Shalom, der Friedefürst kommt – einige Gedanken zu Lk 2,8-14

Mit der Geburt des Jesuskindes am Heiligen Abend kommt Gott im Kernland des alttestamentlichen Volkes Israel zur Welt, das damals unter römischer Oberhoheit stand. Heute wird Weihnachten als das große Fest des Friedens weltweit gefeiert. Viele bleiben dennoch kritisch: „Frieden auf Erde“ (V. 14 im Lobgesang der Engel)? Kann man denn – mit einem besonders argwöhnischen Blick auf den Nahen Osten – in einer friedlosen Welt, wie der unseren, tatsächlich von Frieden reden? Diese Sehnsucht nach Frieden bleibt letztlich auch im 21. Jahrhundert noch immer unerfüllt. Was bedeutet dann aber die Hoffnung von Weihnachten in einer friedlosen Welt? In jedem Fall ist Weihnachten nach wie vor eine Zeit, die uns „alle Jahre wieder“ auf die Geschichte und das Kraftpotenzial zu besinnen, welche dem Weihnachtsfest von seinen Ursprüngen her innewohnen.

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„8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

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Der narrative Kontext ist beinahe jedem Menschen bekannt: Es waren Hirten in der Gegend von Bethlehem. Es gab für sie gar keine Vorbereitungszeit auf die Ankunft des Sohnes Gottes: Der Engel des Herrn trat zu ihnen, plötzlich waren sie nicht mehr allein. Die Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie. Was für eine merkwürdige Begegnung: sie fürchteten sich sehr. „Fürchtet euch nicht“, ein Trostwort aus dem Mund des Engels. „Siehe, ich verkünde euch große Freude“: das ist buchstäblich Evangelium, die gute Nachricht, die frohe Botschaft. Eine Freude, die nicht nur den Hirten widerfahren wird, sondern dem ganzen Gottesvolk, ja, letztlich allen Menschen auf der Erde, die im Wohlgefallen Gottes stehen (V. 14).

„Denn euch ist heute ein Heiland (Retter) geboren, welcher ist Christus (der Gesalbte, der Messias), der Herr, in der Stadt Davids“ (V.11). In diesen Titeln bzw. Namen für das Kindlein von Bethlehem leuchtete die jüdische alttestamentliche Perspektive auf. Im Alten Testament (AT) ist es öfter von Heilanden (mittel- und althochdeutsch für Erlöser; gr. soter), von Rettern, die Rede. Es sind solche (z. B. Richter), die der Herr in schwerer Zeit zur Rettung Seines Volkes berufen hat (Ri 3,9; 2 Kö 13,5; Neh 9,27; Obd 21). Vor allem ist unser Gott selbst ein Heilandgott (1 Sam 14,39; Ps 17,7; Jes 43,3.11), der nun einen besonderen Heiland sendet. Dieser trägt den Titel Christus, d.h. er ist ein Gesalbter, hebräisch: Messias (Dan 9,25f.).

In Israel wurden Priester (2 Mo 29,7), Könige (1 Sam 2,10) und Propheten (2. Kön 2,9) für ihre jeweilige berufene Aufgabe mit Öl gesalbt. Der Neugeborene, von dem in unserem Bibeltext die Rede ist, ist ein Priesterkönig mit dem prophetischen Geist. Seine Geburt ereignete sich „in der Stadt Davids“ – eine Bekräftigung dessen, dass in Übereinkunft mit der AT-Prophetie er wirklich der Messiaskönig ist, der ja aus dem Hause Davids stammen sollte.

Auf der einen Seite Heiland der Welt, auf der anderen Seite ein unscheinbarer neugeborener Säugling in Windeln in einer Futterkrippe liegend, als Zeichen der äußeren Armut, der Demut und der bescheidensten Umstände der Familie des Neugeborenen – was für ein Kontrast. Warum lässt Gott seinen Sohn nicht als eine Art Superheld in königlichem Gewand mit einem großen Spektakel auftreten, sondern stattdessen in einem ärmlichen Bauerndorf Bethlehem außerhalb Jerusalems zur Welt kommen?

Es gibt einen wesentlichen Grund, wie wir bei Johannes dem Täufer und bei der Taufe Jesu sehen: „Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ (Mt 3,15). Jesus kam nicht nur, um zu sterben, sondern auch, um durch sein Leben Gottes Absichten zu demonstrieren. Seine Mission bestand darin, sich allen Anforderungen Gottes, auch denen im mosaischen Gesetz der Juden (Tora),  zu unterwerfen: als der ewige Logos, der eine menschliche Natur nimmt, von einer hebräischen Frau geboren und dem Stammbaum der Königsdynastie Davids zugerechnet. Es ist die Ankunft des Immanuel, des „Gott mit uns“ in Person, desjenigen, der zwar als Mittler, als universaler Retter auf die Erde kommt, der dennoch in einem bestimmten heilsgeschichtlichen Kontext des Bundesvolkes Israel in der Obhut Gottes aufwächst und dort Gehorsam lernen muss. Mit der Geburt Jesu beginnt die Erniedrigung Christi: sie zeigt die Bereitschaft dessen, der von Ewigkeit her Gott gleich, aber bereit war, sich seiner Herrlichkeit zu entledigen und den Status eines Knechtes anzunehmen (vgl. Phil. 2,6-11 u. ö.).

„Soll das der Heiland der Welt sein?“ Mögen auch die Hirten sich gefragt haben, als sie die Worte der himmlischen Heerscharen vernahmen, einer Botschaft, die sich kaum in menschlichen Worten beschreiben lässt. Eine große Schar von Engeln tritt aus den Tiefen der unsichtbaren Welt hervor und umgibt den Herrenengel. Der allererste „Weihnachtsgottesdienst“ überhaupt in der Menschheitsgeschichte, so könnte man sagen. Hier zeigt sich, was die Engel mit uns Menschen gemein haben: Sie staunen, loben, singen. Auch sie haben auf den Messias gewartet. Auch sie sehnen sich nach der Erlösung und nach der Neuschöpfung. Auch sie loben und danken, dass Gott jetzt seinen einzigartigen Heilsplan ausführt. Viel wichtiger als die äußere Erscheinung ist allerdings die Botschaft des Lobgesanges: Ein Lied, das nie wieder verstummen wird, sondern fortklingt durch alle Jahrhunderte hindurch, durch alle Gottesdienste der feiernden, anbetenden Gemeinde von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Ehre bei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen des Wohlgefallens.“ Wie oft ist dieser Vers Gloria in Excelsis musikalisch vertont worden, und wie oft und verschieden ausgelegt worden.

Dieser Anbetungshymnus ist ein sog. Parallelismus mit korrespondierenden Elementen Ehre/Frieden, Höhe/Erde, Gott/Menschen des Wohlgefallens. Im ersten Teilvers drücken die Engel aus: „Bei unserem Gott in den Himmelshöhen ist eine Herrlichkeit ohnegleichen offenbar geworden.“ Der Ausdruck Doxa (= Herrlichkeit, Ehre; hebr. Kabod) bedeutet bei dem Menschen „Ehre“ „Ansehen“. Bei Gott ist die Doxa sein einzigartiger Lichtherrlichkeitsglanz, seine unvergleichbare Heiligkeit und reine Schönheit. Die Engel preisen also die Geburt des Herrn als den Höhepunkt der irdisch offenbarten Herrlichkeit Gottes. So unermesslich bedeutsam war Gott die Menschwerdung seines ewigen Gottes-Sohnes. Das Kindlein zu Bethlehem, die größte Verherrlichung Gottes, ist vor allem der Ausdruck der Tiefe und Fülle Seiner Liebe zu Israel und zur Welt. Wenn der Anblick auf die Geburt des Herrn die Engel zum Staunen und Loben bringt, obwohl die Liebe gar nicht ihnen, den Engeln, sondern uns, den Menschen gilt, wieviel mehr sollen wir darüber staunen, Gott dafür loben und Ihm ein Neues Lied singen. Staunen, Loben, Singen für die Herrlichkeit Gottes! Wie Luther es 1524 in seinem fünfzehnstrophigen Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ staunend besingt: „Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering, dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel ass!“ (Str. 9). Oder wie Paul Gerhardt es in einem Lied unnachahmlich ausdrückte: „Ich steh´ an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben (Str. 1). (…) Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen (Str. 4).

