Wandel in Israel: Waffe statt Talmud für Ultraorthodoxe

Die Nachricht ist so revolutionär und die Diskussion so endlos gewesen, dass gestern Abend sogar die Tagesschau darüber berichtete: In Israel müssen nun auch die ultraorthodoxen Juden zur Armee.

Seit Jahren herrscht im Heiligen Land eine hitzige Debatte über die Wehrpflicht für alle. Seit der Staatsgründung Israels waren junge Männer, die sich vollzeitlich dem Thorastudium widmeten, durch das sogenannte „Tal-Gesetz“ von dieser bürgerlichen Pflicht ausgenommen. Ultraorthodoxe verweigerten bisher zu einem Großteil den Wehrdienst mit der Begründung, dass dieser die Ausübung ihres Glaubens erschwere bis unmöglich mache: So besteht in Israel die Armee sowohl aus Männern als auch aus Frauen – dabei liegt der Frauenanteil bei einem Drittel – und dienen oft gemeinsam, zudem gibt es Einsätze am Sabbat, ist das Essen nicht koscher uvm. Dem wurde jedoch für die mehreren tausend bisher bereits dienenden ultraorthodoxen Soldaten Abhilfe geschaffen – es gibt gesonderte Einheiten bei den israelischen Streitkräften, in denen die Einhaltung der jüdischen Gebote ermöglicht wird. Dazu gehören das Bataillon Netzah Yehuda, das vor allem im Westjordanland aktiv ist, sowie die dem Technologie- und Logistiksegment der Luftwaffe angehörige Gruppe Shahar.

Das Thema hat in letzter Zeit auch deshalb an Relevanz zugenommen, weil die Anzahl der streng religiösen Juden aufgrund der hohen Geburtenrate in diesem Milieu ständig steigt. Betraf die Befreiung von der Wehrpflicht im Jahre 1948 nur etwa 400 junge Männer, sind es heute um die 70.000 Männer, die der Armee fehlen.

Die Debatte nahm an Brisanz zu, als sich im Februar 2012 der oberste Gerichtshof mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gegen eine Freistellung der Ultraorthodoxen von der Armee stellte (wir berichteten). Sechs der neun Richter zitierten dabei Numeri 32,6, um ihr Urteil zu begründen: „Sollen eure Brüder in den Krieg ziehen, während ihr selbst hier bleibt?“ Im Juli desselben Jahres verkündete daraufhin Benjamin Netanjahu von nun an ultraorthodoxe Juden in den Wehrdienst zu berufen. Dies war eine Übergangslösung gewesen, ein neues Gesetz sollte nach den Neuwahlen im Januar erarbeitet werden.

Jetzt ist es soweit: Die Knesset stimmte gestern mit 67 von 120 Stimmen für den neuen Gesetzesentwurf, der bis 2017 über ein Quotensystem stufenweise umgesetzt werden soll. Dies würde bis 2017 um die 5200 Ultraorthodoxe betreffen. In Zukunft erwarten Wehrdienstverweigerer in der Überganzsphase finanzielle Sanktionen und anschließend eine Haftstrafe – mit Ausnahme von etwa 1800 herausragenden Jeschiva-Schülern, die sich weiterhin dem Bibelstudium widmen dürften.

Die aus ultraorthodoxen, linken und liberalen Kräften bestehende Opposition boykottierte die Abstimmung, wobei die sozialdemokratische Avoda-Fraktion verkünden ließ, dass sie das Gesetz befürworte. Mosche Gafni von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum bezeichnete die aktuelle Entwicklung als das Ende der israelischen Demokratie. Er sagte voraus, dass sich kein Talmudschüler für die Armee rekrutieren lassen werde.

In der Tat gab es vor und nach der Knessetabstimmung immer wieder massive Proteste seitens der Haredim. So veranstalteten sie Anfang März mit rund 300.000 Teilnehmern in Jerusalem eine der größten Demonstrationen in der Geschichte des Staates – allerdings versammelten sie sich einzig und allein zum Gebet. Sie vertrauen noch jetzt darauf, dass Gott sie trotz der Gesetzesneuerung von dem Armeedienst verschont und ihren Boykott unterstützt. Gegenüber der Tagesschau ließ Rabbi Benjamin Sofer von der Thora-Schule Jerusalem verlauten, dass das Gesetz ganz einfach ignoriert werden würde.

Es scheint also spannend zu bleiben. Der neue Beschluss sieht vor, dass, wenn das Quotensystem nicht funktioniert, ab 2017 alle strenggläubigen Juden ab 21 Jahren einberufen werden. Finanzminister Yair Lapid hält es derweil für normal, dass solche Umwälzungen nicht ohne Widerspruch geschehen und gibt sich zuversichtlich, dass sich die Wogen glätten werden. Ähnlich prognostizierte Wissenschaftsminister Jakov Perry gestern: „Ab morgen werden sich Tausende Haredim dem Arbeitsmarkt anschließen, aus dem Kreislauf der Armut heraustreten und sich aktiv an der Wirtschaft des Staates Israel beteiligen. Ein Gesetz ist kein journalistischer Kommentar, kein Slogan und auch keine Schlagzeile in den Wochenendzeitungen. Es ist dazu bestimmt, einen historischen Wandel in der israelischen und in der ultraorthodoxen Gesellschaft einzuleiten.“

Mit ihm hält ein Großteil der israelischen Bürger das neue Gesetz für einen Schritt in die Richtung einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Denn bisher leben viele kinderreiche ultraorthodoxe Familie von Sozialhilfe und profitieren von Subventionen, auch die Thoraschulen werden vom Staat finanziert. Deshalb wird mit der allgemeinen Wehrpflicht auch darauf gehofft, dass die jungen Männer im Anschluss eine Berufsausbildung begehen und in die Arbeitswelt integriert werden. Die wirtschaftlichen Folgen, die dieser Plan in Aussicht stellt, sind allen ersichtlich.

Zur Zeit müssen junge Männer drei Jahren, junge Frauen zwei Jahre zum Militär. Der Zeitraum für die Männer soll im Zuge der Reformen allerdings von 36 auf 32 Monate verkürzt werden. Verheiratete Frauen sind in Israel vom Grundwehrdienst befreit und, wenn sie schwanger sind oder Kinder haben, auch vom Reservedienst. Insofern sind auch nach 2017 nur wenige ultraorthodoxe Frauen in der Armee zu erwarten.

(jp)

 
Quellen:
http://www.israelnetz.com/innenpolitik/detailansicht/aktuell/ultraorthodoxe-muessen-zur-armee/#.UyGEQoXR47A
http://www.israelnet.de/frauen_in_israel.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Frauen_im_Milit%C3%A4r#Israel
http://www.tagesschau.de/ausland/israel-wehrpflicht100.html
http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts47242.html
 

 

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