„Rechtsspruch statt Rechtsbruch“ – der Gerichtsprozess im Antiken Israel

Beim Lesen des Alten (oder auch des Neuen) Testaments begegnen dem Leser bald Stellen, die mit den Themen Recht, Gesetz, Rechtsprechung, Gericht u.Ä. zu tun haben. Sie finden sich über die ganze Bibel verstreut in völlig verschiedenen Kontexten. Unter Mose und dem durch ihn vermittelten Gesetz Gottes entwickelt sich ein juristisches System (2Mose 18,13-26; vgl. 5Mose 1,9-17). Die Propheten kritisieren ihr Volk vielfach über ungerechte Rechtsprechung (vgl. z.B. Amos 5,7-15). Der Psalmist fleht Gott an, ihm Recht gegen ungerechte Ankläger zu verschaffen (Ps 35,19-24). Hiob will in einen Rechtsstreit mit Gott treten (Hiob 13). Jesus erzählt von einer Witwe, die einen ungerechten Richter bittet, ihr Recht zu verschaffen (Lukas 18,1-9). „Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“ (Lukas 18,3). Die Beispiele ließen sich mehren.

Rechtstexte dieser Art sind durch einen markanten Wortlaut erkennbar. Mose spricht zu den als Richtern eingesetzten Ältesten seines Volkes: „Hört eure Brüder an und richtet recht, wenn einer etwas mit seinem Bruder hat oder mit dem Fremdling, der bei ihm ist. Beim Richten sollt ihr die Person nicht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen und vor niemand euch scheuen; denn das Gericht ist Gottes. Wird aber euch eine Sache zu schwer sein, die lasst an mich gelangen, damit ich sie höre.“ (5Mose 1,16.17). Im Gleichnis Jesu bittet die Witwe den Richter: „Schaffe mir Recht gegenüber meinem Widersacher!“ (Lukas 18,3).

Aber wie hat ein Gerichtsprozess im antiken Israel praktisch ausgesehen? Wo hat er stattgefunden? Wer war daran beteiligt? Was ist dabei geschehen? Das Folgende gibt einen Einblick in den Gerichtsprozess des antiken Israel[1], mit Referenzen zu biblischen Beispielen.

Bedingungen für einen Gerichtsprozess

Ausgangssituation für einen Gerichtsprozess im antiken Israel war oft ein Streit mit kleinen oder schwerwiegenden Folgen, der auf die eine oder andere Weise den Frieden der Gemeinschaft bedrohte. Dies konnte z.B. zwei Privatpersonen in Sachen des Leihrechts betreffen. Das mosaische Gesetz regelte Israels Leben in verschiedenen Bereichen. Obwohl es feinere Unterscheidungen gab, lassen sich doch diese großen Bereiche erkennen: Strafgesetze, Zivilgesetze, Familiengesetze, kultische Gesetze, Sozialgesetze[2] In privaten Streitfällen von kleinerem Ausmaß gab es die Gelegenheit für die Beteiligten, den Streit unter sich und ohne Einschaltung der Richter beizulegen. Gewichtigere Fälle betrafen jedoch notwendigerweise die ganze lokale Gemeinschaft. So konnte z.B. ein Todesfall aufgrund eines stößigen Rindes durch Vertreter der öffentlichen Gemeinschaft als Rechtsfall behandelt werden (vgl. 2Mose 21,29). Durch die Einschaltung der Ältesten, die als lokale Richter fungierten (s.u.), wurde der Beginn des Gerichtsprozesses markiert.

Die Parteien werden zum Ort des Prozesses vorgeladen

Kam es zur Einschaltung der Richter, dann war der Ort der Zusammenkunft das sogenannte „Tor“ (vgl. Deuteronomium 16,18; Amos 5,10; Spr 22,22). Damit ist einerseits der freie Platz hinter den Toren innerhalb einer mit Mauen befestigten Stadt, andererseits auch die Sitzgelegenheiten in Innenraum des Tordurchgangs gemeint. Dieser Ort war jedoch nicht für Rechtsangelegenheiten reserviert. Er war ein Ort für diverse öffentliche Angelegenheiten. Das „Tor“ nahm in antiken Städten gewissermaßen die Funktion eines Marktplatzes ein und war für die Männer der Stadt in vielerlei Hinsicht der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Hier wurden nicht nur Rechtsangelegenheiten geregelt, sondern auch Volksversammlungen gehalten (vgl. Nehemia 8,1) und Verträge angeschlossen (vgl. Ruth 4,1ff). Wurde an diesem Ort („im Tor“) ein Rechtsstreit vollzogen, war dieser Prozess der ganzen Öffentlichkeit zugänglich.

Bevor der Prozess beginnen konnte, mussten die beteiligten Parteien vorgeladen werden. Diese Verantwortung fiel dem Ankläger zu. Die Gerufenen waren allem Anschein nach verpflichtet, durch ihre Gegenwart und Teilnahme zur Streitschlichtung beizutragen. Nur männliche Vollbürger waren in der rechtlichen Position, einem solchen Prozess beizusitzen. Rechtlich minderbemittelte wie Witwen und Waisen brauchten einen männlichen Vertreter, der ihre Rechtsangelegenheiten für sie führte (vgl. Jesaja 1,17).

Der Prozess

Der Gerichtsprozess verläuft grundsätzlich ausschließlich mündlich.[3] Der eigentliche Prozess begann mit der Darlegung der Anklage durch den Kläger. Der Kläger richtete sich nicht an den Angeklagten, sondern sprach von ihm in der dritten Person und adressierte die Richter. Er erklärte genau, was dem Angeklagten vorgeworfen wurde (vgl. z.B. die Szene 1Könige 3,16-28, wo König Salomo als Richter fungiert). Nach seiner eigenen Rede wurden die Zeugenaussagen herangezogen, welche die Anklage bestätigten (vgl. z.B. 1Kö 21,11).

