Landeskunde Israel: Wie die besonderen Winde auf dem See Genezareth entstehen

Die Bibel aus den Augen der Geographie

Satellitenaufnahme des See Genezareth. Foto: NASA Earth Observatory

„Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns ans andere Ufer des Sees fahren. Und sie stießen vom Land ab. Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr“ (Lukas 8,22-23 LUT). Der Sturm auf dem See Genezareth und die drauffolgende Stillung desselbigen durch die Machtworte Jesu ist eine bekannte Erzählung des neuen Testaments, die auch in den Evangelien von Matthäus (8,24) und Markus (4,37) auftaucht. Jeder der Evangelisten erzählt das Geschehen nur knapp und dennoch wird dem aufmerksamen Leser deutlich, dass es ein äußerst kräftiger Sturm gewesen sein muss, der den Jüngern um die Ohren fegte. Auch in der jüngeren Vergangenheit wurde immer wieder unter Beweis gestellt, zu welchen Winden es auf dem See kommen kann. So kam es beispielsweise im Mai 2022 zu solch starken Stürmen, dass die Uferpromenade bei Tiberias stark beschädigt wurde. Nun, dieser Artikel will der Frage nachgehen, was es mit dem See Genezareth auf sich hat. Wie kann es auf einem augenscheinlich gewöhnlichen See zu Wind und Wellen solchen Ausmaßes kommen?

Um viele biblische Texte besser zu verstehen, kann es neben zusätzlichem Wissen über Geschichte, Kultur und Literatur auch hilfreich sein, Wissen der Landeskunde heranzuziehen. Im Falle unseres Beispiels lassen sich die gewaltigen Stürme nämlich durch die besondere Geographie Israels erklären, die damals wie heute die Möglichkeit starker Windverhältnisse verursacht. Es lohnt sich also mehr über das Land Israel und dessen Geographie zu erfahren – sowohl allgemein als auch für die biblische Lektüre.

Die Geographie von Genezareth

An der Stelle, wo die Afrikanische and die Arabische Kontinentalplatte grenzt, existiert ein tiefer Grabenbruch. Darin liegt die Jordanebene. Auch das tote Meer und das Rote Meer liegen im Afrikanischen Grabenbruch. Foto (bearbeitet): U.S. Geological Survey

 

Größentechnisch ist der See Genezareth mit 13 Kilometern Breite und 21 Kilometern Länge eindrucksvoll. Die Wasseroberfläche beträgt 166 Quadratkilometer, die maximale Tiefe beträgt 43 Meter und eine Person müsste 53 Kilometer zurücklegen, um den See einmal zu umfahren. Doch seine Größe allein macht ihn noch nicht besonders. Das berühmte Gewässer ist eingebettet in das sogenannte Jordantal – auch Jordanebene oder Jordangraben genannt –, welches sich wiederum in den Großen Afrikanischen Grabenbruch einfügt. Dieser bildet die geologische Grenzlinie zwischen der Afrikanischen und der Arabischen Kontinentalplatte. Der Grabenbruch ist entstanden durch das Auseinanderdriften beider Platten.  Aufgrund dessen bildet die Jordanebene eine der tiefsten Stellen der gesamten Erdoberfläche. In Zahlen bedeutet das, dass die Oberfläche des Sees etwa 212 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Nur das Tote Meer liegt noch tiefer, nämlich 430 Meter unter dem Meeresspiegel. Beide Seen sind die am tiefstliegenden stehenden Gewässer der Erde. Hinzu kommen Steilhänge, die den See fast vollständig umgeben. Manche Hängereichen bis an das Ufer heran. Besonders stark sind die Höhenunterschiede auf der West- und Südwestseite sowie auf der Ostseite des Sees. Von den Ortschaften Arbel und Poriya auf der Westseite weisen die Steilhänge ein Gefälle von über 400 Höhenmetern auf. Bei En Gev am Ostufer sind es sogar über 500 Meter. Die abfallenden Hänge und die tiefe Einbettung im Tal beeinflussen die Windsysteme am See Genezareth maßgeblich. Doch wie entstehen nun die besonderen Winde?

Wind von nah und fern

Am See Genezareth gibt es einerseits ferne Winde vom Meer, die landeinwärts in Richtung See wehen und andererseits lokale Winde, die direkt am See entstehen. Ganz grundsätzlich entsteht Wind durch den Austausch von Luft. Wenn sich Luft erwärmt, dehnt sie sich aus und steigt nach oben. Kühlere Luft nimmt diesen Platz ein. Diesen Luftaustausch ist als Wind zu spüren. Die Winde am See Genezareth lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen.

