2000 Jahre alte verkohlte biblische Schriftrolle entziffert

Lange Zeit galten sie als verschlossene „Schatztruhen“, deren Inhalt nie ans Licht kommen werde. Die biblischen Schriftrollen von En-Gedi – von unschätzbarem Wert und ein hoffnungsloser Fall. Für fast ein halbes Jahrhundert lang wurden sie unter Verschluss gehalten. Niemand wusste, was darin geschrieben steht. Erst 2015 gelang es den Wissenschaftlern, das Geheimnis endgültig zu lüften.

Die Schriftrolle von En-Gedi, im verkohlten Zustand (rechts) und virtuell entrollt (links). Die Schrift tritt deutlich zutage. (Bild: Brent Seales / Science Advances)

 

Die En-Gedi-Schriftrolle: ein Schatz wurde geborgen

En Gedi oder auch Ein Gedi (hebräisch עֵין גֶּדִי; deutsch: „Quelle des Zickleins“ oder „Böckleinquelle“) gilt als die größte und schönste Oase in Israel. Eingezäunt wird es im Westen von den felsigen Gipfeln der judäischen Wüste und im Osten von den salzigen Ufern des Toten Meeres. Seit Jahrtausenden von jüdischen Gemeinschaften besiedelt ist es ein beliebter Ort für Wanderer. Seine biblische Bedeutung ist allgemein bekannt: Aufgrund seiner üppigen Vegetation und seiner Unzugänglichkeit war es bereits vor 3000 Jahren für den von König Saul verfolgten David ein ideales Versteck (1 Sam 24,1). 1970 wurden bei Ausgrabungen der historischen Synagoge von En-Gedi Fragmente verkohlter hebräischer Schriftrollen aus dem dritten Jahrhundert geborgen. Durch das trockene Klima der Gegend blieben sie erhalten. Nach ihrer Entdeckung lagen diese jedoch jahrzehntelang im Lagerraum des Archäologen Yosef Porath. Der Grund: sie sind so empfindlich und fragil, dass sie schon bei der geringsten Berührung zerbröseln. Dieser Schatzfund geriet in Vergessenheit – bis 2015.

 

Wissenschaft macht möglich: „virtual unwrapping“

Im September jenes Jahres kam es zu einer spektakulären Wende: Die Israel Antiquities Authority gab an einer Pressekonferenz bekannt, dass es gelungen sei, Teile einer völlig verkohlten Schriftrolle zu entziffern, ohne sie physisch zu entrollen. Das wissenschaftliche Verfahren wurde ein Jahr später im  Wissenschaftsmagazin „Science Advances“ dokumentiert. In ihrem Aufsatz „From damage to discovery via virtual unwrapping: Reading the scroll from En-Gedi“ schilderte die amerikanisch-israelitische Forschergruppe um William Brent Seales, wie sie die Rolle mittels einer Computersoftware virtuell entrollt und damit lesbar machte. Das aufwendige digitale 3D-Verfahren besteht aus drei Stufen. In einem ersten Schritt werden die Konturen der Lagen in den verkohlten Fragmenten rekonstruiert. Es folgt eine Untersuchung mittels Computertomografie (CT; ein bildgebendes Verfahren, das auf Röntgenstrahlung basiert), welche Helligkeitsunterschiede entlang der gewellten Flächen wiedergeben. Dieser Kontrast resultiert aus den unterschiedlichen Dichten von metallischer Tinte und Tierhaut, die damals als Schreibunterlage diente. In der abschließenden Stufe werden die gewellten Flächen mit digitalen Methoden geglättet und die verschiedenen Segmente zu einem Ganzen zusammengefügt. Auf diese Weise wird der Text virtuell rekonstruiert und lesbar. Anhand dieser speziellen Methodik wollen sich Wissenschaftler weiterhin darum bemühen, verborgene Inhalte weiterer antiker Schriftrollen zugänglich zu machen.

 

Geheimnis gelüftet: ein bekannter Bibeltext

Nun kam das Geheimnis der En-Gedi-Schriftrolle doch ans Licht. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem analysierten Schriftteil um eine Passage aus dem Buch Leviticus (3. Mose) handelt. Dieser Fund ist gerade für die biblische Altertumskunde von besonderem Interesse. Zwar ist sie jünger als die Schriftrollen vom Toten Meer, jedoch deutlich älter als die mittelalterlichen Bibelfragmente, die etwa in der Ben-Esra-Synagoge in Kairo gefunden wurden. Die Freude war entsprechend groß bei Emmanuel Tov von der Hebräischen Universität Jerusalem, der ebenfalls an der Studie teilnahm: „This is quite amazing for us, in 2.000 years, this text has not changed.“ Die verkohlte Ein-Gedi-Schriftrolle sei dabei – fügt der Experte betonend hinzu – zu 100 Prozent identisch mit der Version des Buches Levitikus, die seit Jahrhunderten bis heute in Gebrauch ist. Es ist ein starker physischer Beleg dafür, was schon lange von Wissenschaftlern vermutet wurde – nämlich, dass die heute verwendete Version der hebräischen Bibel 2.000 Jahre zurückreicht. