der Balustrade am Ausgang des Museums aus.

Wie gehe ich damit um? Wie gehe ich damit um, dass meine Großeltern zwar keine Nationalsozialisten waren, aber sich auch nicht für die Juden in Deutschland einsetzten und heute den Holocaust eher verschweigen oder dazu tendieren, ihn zu verharmlosen, wie es so viele Deutsche aus der Kriegsgeneration tun? Wie gehe ich damit um, dass die Zeitzeugen sterben und sich die deutsche Bevölkerung mit jeder nachrückenden Generation von dem Geschehen entfernt, sodass Antisemitismus neu aufkeimen kann und „Israelkritik“ modern wird? Und wie gehe ich als Mensch und Christ mit dem Wissen um, wozu Menschen fähig sind?

Mein Vater kommt aus dem Museum und stellt sich neben mich. Obwohl er schon mehrmals hier war, sehe ich, dass es ihn immer noch bewegt und dass an ihm dieselben Fragen nagen. Beide können wir kein Wort sprechen. Er legt seine Hand auf meine Schulter und so stehen wir still nebeneinander und schauen auf Jerusalem.

 

Lebendiges Denkmal. Nach einiger Zeit reißen wir uns von dem heilsam wirkenden Ausblick auf den Wald und unseren Gedanken los und folgen dem Weg, der den Besucher vom Ausgang des Museums über das restliche Gelände führt. Wir laufen in der Sonne auf einem wunderschön angelegten Weg, vorbei an Bäumen und anderen Pflanzen, die künstlich bewässert werden, und ich lasse meinen Blick über die Umgebung bis nach Jerusalem schweifen. Schließlich komme ich zu einem weiteren Gebäudekomplex. Hier befinden sich verschiedene Einrichtungen wie ein Kunstmuseum, eine Synagoge sowie ein Lern- und Filmzentrum.

Blick auf die „ewige Flamme“ und die Namen der verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslager in der Halle des Gedenkens.

Mein Blick fällt auf eine Treppe, die vom Innenhof des Komplexes nach oben auf ein Plateau führt. Dort betreten wir eine Halle, die „Ohel Jizkor“ genannt wird, übersetzt „Zelt des Gedenkens“. Die Wände des Gebäudes bestehen aus großen, rundlichen Steinen. Sie erinnern an die jüdische Tradition, nach der man kleine Steine auf Grabsteine und Gedenkorte legt, um sein Gedenken auszudrücken. Der Raum ist abgedunkelt, aber durch Zwischenräume zwischen Wänden und Dach sowie den Eingang sehe ich genug. Der Weg umrahmt einen Innenraum. Ich lehne mich an das Geländer, das mich von diesem Innenraum trennt, und starre auf den dunklen Boden aus Basalt. In den Boden sind die Namen von 22 Konzentrations-, Durchgangs- und Vernichtungslagern1Insgesamt hat es 29 Konzentrationslager mit ungefähr 1.200 Nebenlagern gegeben, die teilweise schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Betrieb genommen und bis zum Kriegsende betrieben wurden. Nach Schät-zungen gab es insgesamt zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Häftlinge. (vgl. Asmuss, Konzentrationslager) Wäh-rend jedoch Konzentrationslager vor allem Zwangsarbeit vorsahen, wobei die Häftlinge durch die körperlichen Anstrengungen, mangelnde Ernährung und Hygiene sowie Misshandlungen oder Hinrichtungen starben (vgl. N.N., Konzentrationslager), wurden zusätzlich Vernichtungslager eingerichtet, die dem Massenmord an den europäischen Juden dienen sollten (vgl. N.N., Vernichtungslager). eingelassen. Die Namen sind auf Deutsch und Hebräisch geschrieben. Viele von ihnen wie etwa Auschwitz, Dachau, Bergen-Belsen kenne ich. Doch von vielen habe ich vorher noch nicht gehört. Weiter hinten steht eine dunkel gehaltene Skulptur, die eine Flamme nachbildet. In ihr brennt das „Ewige Feuer“, das ein Symbol des ewigen Gedenkens an die Opfer ist. Unter der Flamme ist die Asche von Holocaustopfern begraben.