Wir können aber die Brisanz dieses ersten Teilverses nicht erfassen, wenn wir nicht den zweiten hinzunehmen. „… und Friede ist auf Erden bei den Menschen des Wohlgefallens“. Was ist mit „Friede auf Erden“ gemeint? Den biblischen Begriff Frieden in allen seinen Facetten zu erläutern, würde den Rahmen sprengen. Ich habe eine knappe, intuitive Antwort für mich gefunden: mit Frieden ist kein anderer gemeint als die Person des Messias-Retters Jesus Christus. Ist aber eine solche Gleichsetzung gerechtfertigt?

Ich denke, dass sie das ist. Denn Jesus ist der verheißene Friedefürst (Jes 9,5), was bereits der Prophet Jesaja prophezeite. Es handelt sich um ein kurzes Zitat aus dem längeren biblischen Kontext einer Prophezeiung Jesaias.  In Eph 2,14 heißt es: „Er, nämlich Christus, ist unser Friede (unser Schalom). Und das erste Wort des Auferstandenen heißt: „Friede sei mit euch!“. Auch die rabbinische Auslegung bestätigt: „Der Name des Messias ist Friede.“ Jesus Christus ist der Friede in Seiner Person, der den Frieden wirkt und schafft. Während andere „Friedensfürsten“ (wie Hiskia, dem die Juden den Titel Sar-Schalom, Prinz des Friedens, geben) letztlich doch scheitern, will Jesus den endgültigen Frieden, den göttlich Schalom herbeiführen – unsere Versöhnung mit Gott. Daher: der Lobeshymnus der Engel könnte vereinfacht verstanden werden als: „Jesus, der Christus-Messias, ist Gottes Schalom-Friede auf Erden“.

Was ist nun mit dem Ausdruck „Menschen des Wohlgefallens“ gemeint? Wer sind die Menschen des Wohlgefallens? Sind das die Menschen, die alles tun, um Gott zu gefallen? Sind das die Menschen, die missionieren, evangelisieren, Gemeinde gründen, Gemeinde aufbauen? Der Ausleger Theodor Zahn meint: das sind Menschen, die gutwillig auf die Taten und Worte Gottes eingehen. Vulgata meint: das sind Menschen mit gutem Willen. Jedoch glaube ich persönlich, dass diese Auslegungen nicht ganz zutreffen. Denn: das würde weder zum vorangehenden Teilvers über die Herrlichkeit Gottes passen, noch zum Gesamtkontext der Weihnachtsgeschichte über den Heilsplan Gottes. Wer sind sie also, die Menschen des Wohlgefallens? Kann Gott überhaupt Wohlgefallen an Menschen haben?  Wohlgefallen an der verlorenen Menschheit in ihrem Unheilszustand?

Wenn ich das in eine Verbindung zum vorherigen Teilvers und Gesamtkontext sehe, dann leuchtet es mir ein: Dieses Wohlgefallen ist eine Äußerung der Gnade und Wohltat Gottes. Die Menschen erweisen Gott wegen ihrer Sünde nie Wohlgefallen. Aber Gott erweist durch Seinen Sohn Sein Wohlgefallen, seinen Frieden an uns!  Ist das nicht der kostbare Inhalt des ewigen Evangeliums überhaupt? Es geht hier nicht um unsere Werke, nicht um unsere Anstrengungen, nicht um unsere Hingabe und hier sogar in erster Linie nicht um unseren Glauben. Nichts von unserem subjektiven Verhalten ist hier im Blick. Es geht um die alles in den Schatten stellende Objektivität der Großtat Gottes von Weihnachten. In der Sendung des Sohnes Seines Wohlgefallens, und zwar hinein in diese Welt, ist diese Welt trotz Sünde und Verdammnis zum Gegenstand Seines Wohlgefallens geworden. Gott war in Christus und hat die Welt, die verlorene Welt, mit sich versöhnt. Es gibt deshalb Menschen, denen Gott Sein Wohlgefallen gab, weil Christus, die größte Verherrlichung Gottes auf die Erde kam und bei der Menschheit war. Auch heute wollen wir uns auf dieses Ereignis, dass der Retter dieser Welt in Bethlehem in Israel geboren wurde, und dessen verbundene Hoffnung des Friedens, besinnen. Shalom, der Friedefürst ist gekommen. Er lädt alle ein, ihm als dem Heiland-Erlöser und dem Messias-Gesalbten Gottes zu vertrauen. Diese Einladung gilt, bis er dann einst wiederkommen wird.

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