Wie die Familie Bibas zum Symbol für die Tragödie des 7. Oktober wurde
Es ist Mittwoch, der 26. Februar 2025, als ich vormittags die Nachrichten einschalte und israelische Fahnen sehe. Ich klicke auf den Livestream und bemerke erstaunt, dass es sich um eine Liveschaltung des Trauerzuges für die Familie Bibas handelt. Endlich – nachdem Deutschland so furchtbar still war in den vergangenen mehr als 500 Tagen. Kaum ein Politiker hat sich für die Geiseln stark gemacht, die wenigsten haben die Familie Bibas erwähnt. Und das, obwohl sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Mir kommen Tränen in die Augen, als ich die Liveaufnahmen von hunderten und hunderten von Autos sehe, die am Straßenrand stehen und so ihren Respekt für die drei Menschen ausdrücken, deren sterbliche Überreste vorbeigefahren werden in die Richtung ihres Zuhauses. Eine Kolonne von schier unzähligen Motorrädern fährt hinterher, unzählige Israelfahnen säumen den langen Trauerzug, viele tragen das Symbol für das Hoffen um das Leben der Geiseln auf dem Davidstern: die gelbe Schleife.

Die Terroristen verwüsteten das Haus und verschleppten die Bibas in den Gazastreifen. (gemeinfrei auf Avreymaleh, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons)
Ein Blick zurück
Als am 7. Oktober 2023 die Social Media Netzwerke mit Aufnahmen von Bodycams von Terroristen der Hamas und ihrer Partnerorganisationen geflutet werden, wird der Welt eine Seite der Menschheit gezeigt, die viele im Westen nicht für möglich hielten. Bis heute verdrängen oder leugnen viele Muslime, aber auch europäische Bürger, was passiert ist – wenn etwas nicht in mein Weltbild passt, ist es leichter, es wegzuschieben, selbst wenn es Beweise von den Tätern selbst gibt. Unfassbar brutale Szenen von Ermordungen, Vergewaltigungen und Raubzügen werden ungefiltert und unzensiert live gezeigt. Während Videosequenzen und Bilder von toten und verletzten Israelis, von Schießereien und Explosionen, blutverschmierten Betten und verbrannten Häusern zu sehen sind, sticht ein Anblick besonders heraus. Ein junger Vater und seine Frau werden von Terroristen aus ihrem Haus gescheucht. Das Gesicht der Mutter ist angstverzerrt. Ihre beiden kleinen rothaarigen Söhne, neun Monate und vier Jahre, drückt sie an ihre Brust. Sie hat anscheinend noch schnell eine Decke um sie geschlungen, als wenn sie sie so beschützen könnte vor dem, was kommen mag. Die Namen der Familie: Yarden Bibas (während der Entführung 34 Jahre), Shiri Bibas (32), Ariel (4 Jahre) und Kfir (9 Monate). Die Terroristen bringen die Familie nach Gaza, wo Yarden von seiner Frau und den beiden Kindern getrennt gefangen gehalten wird. Nach nur etwa einem Monat, schon im November 2023 wird Yarden Bibas von der Hamas gezwungen, in einem ihrer perfiden Propagandavideos mitzuspielen. Darin wird ihm bekannt gegeben, dass Shiri und die beiden kleinen Söhne bei einem Luftangriff durch die israelische Armee ums Leben gekommen seien. Yarden bricht zusammen.

Die Hamas-Terroristen filmten live die ganze Entführung der Familie Bibas. Seitdem ist dieser Screenshot überall zu sehen. (gemeinfrei zu verwenden auf https://en.wikipedia.org/wiki/File:Shiri_Bibas_and_children_kidnapped_-_Hamas_Body_cam_photo.jpg#filehistory)
Die Familie Bibas als Symbol für den Horror des 7. Oktober
Das Bild von Shiri, die ihre beiden kleinen Jungen in einer Decke eingehüllt an ihre Brust drückt, verfolgt mich. Jeden Tag und jede Nacht sehe ich es vor meinen Augen. Ich bin selbst Mutter eines Sohnes, der jetzt nur etwas älter ist, als Kfir es war, als ihm sein Leben geraubt wurde. Mich verfolgt der Gesichtsausdruck von Shiri. Es scheint ein Sinnbild für die unermessliche Angst und den maßlosen Terror zu sein, die Israel an jenem Tag, dem 7. Oktober 2023 erlebte. Als Frauen vor ihren Freunden und Familien vergewaltigt und dann ermordet wurden. Als jüdische und arabische Israelis sich in Bunkern versteckten und Granaten durch Türspalte geworfen und einige aus den Gruppen der Schutzsuchenden vor den anderen zerfetzt wurden. Als Familien an Stühle gefesselt und voreinander nach und nach abgeschlachtet wurden. Als Kindern ihren Eltern und Eltern ihren Kindern beim Sterben zusehen mussten. Als ganze Familien von Terroristen und palästinensischen Zivilisten nach Gaza verschleppt wurden – so wie die Familie Bibas.
Bis heute geistert der Screenshot von dem Bodycam-Video durch das Internet, das die rothaarige Shiri mit ihren beiden ebenso rothaarigen Jungen zeigt. Ihr Gesicht scheint einen besonderen Vers aus der Bibel zu verkörpern, den Christen aus einem anderen Kontext kennen: So spricht der HERR: Man hört Klagegeschrei und bittres Weinen in Rama: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder; denn es ist aus mit ihnen. (Jer 31,15 LUT) Wir kennen den Vers, wenn es um die Ermordung der kleinen Jungen in Bethlehem geht, als Herodes der Große von dem neugeborenen König der Juden gehört hat und es mit der Angst zu tun bekommt. In Israel wird eigentlich der nachfolgende Vers für die Hoffnung auf die Rückführung von israelischen Geiseln verwendet – doch Shiris Gesichtsaudruck lässt mich bei dem obigen Vers stehen bleiben. So viele Mütter weinen seit dem 7. Oktober um ihre ermordeten und verschleppten Kinder, deren Schicksal ungewiss ist.

Der israelische Präsident Isaac Herzog spricht 2024 während des World Economic Forum in Davos von dem Schicksal der Bibas-Familie. (Bild gemeinfrei auf Amos Ben Gershom / Government Press Office of Israel, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons)
Doch wäre Shiri wohl in der Menge der Opfer untergegangen, wären da nicht diese beiden kleinen Jungen auf ihren Arm. Die beiden stehen wie niemand anderes für die Wehrlosigkeit der Zivilisten, die von den Terroristen abgeschlachtet, verschleppt und gefoltert wurden. Sie stehen wie niemand anderes für die Unschuld der Opfer des Massakers.
Fragen
Es ist Ariel, der Vierjährige, der in dem Video unter der Decke hervorlugt. Er hat einen Schnuller im Mund. Unweigerlich schießen mir Fragen durch den Kopf: Hat seine Mutter ihm den Schnuller noch gegeben, weil er Angst hatte, als die Terroristen in das Haus gestürmt kamen? Was hat Shiri ihren Söhnen sagen können, welche Worte können einer Mutter in einer solchen Situation einfallen? Was haben die Kinder gehört, gesehen, gedacht, gefühlt? Kann ein so kleiner Mensch ein solches Grauen überhaupt schon ermessen? Kann ein Kind überhaupt verstehen, dass der einzige Grund, warum ihn jemand entführen oder ermorden will, schlicht seine Identität ist, dass sein Verbrechen ist, jüdisch zu sein, Israeli zu sein – dass es Menschen gibt, die ihn nur dafür abgrundtief hassen?
Yarden Bibas gibt während seiner Trauerrede bei der Beisetzung seiner Familie nur einen kleinen Einblick in das Geschehen vor der Verschleppung. Als die Familie im Schutzraum ihres Hauses saß, habe er Shiri gefragt, ob sie kämpfen oder sich ergeben sollten. Sie hätte gesagt, er solle kämpfen. Anscheinend hatte er eine Waffe bei sich und versuchte, seine Familie gegen die Terroristen zu verteidigen. Es funktionerte nicht. “Shiri, es tut mir leid, dass ich euch nicht beschützen konnte. Wenn ich nur gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich nicht geschossen.”1https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025) Die Worte von Yarden während seiner Rede lassen einen sprachlos zurück. Die Trauer und Zebrochenheit des Ehemannes und Familienvaters, der vor dem Grab seiner Familie steht, lässt einen erschüttert zurück.

Yarden Bibas wurde am 1.2. von seinen Eltern und seiner Schwester in Empfang genommen. (gemeinfrei auf / IDF Spokesperson’s Unit)
Das Unaussprechliche
Ich erinnere mich an den Moment, als mein Mann, selber jüdischer Israeli ist, mir die israelischen Nachrichten vorlas. Am nächsten Tag sollten wieder drei Geiseln freikommen. Es waren alles Männer. Unter ihnen war Yarden Bibas. Nach 484 Tagen in der Gefangenschaft der Hamas kam er am 1.2.2025 endlich frei. Abgemagert sah er aus, als wir die Livebilder sahen. Als Yarden auf der Bühne zwischen bewaffneten Terroristen stand, war uns klar, dass die Hamas damals nicht gelogen hatte, wie sie es schon öfter getan hatte, wenn es im das Schicksal entführter Israelis ging: Shiri, Ariel und Kfir mussten tot sein. Denn der Deal zwischen Israel und der Hamas besagte, dass Frauen und Kinder vor Männern freigelassen werden sollten.
Es dauerte noch knapp drei Wochen, bis die Hamas ankündigte, die Leichen der Bibas an Israel zu übergeben. In einer grausamen Zeremonie wurden die Toten Israelis gedemütigt. In Filmaufnahmen im Internet ist zu sehen, wie palästinensische Kinder mit dem Banner mit den Gesichtern der Bibas und Oded Lifshitz spielen und den Bibas-Kindern die Augen auskratzen wollen.
Nach wenigen Tagen steht Daniel Hagari, der Sprecher des IDF, vor einer Kamera und muss das Unaussprechliche bekannt geben: Die beiden Kinderleichen wurden von der Forensik untersucht. Es handelt sich tatsächlich um die Bibas-Jungen. Doch wurden sie nicht von einer Bombe getötet, wie die Hamas gesagt hatte. Yarden Bibas habe ihn gebeten, der Welt zu erzählen, was seinen Kindern angetan wurde: Die Mediziner konnten nachweisen, dass jemand die beiden kleinen Kinder mit bloßen Händen ermordet hatte. Anschließend hätten die Terroristen versucht, es so aussehen zu lassen, als sei ein israelischer Luftangriff schuld gewesen. Diese Aussage ist mehr als genug, um sich das Ausmaß des Vergehens der Hamas an den Kindern vorzustellen.
Gleichzeitig stellte sich heraus, dass die Frauenleiche nicht Shiri war. Nach Tagen wurde sie endlich übergeben. Zu ihrer Todesursache schweigen alle Medien bisher. Stattdessen gibt eine Meldung bekannt, dass die Familie darum gebeten hatte. Vielleicht ist es besser so, denn manches bleibt einfach unaussprechlich.