Land-Meer-Windsystem. Foto: brgfx (Freepik)

Bei Gebieten am Meer weht der Wind tagsüber landeinwärts, da sich die Landluft schneller erwärmt und somit auch schneller aufsteigt. Die kältere Meeresluft zieht nach, denn das Meerwasser erwärmt sich nur langsam. Nachts dreht sich das System um. Das Meer hat sich über den Tag zwar langsamer erwärmt, jedoch speichert es die Wärme nun länger. So kommt es, dass der Wind nachts aufs Meer hinaus weht, da sich die Landluft am Abend schneller abkühlt als das Meer. Dieses Phänomen nennt man Land-See-Windsystem. Da Israel am Meer liegt, gibt es einen täglichen Zyklus von Meer- und Landwinden. Am Tag heizt sich das israelische Festland schneller auf als das Mittelmeer. Kältere Meeresluft weht landeinwärts. Nun ist die Situation in Israel besonders, da die Ost-West-Ausdehnung zwischen Küste und See Genezareth nur rund 50 Kilometer misst. Wenn die Winde vom Meer morgens an der israelischen Küste auf Land treffen, wehen sie schnell bis in die östlich liegende Jordanebene hinunter. Durch den Höhenunterschied und die steil abfallenden Hänge nimmt der Wind an Geschwindigkeit zu. Das ankommende Luftpaket ist nun ein Fallwind und erwärmt sich zusätzlich beim Absinken in die Ebene, da der Druck in der Senke höher ist; es geschieht eine sogenannte trockenadiabatische Erwärmung.

Nun spielt auch der lokal entstehende Wind eine Rolle. Analog zum Meer, erwärmt sich auch das Seewasser des Genezareth langsamer im Vergleich zur Erdoberfläche, welche den See umgibt. Deutlich wird der Unterschied anhand der jeweils vorherrschenden Temperaturen. Während im Sommer die Durchschnittstemperatur der Wasseroberfläche auf dem See rund 28 Grad beträgt, erhitzen die Felsen am Ufer auf bis zu 50 Grad. Dieser enorme Temperaturunterschied zwischen Land und Wasser, verursacht starke Luftbewegungen. Es kommt zu starkem Seewind, der an die Ufer weht. Dieser Effekt wird maßgeblich durch die Größe des Sees beeinflusst. Umso höher das Wasservolumen, desto stärker sind die Unterschiede der meteorologischen Parameter, die für die Windentstehung benötigt werden. Selbstverständlich beeinflussen verschiedenste weitere Faktoren die genauen Verhältnisse des Windes und die Windrichtungen. Beispielsweise ist der Wind im Norden und Süden – wo der Jordan ein- und abfließt – schwächer, da sich dort weniger Steilhänge befinden und mehr Vegetation vorherrscht. Letztlich sind die Winde und Windrichtungen um ein Vielfaches komplexer, als es hier dargestellt werden kann Es vermischen sich auch verschiedenen Windsysteme, was zu besonderen Windbewegungen und Verwehungen führt. Ebenfalls unterscheiden sich die Winde im Winter, da hier andere Temperaturen und Verhältnisse vorherrschen.

Vom Fallwind zur Windstille

Zusammenfassend und vereinfacht lässt sich festhalten, dass drei Aspekte die Winde am See Genezareth besonders machen. Erstens die Geographie, also die Lage Israels am Meer, die tiefliegende Jordanebene und die steile Topographie um den See herum. Zweitens die Winde, die vom Mittelmeer her entstehen. Sie wehen nach Israel hinein und erreichen den See aufgrund kurzer Distanzen. Drittens der Wind, welcher am See Genezareth selbst entsteht. Aufgrund des hohen Wasservolumens und der enormen Temperaturunterschiede entsteht ein starkes lokales Windsystem.

Doch für Jesus stellten die Naturgesetze der Meteorologie und die besondere Geographie Israels letztlich kein Hindernis dar. Wir lesen, dass Lukas schließlich berichtet (Lukas 8,24b-25 LUT): „Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es ward eine Stille. Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie fürchteten sich aber und verwunderten sich und sprachen untereinander: Wer ist dieser, dass er auch dem Wind und dem Wasser gebietet und sie sind ihm gehorsam?“.

 

Quellen

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