Als wir das stille Zelt des Gedenkens wieder verlassen, entdecke ich auf der Mauer gegenüber auf dunklen Platten den Leit- und Gründungsvers von Yad Vashem:

וְנָתַתִּ֨י לָהֶ֜ם בְּבֵיתִ֤י וּבְחֹֽומֹתַי֙ יָ֣ד וָשֵׁ֔ם אֲשֶׁ֖ר לֹ֥א יִכָּרֵֽת׃ – „Und denen will ich … ein Denkmal (Yad) und einen Namen (Shem) geben; einen ewigen Namen, der nicht vergehen soll.“2Die Übersetzung ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/about/history.html (Stand 02.05.2021).

 

Das Denkmal ehrt die jüdischen Menschen, die im Warschauer Ghetto gelitten und gekämpft haben und dort ihr Leben verloren.

Helden. Unter der großen Schrift führt eine Treppe auf der anderen Seite des Plateaus hinunter. Wir folgen den Stufen und stehen vor einem weiteren Denkmal. Umgeben von Wänden aus roten Ziegelsteinen ist eine schwarze Skulptur eingelassen, die verschiedene Personen darstellt: zerlumpte, aber mutig dreinschauende Männer, eine leidend aussehende Frau, ein kauernder älterer Mann, ein Toter, der am Boden liegt. Es ist das Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, in dem sich trotz der sicheren Niederlage die Inhaftierten den Nationalsozialisten stellten, wobei fast alle ihr Leben verloren.3Das Warschauer Ghetto wurde im November 1940 vom Rest der Stadt vollständig abgeschnitten, nachdem in nur sechs Wochen alle jüdischen Bewohner dahin zwangsumgesiedelt wurden. 350.000 Juden lebten hier unter katastrophalen Bedingungen zusammen, die durch die harte Zwangsarbeit noch verschlimmert wurden. Dennoch bildeten sich bald Widerstandsgruppen. Ab dem 22. Juli 1942 begann die Deportation der jüdischen Bewohner in das Vernichtungslager Treblinka. (vgl. Härtel, Ghetto) Daraufhin erhob sich am 19. April 1943 unter der Leitung von Mordechai Anielewicz der jüdische Aufstand, der nach nur 27 Tagen niedergeschlagen wurde. Von Beginn an war den Aufständischen wohl klar, dass sie keinen Sieg erringen konnten. Nur wenige konnten flie-hen, tausende wurden ermordet und die Verbliebenen nach Treblinka deportiert, sodass das Ghetto aufgegeben wurde. (vgl. Scriba, Aufstand) Die Wände sind den typischen, fabrikähnlichen Gebäuden des Ghettos nachgebildet. Vor der Skulptur liegt ein Blumenkranz, der das Gedenken und den Respekt gegenüber dem Überlebenswillen der jüdischen Häftlinge ausdrückt.

Blick auf die Inschrift an der Säule des Heldentums mitsamt den Gedenksteinen, die davor auf das Gestell gelegt wurden.

Als wir uns Richtung Ausgang aufmachen, gehen wir auf eine Säule zu. Es handelt sich um die Säule des Heldentums, die mehrere Meter in die Höhe ragt und umgeben ist von wellenförmigen Betonblöcken, die die Inschrift tragen: „Zum ewigen Andenken derer, die in den Lagern und Ghettos rebellierten, in den Wäldern, im Untergrund und mit den alliierten Streitkräften kämpften, mutig ihren Weg nach Eretz Israel bewältigten und als Märtyrer starben.“4Der Text ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/visiting/map-of-yad-vashem.html (Stand 02.05.2021). Direkt vor der Säule ist ein künstlerisches Gestell, das an einen Davidstern erinnert und auf das schon Besucher vor mir kleine Gedenksteine gelegt haben. Ich bücke mich, hebe ebenfalls einen kleinen Stein auf und platziere ihn zwischen den zahlreichen anderen.

 

Zahlreich wie die Sterne. Weiter folgen wir dem Weg, der bald eine Biegung macht. Dahinter stehen wir vor einem besonders ausdrucksstark gestalteten Eingang. Es ist der Eingang der Gedenkstätte für die Kinder, die im Holocaust ihr Leben ließen. Von Säulen aus Sandstein gesäumt führt der Eingang in das Gestein eines Hügels hinein, sodass der Komplex an ein Höhlengrab erinnert. Die Säulen sind in verschiedenen Größen gehalten und wirken dabei, als seien sie abgebrochen. Sie stehen für die Kinder, die viel zu früh brutal aus dem Leben gerissen wurden. Ich laufe zwischen ihnen hindurch und auch wenn die Sonne noch auf mich herabscheint, macht sich ein kaltes Gefühl in mir breit. Ich betrete einen komplett abgedunkelten Raum im Inneren des Felsen. Der Weg, auf dem ich gehe, ist mit einem Geländer ausgestattet, an das ich mich klammere, während ich Stück um Stück vorangehe. Vor mir, um mich herum, hinter mir sehe ich unzählbar viele Flammen von Kerzen aufleuchten. Doch erkenne ich, dass es nur eine einzige Kerze ist: Der Raum ist mit zahlreichen Spiegelscheiben ausgestattet, die den Schein einer einzigen Kerze in der Mitte des Raums vervielfältigen.

Die Spiegelung der Kerzenflamme im verdunkelten Denkmal erinnert an einen sternenklaren Nachthimmel.

In der Finsternis wirkt es, als würde ich in einen Nachthimmel mit nicht zu zählenden Sternen schauen. Bei diesem Eindruck muss ich an das Versprechen denken, das Gott Abraham und seinen Nachkommen gegeben hat: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und er sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!(Gen 15,5) Bei dem Gedanken macht sich Trauer in mir breit, während ich mich am Geländer weiter vortaste und eine klare Frauenstimme höre, die die Namen von gefühlt unzählbaren jüdischen Kindern aufsagt, die in der Shoah ermordet wurden.

 

Ein besonderer Mann. Als wir aus der Finsternis wieder hinaus in das Sonnenlicht treten, dauert es nur wenige Meter, bis wir vor dem nächsten Denkmal stehen. In einer kleinen Nische in einer Wand aus Sandstein steht die schwarze Skulptur eines Mannes. Er schaut verzweifelt und seine Augen drücken eine unermessliche Trauer aus, während er seine Arme um eine Gruppe von ebenso verzweifelt aussehenden Jungen legt. Dieser Mann hieß Janusz Korczak5Janusz Korczak wurde Ende der 1870er Jahre in Warschau, Polen geboren. Sein ursprünglicher Name war Henryk Goldszmit, doch als er später mit seinem Pseudonym Janusz Korczak einen literarischen Wettbewerb gewann, war er fortan unter diesem Namen tätig. Der Kinderarzt unterrichtete im Waisenhaus, während er nebenbei u.a. Romane und Kinderbücher schrieb und sich als bedeutender Pädagoge etablierte. 1911 wurde er Leiter des von ihm initiierten jüdischen Waisenhauses Dom Sierot. (vgl. N.N., Janusz Korczak).

Das Denkmal für Janusz Korczak und seine Waisenkinder ist in Jerusalemer Sandstein eingebettet.

Als 1940 das Warschauer Ghetto von den Nationalsozialisten eingerichtet wurde, wurde das jüdische Waisenhaus, in dem der Kinderarzt Korczak als Leiter tätig war, in das Ghetto verlegt. Zwei Jahre später begann die Räumung des Ghettos und tausende von Juden sollten in Vernichtungslager deportiert werden – ebenso die Kinder des Waisenhauses von Korczak. Laut einem Augenzeugenbericht habe keines der Kinder geweint, als Korczak sie eines Tages hinaus zum Sammelplatz führen musste. Ruhig und sicheren Schrittes sei der ausgemergelte Mann vor seinen 200 Schützlingen hergegangen, das jüngste Kind an der Hand. Es heißt, er habe den Kindern gesagt, dass sie einen Ausflug aufs Land machen würden, wofür sie sich besonders schick anziehen sollten. Singend sei er vor ihnen hergegangen. Als sie vor dem Zug standen, der sie nach Treblinka bringen sollte, soll der Bahnhofskommandant ihm eine letzte Möglichkeit geboten haben, sein Leben zu bewahren. Doch wie alle vorhergehenden Möglichkeiten zur Flucht lehnte Korczak auch diese ab und sagte: „Sie irren sich, nicht jeder ist ein Schuft.“6Zitiert nach N.N., Janusz Korczak. Der Leiter des Waisenhauses bestieg mit den Kindern den Zug. Hier verliert sich ihre Spur. Bis heute weiß niemand, wann sie im Lager ankamen und in die Gaskammern geführt wurden.

 

Der Stein markiert die Allee der Gerechten.

Gerechte unter den Völkern. Nach diesem bewegenden Einblick führt uns der Weg zurück zum Ausgang. Doch ist auch dieser letzte Abschnitt für einen besonderen Zweck gestaltet worden: Er nennt sich „Allee der Gerechten“ und ehrt die nichtjüdischen Menschen aus verschiedenen Ländern, die ihr Leben dafür einsetzten, Juden vor den Nationalsozialisten zu retten. Der Weg ist gesäumt von 2.000 Bäumen. Zwischen ihnen sind Schilder, die die Namen dieser Menschen tragen. Von vielen habe ich vorher noch nicht gehört, aber zwei Namen erkenne ich sofort wieder: Oskar und Emilie Schindler7Oskar Schindler (*1908) war ein deutscher Ingenieur, der eine deutschnationale Prägung hatte und 1938 der Abwehr unter der Leitung von Canaris beitrat und offizielles Mitglied der NSDAP wurde. 1939 kaufte er die ehemalige Fabrik eines enteigneten Juden auf und baute mit einigem Geschick in kürzester Zeit ein lukratives Geschäft auf. Unter seinen zahlreichen Angestellten waren auch Juden, die er jedoch ebenso wie alle anderen Angestellten anständig behandelte. Anfang der 1940er begann in Schindel, der von der Grausamkeit der Natio-nalsozialisten angewidert war, ein folgenreiches Umdenken. Er setzte alles daran, den Einfluss, den er durch seine Parteizugehörigkeit und seine Fabrik, die kriegswichtige Güter herstellte, zu nutzen und so seine jüdischen Angestellten zu schützen sowie andere Juden in diesen Schutz mit einzubeziehen. Dafür führte er verschiedene Ausreden an, warum sie nicht deportiert werden könnten, und fälschte gar Dokumente. Mehrmals wurde Schind-ler verhört. Unter Lebensgefahr traf er sich mit Vertretern der Juden in Ungarn, nutzte Beziehungen zu dem be-rüchtigten Lagerkommandanten Ammon Goeth, um jüdischen Insassen zusätzliche Nahrung zukommen zu las-sen, und befreite die Juden, die auf seiner „Liste“ standen aus Vernichtungslagern – ein einzigartiges Geschehen in der Geschichte des Holocaust. Bei diesen und zahlreichen weiteren Rettungsaktionen verlor Schindler sein ganzes Vermögen, das er und seine Frau in die Rettung dieser Juden investierten. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Schindlers nach Kriegsende und ermöglichten ihnen eine Auswanderung nach Argentinien. 1958 kehrten sie nach Deutschland zurück. Drei Jahre später besuchten sie das erste Mal Israel und wurden dort von Juden, die durch sie gerettet wurden, begrüßt. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten die Schindlers teils in Deutschland, teils in Israel. Als Schindler 1974 verstarb, wurde er auf dem Berg Zion beigesetzt, begleitet von einer Schar von Überlebenden. (vgl. N.N., Schindler). Vor Jahren hatte ich den Film „Schindlers Liste“ gesehen, der auf drastische Weise das Geschehen der Zeit und das Engagement dieses Ehepaares darstellt, das vielen Juden das Leben retten konnte.

Zwischen den zahlreichen Bäumen, die für die Gerechten unter den Völkern gepflanzt wurden, sind Schilder angebracht, die die Namen dieser tragen und ihr Gedenken erhalten.

Von Yad Vashem wurden über 27.000 Menschen8S. https://www.yadvashem.org/de/righteous/statistics.html (Stand 07.05.2021), die sich in verschiedensten Ländern in West- und Osteuropa, sogar bis nach Asien für Juden einsetzten und sie retteten, als Gerechte anerkannt. Was für ein Kontrast zu dem, was ich in den letzten Stunden gesehen, gelesen und gehört habe: In all der Finsternis, die vor und während des Zweiten Weltkriegs um sich griff, gab es Menschen, die sich trotz der drohenden Folgen für sich und ihre Familien durch die Nationalsozialisten ein Doppelleben aufbauten, um Juden helfen zu können. Teilweise wurden sie selbst für ihr Engagement inhaftiert oder sogar ermordet.

 

Bloßes Erinnern? Bald mündet der Weg, der all die Namen und die dahinterstehenden, bewegenden Geschichten sammelt, in einen Platz. Ich schaue mich um. Wir sind wieder am Anfang des Geländes angekommen. Auf Bänken sitzen Besucher, andere gehen über den Platz. Ich sehe das Eingangs- und Infogebäude, die Brücke, die zum Museum führt, einen anderen Weg auf das Museumsgelände und hinter mit die gewundene Allee der Gerechten. Vor mir ist ein Shop, in dem man Infomaterial, Judaica und anderes kaufen kann. Ich bin wieder in der Gegenwart angekommen. Wobei – war ich das nicht die ganze Zeit? Ich bin schließlich nicht durch ein ehemaliges Konzentrationslager gegangen, habe nicht das Warschauer Ghetto oder alte jüdische Viertel besucht, ich habe keine enteigneten Geschäfte und Wohnungen, die früher Juden gehörten, aufgesucht oder die Orte, an denen DP-Camps waren. Ich war nicht an den Orten, wo all das Furchtbare geschah, sondern die ganze Zeit über im Staat Israel, in Jerusalem. Doch scheint es dabei eigentlich keinen Unterschied zu geben: ob in der Vergangenheit oder im Hier und Jetzt, ob dort am Ort des Geschehens oder hier in Israel. Es scheint eine direkte Verbindung zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was jetzt ist, zu geben, zwischen den Menschen, die all das erfahren mussten, und denen, die jetzt in Israel leben. Die Juden, die den Staat gründeten, haben das Erlebte mitgetragen, sie haben gar die Menschen in ihren Herzen mitgebracht, die die Reise nach Eretz Israel selbst nicht mehr antreten konnten. Und doch hängt keine Verzweiflung in der Luft, sondern Hoffnung und Lebensfreude.

Auf dem gesamten Gelände von Yad Vashem sind große Denkmäler oder auch kleinere Elemente des Gedenkens und der Erinnerung zu finden – damit kein Jude vergessen wird, der ermordet wurde.

Die Gründer des Staates haben ihre ermordeten Familien, Freunde, Bekannte im Herzen mit sich nach Eretz Israel getragen. Doch dabei allein ist es nicht geblieben: Sogar die nachrückenden Generationen tragen die Erinnerung weiter. Die Forschungsarbeit in Yad Vashem und dem ganzen Land wächst und ist international weit verzweigt, immer mehr wird bekannt von dem, was geschehen ist, immer mehr Gesichter werden enthüllt und Namen entdeckt – damit niemand, der in der Shoah aus dem Leben gerissen wurde, in Vergessenheit gerät. Und so setzt das jüdische Volk meiner Zeit den Juden jener Zeit in Yad Vashem ein lebendiges Denkmal.

Nach diesem ersten Besuch beginne ich zu verstehen, warum Yad Vashem ein Muss ist für jemanden, der Israel wirklich kennen lernen und das jüdische Volk besser verstehen möchte. Ein modernes Israel ohne die Shoah gibt es nicht, ebenso wie es kein Deutschland mehr ohne den Holocaust geben kann. Yad Vashem ist ein Ort, an dem jeder Deutsche gewesen sein sollte – um seine eigene Geschichte besser zu verstehen, aber auch, um seiner Verantwortung als Deutscher, ja sogar als Mensch nachzukommen.

 

Mittlerweile, im Jahr 2021, war ich fünf Mal in Yad Vashem – bei jedem meiner bisherigen Besuche in Israel suchte ich die Stätte wieder auf. Jedes Mal wieder berührte mich dieser Ort des Gedenkens. Über die Jahre habe ich sogar die Erfahrung gemacht, dass das Erleben in Yad Vashem intensiver wird, je mehr ich mich mit der Geschichte des jüdischen Volkes, mit dem Geschehen, das von Deutschland ausging, beschäftige, je tiefer ich aber auch in meinen Glauben an den biblischen Gott, den Gott Israels, und den jüdischen Messias Jesus Christus gehe.

Ausblick vom Vorsprung am Ende des Museums auf den Jerusalemer Wald.

Am Israel Chai – das Volk Israel lebt. Nach all den Jahren, nach all dem Lernen und Studieren, nach verschiedenen Kontakten und Gesprächen, nach Besuchen in weiteren Gedenkstätten und manchem Hadern, das damit einherging, meine ich, mehr und mehr zu verstehen, was dieser schlichte Satz eigentlich in seinen ganzen Ausmaßen bedeutet. Und dabei merke ich, dass er nicht nur für das jüdische Volk bedeutsam ist, sondern in seiner menschlichen und theologischen Tiefe auch für jeden Deutschen, für jeden Christen: Das jüdische Volk lebt. Es ist ein Wunder angesichts der Schrecken der Geschichte. Es ist ein Zeugnis, dessen man sich nicht verschließen sollte.