In Café reservierte symbolisch einen Tisch für die Familie Bibas, um sich für ihre Freilassung einzusetzen. (gemeinfrei auf Avi1111 dr. avishai teicher, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons)
Eine Familie bewegt ganz Israel
Wie niemand anderes steht die Familie Bibas als mahnendes Symbol für das Grauen des Judenhasses, das schon lange in radikalisierten Muslimen im Nahen Osten schlummerte und sich auf furchtbare Weise am 7. Oktober 2023 bahnbrach. Wie niemand anderes steht diese Familie für die unfassbare Tragik des Massakers und für die Trauer, die Israel, aber auch Juden und Israelis weltweit seitdem nicht mehr loslässt. Unzählige Cartoons, Bilder, Posts, Memes und künstlerische Darstellungen von der Familie und vor allem Shiri und den beiden Jungen sind im Internet, aber auch in ganz Israel zu sehen. Als ich Bilder von Art und Street Works in Israel sehe, denke ich wieder einmal, dass das Land, das ich so sehr liebe, dass die Heimat meines Mannes nicht mehr dieselbe ist, die es einmal war.

Tausende Israelis säumen die Strecke, die der Trauerzug nimmt. (gemeinfrei auf Oren Rozen, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons)
Abschied
Während ich dem Livestream der Trauerfeier für Shiri, Ariel und Kfir folge, liegt mein einjähriger Sohn an mich gekuschelt neben mir und schläft. Mir laufen Tränen über das Gesicht, während ich den Reden lausche. So viele Menschen sind gekommen, um sich zu verabschieden. Am Grab stehen betende Männer. Und Yarden sitzt in der ersten Reihe neben seiner Schwester. Er trägt eine orangene Kippa – sie steht für die roten Haare seiner Frau und seiner Kinder. Der Vater und Ehemann beendet seine Trauerrede an seine beiden Söhne und seine Frau mit den berührenden Worten: “Ich habe euch noch so viel zu erzählen, aber das hebe ich mir für später auf, wenn wir allein sind.”2https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)
Shiri, Ariel und Kfir wurden gemeinsam in einem Sarg auf dem Friedhof nahe des Kibbuz Nir Oz neben Schiris Eltern beigesetzt. José Luis (Yossi) Silberman and Margit Shnaider Silberman wurden am 7. Oktober von der Hamas ermordet. Drei Generationen einer jüdischen Familie liegen nun auf dem Tsoher Regional Cemetery nebeneinander, alle brutal und viel zu früh aus dem Leben gerissen. Doch die Erinnerung an das Schicksal von Shiri, Ariel und Kfir wird noch lange fortleben. ז’ל – Möge die Erinnerung an sie zum Segen sein. Und möge Gott Yarden und allen Angehörigen der Opfer des 7. Oktober beistehen.
Ein abschließendes Wort vom Leiter des Instituts Berthold Schwarz:
Als Christen stehen wir angesichts dieses bestialischen Terrors an Juden in der Verantwortung, nicht dem Hass in uns Raum zu geben, auch nicht der Rache oder der Vergeltung in Worten oder gar Taten. Wir suchen Zuflucht bei dem HERRN, der unsere Hilfe, unser Trost und Stärke ist, den wir im Gebet und Flehen anrufen, dass ER sich in Gerechtigkeit der Sache annehmen möge:
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Rum 12,17-21 LUT)
- 1https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)
- 2https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)
Quellen:
https://www.juedische-allgemeine.de/israel/lebt-wohl-liebe-gingim/ (Stand 1.3.2025)
https://www.juedische-allgemeine.de/israel/tausende-saeumen-beerdigungsprozession-fuer-shiri-ariel-und-kfir-bibas/ (Stand 1.3.2025)
https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)
https://de.wikipedia.org/wiki/Entf%C3%BChrung_der_Familie_Bibas (1.3.2025)
https://en.wikipedia.org/wiki/Kidnapping_and_killing_of_the_Bibas_family (1.3.2025)
- 1https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)
- 2https://www.juedische-allgemeine.de/israel/ich-habe-euch-noch-so-viel-zu-erzaehlen/ (Stand 1.3.2025)