Anschließend kam der Angeklagte zu Wort. Er brachte seine Verteidigung vor und konnte seinerseits gegebenenfalls Zeugen benennen, die seine Aussagen bestätigen konnten. Eine erfolgreiche Verteidigung konnte grundsätzlich auf zwei Wegen geschehen: Der Angeklagte musste entweder davon überzeugen, die Tat nicht begangen zu haben, oder hinreichend erklären, warum die begangene Tat keine Rechtsverletzung war.

Beide Parteien konnten Zeugen hinzuziehen, um ihre Aussagen zu bestätigen. Jedoch konnten sich Zeugen auch aus eigener Initiative zu Wort melden. Die Zeugen waren durch das Mosaische Gesetz verpflichtet, die Wahrheit zu sagen (vgl. z.B. Deuteronomium 5,20). Im Bibel-Hebräischen wird für den Ankläger und den Zeugen mithin dasselbe Wort (hebr. עֵד ‘ed) verwendet. Dies war wohl einer der Gründe dafür, dass Rechtsangelegenheiten nur aufgrund von mindestens zwei Zeugen entschieden werden sollen (vgl. Deuteronomium 19,15).

Als Richter fungierten die Ältesten des Ortes (vgl. Ruth 4,2). Älteste und Richter werden oft in einem Atemzug genannt (5Mose 21,2; Josua 8,33; 23,2; 24,1). Jedoch war Position des Richters gegenüber der eines Ältesten ein Amt. Richter sollte sich das Volk erwählen (5.Mose 16,18). Die Wahl der Richter ging vom Volk aus und geschah im eigenen Interesse, denn die Richter repräsentierten die ganze soziale Gemeinschaft, deren Frieden durch den Streit bedroht war. Da der Rechtsstreit ein öffentlicher Prozess war, war diese Gemeinschaft in der Regel zugegen. Das war auch notwendig, denn die richterliche Entscheidung hatte den Zweck, den gestörten gemeinschaftlichen Frieden wiederherzustellen, und war deshalb auf die Zustimmung dieser Gemeinschaft angewiesen.

Wurden Anklage und Verteidigung sowie Zeugenaussagen angehört – dieser Prozess konnte mehrere Wortwechsel aller Parteien umfassen –, übten die Richter ihre Aufgabe aus. Sie berieten sich zwar ausschließlich untereinander, jedoch vor den Augen und Ohren der öffentlichen Versammlung. Wurde der Angeklagte für schuldig befunden, entschied das Richtergremium weiterhin über das Strafmaß. Mit dem Entscheid der Richter über Schuld (und Strafmaß) oder Unschuld war das Verfahren abgeschlossen.

Beispiel

Ein biblisches Beispiel eines Gerichtsprozesses findet sich in Jeremia 26. In der vorgerichtlichen Phase (V.1-9) werden die „Priester und Propheten und das ganze Volk“ Zeugen von Jeremias Unheils-prophetie gegen die Stadt Jerusalem und halten ihn für des Todes schuldig. Anschließend kommen für das nun folgende Gerichtsverfahren kommen die Beteiligten zusammen (V.10). Jeremia wird angeklagt (V.11). In dieser Anklage ist sogleich ein Vorschlag für das (Todes-) Urteil mitinbegriffen. Die Kläger fungieren als Zeugen der Tat: „[…] wie wir mit eigenen Ohren gehört haben.“ Jeremias Verteidigungsrede erfolgt (V.12-15). Aufgrund seiner Verteidigungsrede erfolgt das Urteil: Jeremia wird freigesprochen, da seine Tat als keiner Todesstrafe würdig bewertet wird (V.16-19).

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[1] Die Gerichtsbarkeit hat durch die Jahrhunderte vor der Zeitenwende Veränderungen durchlebt. Mit Antikem Israel ist hier in erster Linie nicht das vorstaatliche Israel gemeint. Zu dieser Zeit lag das Recht in einem viel größerem Maß bei den Familienoberhäuptern. Im Fokus steht hier die institutionalisierte Gerichtsbarkeit des Israel in der Zeit zwischen seinem Eintritt in das Land Kanaan und seiner Zerstreuung („Diaspora“), die Zeit also, den der Großteil der alttestamentlichen Geschichtsbücher und Propheten bezeugt.

[2] Diese Einteilung wurde von Christopher J. H. Wright, Old Testament Ethics for the People of God, S. 288-301 übernommen.

[3] Im ganzen Alten Testament ist Hiob 31,35 hierzu die einzige Ausnahme.

 

 

 

Quellen:

Boecker, Hans Jochen, Rechtsgeschichte, http://www.juedisches-recht.de/rec_bibel_heb_gerichtsverf.php (Zugriff vom 07.11.2020)

Schart, Aaron, Gerichtszene/Gerichtsrede, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19352/ (Erstellt im Juli 2014; Zugriff vom 05.11.2020)

Staszak, Martin, Gericht/Gerichtswesen (AT), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19340/ (Erstellt im März 2014; Zugriff vom 05.11.2020)

Kirn, O., Tor, in: Calwer Bibellexikon. Biblisches Handwörterbuch illustriert, Hg. Paul Zeller, 3. Auflage, Calwer Verlag, 1912

Kirn, O., Richter, Calwer Bibellexikon. Biblisches Handwörterbuch illustriert, Hg. Paul Zeller, 3. Auflage, Calwer Verlag, 1912

Wright, Christopher J. H., Old Testament Ethics for the People of God, 1. Auflage, InterVarsity Press: Downers Grove, Illinois, 2004.

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