 

Interessierten empfehle ich den Kurzfilm „Die Steine weinten“ über Jausz Korczak, der auf YouTube anzusehen ist: https://www.youtube.com/watch?v=-hKj7sTsqZU

Auch empfehle ich den YouTube-Kanal von Yad Vashem, auf dem zahlreiche Videos von Zeitzeugen und über das Geschehen rund um den Holocaust zu finden sind: https://www.youtube.com/user/yadvashemgerman

Hier finden Sie den ganzen Bericht zum Downloaden: Yad-Vashem-Bericht

 

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    Insgesamt hat es 29 Konzentrationslager mit ungefähr 1.200 Nebenlagern gegeben, die teilweise schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Betrieb genommen und bis zum Kriegsende betrieben wurden. Nach Schät-zungen gab es insgesamt zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Häftlinge. (vgl. Asmuss, Konzentrationslager) Wäh-rend jedoch Konzentrationslager vor allem Zwangsarbeit vorsahen, wobei die Häftlinge durch die körperlichen Anstrengungen, mangelnde Ernährung und Hygiene sowie Misshandlungen oder Hinrichtungen starben (vgl. N.N., Konzentrationslager), wurden zusätzlich Vernichtungslager eingerichtet, die dem Massenmord an den europäischen Juden dienen sollten (vgl. N.N., Vernichtungslager).
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    Die Übersetzung ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/about/history.html (Stand 02.05.2021).
  • 3
    Das Warschauer Ghetto wurde im November 1940 vom Rest der Stadt vollständig abgeschnitten, nachdem in nur sechs Wochen alle jüdischen Bewohner dahin zwangsumgesiedelt wurden. 350.000 Juden lebten hier unter katastrophalen Bedingungen zusammen, die durch die harte Zwangsarbeit noch verschlimmert wurden. Dennoch bildeten sich bald Widerstandsgruppen. Ab dem 22. Juli 1942 begann die Deportation der jüdischen Bewohner in das Vernichtungslager Treblinka. (vgl. Härtel, Ghetto) Daraufhin erhob sich am 19. April 1943 unter der Leitung von Mordechai Anielewicz der jüdische Aufstand, der nach nur 27 Tagen niedergeschlagen wurde. Von Beginn an war den Aufständischen wohl klar, dass sie keinen Sieg erringen konnten. Nur wenige konnten flie-hen, tausende wurden ermordet und die Verbliebenen nach Treblinka deportiert, sodass das Ghetto aufgegeben wurde. (vgl. Scriba, Aufstand)
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    Der Text ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/visiting/map-of-yad-vashem.html (Stand 02.05.2021).
  • 5
    Janusz Korczak wurde Ende der 1870er Jahre in Warschau, Polen geboren. Sein ursprünglicher Name war Henryk Goldszmit, doch als er später mit seinem Pseudonym Janusz Korczak einen literarischen Wettbewerb gewann, war er fortan unter diesem Namen tätig. Der Kinderarzt unterrichtete im Waisenhaus, während er nebenbei u.a. Romane und Kinderbücher schrieb und sich als bedeutender Pädagoge etablierte. 1911 wurde er Leiter des von ihm initiierten jüdischen Waisenhauses Dom Sierot. (vgl. N.N., Janusz Korczak)
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    Zitiert nach N.N., Janusz Korczak.
  • 7
    Oskar Schindler (*1908) war ein deutscher Ingenieur, der eine deutschnationale Prägung hatte und 1938 der Abwehr unter der Leitung von Canaris beitrat und offizielles Mitglied der NSDAP wurde. 1939 kaufte er die ehemalige Fabrik eines enteigneten Juden auf und baute mit einigem Geschick in kürzester Zeit ein lukratives Geschäft auf. Unter seinen zahlreichen Angestellten waren auch Juden, die er jedoch ebenso wie alle anderen Angestellten anständig behandelte. Anfang der 1940er begann in Schindel, der von der Grausamkeit der Natio-nalsozialisten angewidert war, ein folgenreiches Umdenken. Er setzte alles daran, den Einfluss, den er durch seine Parteizugehörigkeit und seine Fabrik, die kriegswichtige Güter herstellte, zu nutzen und so seine jüdischen Angestellten zu schützen sowie andere Juden in diesen Schutz mit einzubeziehen. Dafür führte er verschiedene Ausreden an, warum sie nicht deportiert werden könnten, und fälschte gar Dokumente. Mehrmals wurde Schind-ler verhört. Unter Lebensgefahr traf er sich mit Vertretern der Juden in Ungarn, nutzte Beziehungen zu dem be-rüchtigten Lagerkommandanten Ammon Goeth, um jüdischen Insassen zusätzliche Nahrung zukommen zu las-sen, und befreite die Juden, die auf seiner „Liste“ standen aus Vernichtungslagern – ein einzigartiges Geschehen in der Geschichte des Holocaust. Bei diesen und zahlreichen weiteren Rettungsaktionen verlor Schindler sein ganzes Vermögen, das er und seine Frau in die Rettung dieser Juden investierten. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Schindlers nach Kriegsende und ermöglichten ihnen eine Auswanderung nach Argentinien. 1958 kehrten sie nach Deutschland zurück. Drei Jahre später besuchten sie das erste Mal Israel und wurden dort von Juden, die durch sie gerettet wurden, begrüßt. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten die Schindlers teils in Deutschland, teils in Israel. Als Schindler 1974 verstarb, wurde er auf dem Berg Zion beigesetzt, begleitet von einer Schar von Überlebenden. (vgl. N.N., Schindler)
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    S. https://www.yadvashem.org/de/righteous/statistics.html (Stand 07.05.2021)

