Der Rabbi und das rabbinische Judentum

Im 19. Jahrhundert lebte in Polen ein bekannter jüdischer Rabbi mit Namen Hofetz Chaim. Zu ihm kam eines Tages ein Besucher, um einen Rat von ihm zu erbitten. Als der Mann sah, dass die Wohnung des Rabbi aus einem winzigen Zimmer bestand, in dem sich nur eine Bank, ein Tisch mit Stuhl und viele Bücher befanden, fragte er den Rabbi verwundert: „Meister, wo haben Sie Ihre Möbel und den Hausrat?” „Wo haben Sie Ihre?”, erwiderte der Rabbi. „Meine?”, fragte der verblüffte Fremde, „ich bin doch nur zu Besuch hier. Ich bin doch nur auf der Durchreise!” „Ich auch!”, sagte Hofetz Chaim.

Diese Geschichte gibt uns einen kurzen Einblick in die Begegnung eines Reisenden mit einem Rabbi. Sie zeigt die Weisheit des jüdischen Lehrers und seiner tiefen Verbundenheit zu Gott. Und solche Weisheitssprüche oder teilweise humorvollen Anekdoten assoziieren vermutlich auch die meisten Menschen, wenn sie beiläufig an Rabbis und das rabbinische Judentum denken.

Ein tieferer Blick in die Entstehung des Rabbinertums und die Aufgaben eines Rabbis lohnen sich, um über das Verstehen des Rabbinats mehr in die jüdische Kultur einzutauchen.

 

Die Entstehung Rabbinertums

Der Beginn des rabbinischen Judentums wird auf die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem datiert, also 70 n.Chr. Dieser markante Einschnitt in die jüdische Geschichte gilt bis heute sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstwahrnehmung als Beginn der rabbinischen Autorität. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich das sog. „rabbinische Judentum“ zur Hauptströmung des Judentums und prägt bis heute die Theologie und den jüdischen Alltag.

Nachdem der Tempel und somit Zentrum der Kultpraxis zerstört waren, musste das Jüdisch-Religiöse neu durchdacht und rekonstruiert werden, so dass zum Beispiel die kultischen Schlachtopfer, die ohne Tempel nicht mehr praktiziert werden konnten, eingetauscht wurden gegen das Feiern von Gebetsgottesdiensten. Die unterschiedlichen und notwendigen Veränderungen wurden der Tradition nach angestoßen von Jochanan ben Sakkai, der es durch eine List schaffte, ein jüdisches Lehrhaus in Jabne zu gründen. Er ließ sich in einem Sarg aus Jerusalem tragen um unerkannt zu bleiben und begann in Jabne zu lehren, sodass sich ihm schon bald viele Männer anschlossen, die von ihm lernen wollten, wie der Glaube ohne einen Tempel gelebt werden kann. Später übernahm dieses Amt Gamaliel II., durch den das Bild eines frommen, angesehen und vorbildhaften Lehrers im gefestigt wurde.

Durch den Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135 wurde den Juden außerdem der Zugang zu Jerusalem komplett versagt. Daher flohen viele in die Diaspora nach Syrien. Dadurch wurde schrittweise das neue Zentrum des jüdischen Lebens auch von Jabne nach Uscha in Galliläa verlegt. Besonders nachhaltig zeigt sich die neue Strömung bei der Festlegung der mündlichen Tora, der Mischna, in dieser Zeit.

Das rabbinische Judentum entwickelte sich facettenreich weiter bis ins 11. Jahrhundert, in dem das Fundament des jüdischen Lebens gelegt und viele praktische Angelegenheiten geregelt wurden.

Heute ist das rabbinische Judentum die vorrangige Gestaltungsform jüdischen Lebens. Israel als Schmelztiegel jüdischer Strömungen sticht dabei als Kulisse besonders heraus. Hier fallen nach wie vor viele Aspekte des öffentlichen Lebens sowie Eheschließung, Begräbniszeremonien und das Kaschrut, das jüdische Speisegebot unter den Einfluss religiöser Gesetze und der Rabbiner, die als religiöse Führer, Lehrer und auch rechtliche Fürsprecher anerkannt sind.

 

Rabbiner

Der Titel Rabbiner wird in der Bibel zuerst für den Priester Esra verwendet, der mit dem mosaischen Gesetz vertraut war und somit Gelehrter der Schrift und als Ausleger der Tora war. Aus diesem Ansatz heraus entstand die Pharisäerbewegung, aus der sich schließlich 70 n. Chr. das rabbinische Judentum hervorging.

Rabbiner leitet sich vom hebräischen Raw beziehungsweise dem aramäischen Rabbuni ab, was so viel wie Meister oder Lehrer bedeutet. Der Rabbiner ist eine moralische Instanz für alle Gläubigen in seinem Umkreis und zeichnet sich durch seine fromme, tora-orientierte Lebensweise aus.

Zuerst wurde der Lehrdienst nicht bezahlt, weswegen es mehrere Nachweise von Rabbis gibt, die hauptberuflich Schmiede oder auch Ärzte waren, um ihre Familien zu ernähren. Heutzutage ist der Job eines Rabbiners zwar immer noch mehr Berufung als Beruf, wird aber in einem Arbeitsvertrag geregelt. Die Hauptaufgabe ist nach wie vor die Auslegung der Tora und ihrer Gesetze, sodass sich daraus Handlungsanweisungen für das jüdische Leben erschließen lassen. Oft haben Rabbiner auch eine leitende Funktion in der jüdischen Gemeinde und übernehmen den Unterricht junger Gläubiger sowie seelsorgerliche Tätigkeiten und die Ansprache (vergleichbar mit der „Predigt“ im christlichen Kontext).

Dem Rabbineramt liegt eine Ausbildung an einer Jeschiwa, einer Talmudhochschule, zugrunde, nach der der Rabbi durch die Smicha, die Auflegung der Hände, ordiniert wird. Somit erhält er die Autorität, alle Fragen des Gesetzes mit einer verbindlichen Antwort zu belegen. Es ist seine Aufgabe, sicherzustellen, dass die Gemeinde diese auch einhalten kann, sodass er alle Einrichtungen gemäß den jüdischen Vorschriften einrichtet und darauf achtet, welche Speiseangebote der Stadt koscher sind. In einer Doku des bayrischen Rundfunks beispielsweise kontrollierte der dortige Rabbi eine Fleischerei, ob die Herstellung der Würste auch nach den Vorschriften der Kaschrut erfolgte.

Wie auch die Christen müssen die Juden aussagekräftig werden zu den Fragen der Neuzeit, die nicht explizit in der Bibel beziehungsweise in der Tora behandelt werden. Ein Rabbi schlussfolgert aus den vorliegenden Texten das jeweilige Prinzip, das sich aus den Aussagen der Tora usw. ableiten lässt, und vertritt die Ableitung dann vor seiner Gemeinde. Von einem Rabbi lernt man die Bedeutung der Worte der Tora verstehen, weswegen es Gang und Gebe ist, jeden, von dem man auch nur ein Torawort beigebracht bekommen hat, als „Rabbi we Mori“ (mein Rabbi und mein Lehrer) anzusprechen.

Außerdem wird ein Rabbi(ner) auch als Richter für interne Streitigkeiten angefragt. Dafür gibt es sogar organisierte Rabbinatsgerichte, den Batej Din. Nicht jeder Rabbi übernimmt jede Aufgabe. Vor allem in Jerusalem, außerhalb der Diaspora, gibt es unterschiedlich zugeteilte Aufgabenbereiche wie zum Beispiel die Krankenhausseelsorge oder die Überwachung der Kaschrut in den jeweiligen jüdischen Gemeinden.

Von dem Rabbi selbst wird höchste Verlässlichkeit und Treue gegenüber Gott erwartet. Aufgrund seiner Vorbildfunktion ist er deswegen in den meisten Fällen verheiratet und hat Kinder. Sein Leben soll anzeigen, dass alles im Leben mit Gott zu tun hat, auch Ehe, Familie und alltägliches Leben.

Rabbinern in Deutschland werden die gleichen Aufgaben zu Teil wie in Israel, allerdings sind sie in ihrem Einflussbereich stärker auf ihre Ortsgemeinde ausgerichtet als auf staatliche Angelegenheiten. In Deutschland belegt man das Bachelorstudium in Jüdischen Studien für die Grundausbildung zum Rabbiner. Im Masterstudium vertieft man die Kenntnisse über die jüdische Religionspraxis. Die Ausbildung dauert somit 5 bis 7 Jahre.

 

Jesus als Rabbi

Mit diesem Hintergrundwissen lohnt sich eine erneute Betrachtung Jesu, der im Neuen Testament des Öfteren Rabbi genannt wird, wie zu Beispiel in Markus 9,5, wo Jesus bei der Verklärung auf eine Ebene mit Mose und Elia gesetzt wird „Petrus sagte zu Jesus: Rabbi, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija“ oder Johannes 1,38 „Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, sagte er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister, wo wohnst du?“.

Hier werden zwei Dinge besonders deutlich: Zunächst wurde Jesus eine Autorität über den Heiligen Schriften zugesprochen. Er sollte für die Menschen die Schrift auslegen, Gesetze für den Alltag greifbar machen und tat dies während seiner Amtszeit auch in exzellenter und herausfordernder Art. Schon mit 12 Jahren lehrt Jesus das erste Mal im Tempel (Lk 2,41f.) und beweist somit seine tiefe Kenntnis und sein vorbildhaftes Verhalten als Menschen- und Gottessohn, dass für viele zum moralischen Kompass wurde. Außerdem spricht er mit einer Vollmacht und dem selbstbewussten Status eines wahren Rabbis über seine Erkenntnisse. Immer wieder leitet er eine Antithese zu anderen Lehren ein mit den Worten: „Ich aber sage euch…“ (vgl. Mt. 5,22;28;34) und übertrifft somit die gängige Lehrmeinung oder traditionelle Überlieferungen. Er beansprucht für sich eine Autorität, die neben der des Moses steht. Jesus übertrifft die Botschaften sogar. Somit ist er kein gewöhnlicher Rabbi mehr, da sein Auftreten den Anspruch eines Rabbis oder Propheten weit übersteigt. Jesus zeigt sich hier als höchster Rabbi, dessen Lehre wir nacheifern können, aber noch viel mehr zeigt er sich als Messias, der jeden rettet, der an ihn glaubt.

 

Quellen

Gerd A. Wewers: Geheimnis und Geheimhaltung im rabbinischen Judentum. (= Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten. 35) de Gruyter

https://www.youtube.com/watch?v=7gctnVbOGVQ – Doku bayrischer Rundfunk

https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbinisches_Judentum#Das_Judentum_im_christlichen_Umfeld

https://www.juedische-allgemeine.de/glossar/rabbiner/

https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbiner

https://www.pro-medienmagazin.de/rabbiner-jesus-war-jude/

https://www.spiegel.de/politik/jesus-war-mehr-als-ein-rabbi-a-5639b16d-0002-0001-0000-000046266316

 

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