 

Quellen:

Asmuss, Burkhard, Die Bücherverbrennung, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/buecherverbrennung.html (Stand 04.05.2021)

Asmuss, Burkhard, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/konzentrationslager.html (Stand 02.05.2021)

Härtel, Susanne, Das Ghetto Warschau, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/holocaust/warschau (Stand 04.05.2021)

Huhtasaari, Hanna, Der Erste arabisch-israelische Krieg. Interview mit Benni Morris, https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44999/interview-benny-morris?p=0 (Stand 30.04.2021)

IM., Yad Vashem, https://www.israelmagazin.de/yad-vashem-holocaust-gedenkstatte (Stand 30.04.2021)

Mayr, Lisa, Janusz Korczak: Der Arzt, der für die Kinder starb, https://www.derstandard.de/story/2000061528028/janusz-korczak-der-arzt-der-fuer-die-kinder-starb (Stand 02.05.2021)

N.N., Die Arbeits- und Konzentrationslager, https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/camps/labor-concentration-camps.html (Stand 04.05.2021)

N.N., Die Vernichtungslager, https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/final-solution/death-camps.html (Stand 04.05.2021)

N.N., Mount Herzl, https://www.jewishvirtuallibrary.org/mount-herzl (Stand 30.04.2021)

N.N., Oskar und Emilie Schindler, https://www.yadvashem.org/de/righteous/stories/schindler.html, (Stand 07.05.2021)

N.N., Statistiken, https://www.yadvashem.org/de/righteous/statistics.html (Stand 07.05.2021)

N.N., „Tag des Buches“ – Erinnerung an die NS-Bücherverbrennungen vor 85 Jahren, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/268884/ns-buecherverbrennung (Stand 04.05.2021)

N.N., Theodor Herzl, https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44953/theodor-herzl (Stan 30.04.2021)

N.N., Über Leben und Tod von Jausz Korczak, https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/schulfernsehen/warschau-nationalsozialismus-widerstand-korczak100.html (Stand 02.05.2021)

Scriba, Arnulf, der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/warschauer-ghettoaufstand-1943.html (Stand 04.05.2021)

W., Michele, Demokratie und Kindheit, https://www.demokratiegeschichten.de/demokratie-und-kindheit/ (Stand 02.05.2021)

Urban, Susanne, Jüdische Displaced Persons: Trauma und Überlebenswillen, https://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/8/jewish-dp-camps.html (Stand 04.05.2021)

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    Insgesamt hat es 29 Konzentrationslager mit ungefähr 1.200 Nebenlagern gegeben, die teilweise schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Betrieb genommen und bis zum Kriegsende betrieben wurden. Nach Schät-zungen gab es insgesamt zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Häftlinge. (vgl. Asmuss, Konzentrationslager) Wäh-rend jedoch Konzentrationslager vor allem Zwangsarbeit vorsahen, wobei die Häftlinge durch die körperlichen Anstrengungen, mangelnde Ernährung und Hygiene sowie Misshandlungen oder Hinrichtungen starben (vgl. N.N., Konzentrationslager), wurden zusätzlich Vernichtungslager eingerichtet, die dem Massenmord an den europäischen Juden dienen sollten (vgl. N.N., Vernichtungslager).
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    Die Übersetzung ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/about/history.html (Stand 02.05.2021).
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    Das Warschauer Ghetto wurde im November 1940 vom Rest der Stadt vollständig abgeschnitten, nachdem in nur sechs Wochen alle jüdischen Bewohner dahin zwangsumgesiedelt wurden. 350.000 Juden lebten hier unter katastrophalen Bedingungen zusammen, die durch die harte Zwangsarbeit noch verschlimmert wurden. Dennoch bildeten sich bald Widerstandsgruppen. Ab dem 22. Juli 1942 begann die Deportation der jüdischen Bewohner in das Vernichtungslager Treblinka. (vgl. Härtel, Ghetto) Daraufhin erhob sich am 19. April 1943 unter der Leitung von Mordechai Anielewicz der jüdische Aufstand, der nach nur 27 Tagen niedergeschlagen wurde. Von Beginn an war den Aufständischen wohl klar, dass sie keinen Sieg erringen konnten. Nur wenige konnten flie-hen, tausende wurden ermordet und die Verbliebenen nach Treblinka deportiert, sodass das Ghetto aufgegeben wurde. (vgl. Scriba, Aufstand)
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    Der Text ist der Website von Yad Vashem entnommen und nachzulesen unter https://www.yadvashem.org/de/visiting/map-of-yad-vashem.html (Stand 02.05.2021).
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    Janusz Korczak wurde Ende der 1870er Jahre in Warschau, Polen geboren. Sein ursprünglicher Name war Henryk Goldszmit, doch als er später mit seinem Pseudonym Janusz Korczak einen literarischen Wettbewerb gewann, war er fortan unter diesem Namen tätig. Der Kinderarzt unterrichtete im Waisenhaus, während er nebenbei u.a. Romane und Kinderbücher schrieb und sich als bedeutender Pädagoge etablierte. 1911 wurde er Leiter des von ihm initiierten jüdischen Waisenhauses Dom Sierot. (vgl. N.N., Janusz Korczak)
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    Zitiert nach N.N., Janusz Korczak.
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    Oskar Schindler (*1908) war ein deutscher Ingenieur, der eine deutschnationale Prägung hatte und 1938 der Abwehr unter der Leitung von Canaris beitrat und offizielles Mitglied der NSDAP wurde. 1939 kaufte er die ehemalige Fabrik eines enteigneten Juden auf und baute mit einigem Geschick in kürzester Zeit ein lukratives Geschäft auf. Unter seinen zahlreichen Angestellten waren auch Juden, die er jedoch ebenso wie alle anderen Angestellten anständig behandelte. Anfang der 1940er begann in Schindel, der von der Grausamkeit der Natio-nalsozialisten angewidert war, ein folgenreiches Umdenken. Er setzte alles daran, den Einfluss, den er durch seine Parteizugehörigkeit und seine Fabrik, die kriegswichtige Güter herstellte, zu nutzen und so seine jüdischen Angestellten zu schützen sowie andere Juden in diesen Schutz mit einzubeziehen. Dafür führte er verschiedene Ausreden an, warum sie nicht deportiert werden könnten, und fälschte gar Dokumente. Mehrmals wurde Schind-ler verhört. Unter Lebensgefahr traf er sich mit Vertretern der Juden in Ungarn, nutzte Beziehungen zu dem be-rüchtigten Lagerkommandanten Ammon Goeth, um jüdischen Insassen zusätzliche Nahrung zukommen zu las-sen, und befreite die Juden, die auf seiner „Liste“ standen aus Vernichtungslagern – ein einzigartiges Geschehen in der Geschichte des Holocaust. Bei diesen und zahlreichen weiteren Rettungsaktionen verlor Schindler sein ganzes Vermögen, das er und seine Frau in die Rettung dieser Juden investierten. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Schindlers nach Kriegsende und ermöglichten ihnen eine Auswanderung nach Argentinien. 1958 kehrten sie nach Deutschland zurück. Drei Jahre später besuchten sie das erste Mal Israel und wurden dort von Juden, die durch sie gerettet wurden, begrüßt. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten die Schindlers teils in Deutschland, teils in Israel. Als Schindler 1974 verstarb, wurde er auf dem Berg Zion beigesetzt, begleitet von einer Schar von Überlebenden. (vgl. N.N., Schindler)
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    S. https://www.yadvashem.org/de/righteous/statistics.html (Stand 07.05.2021)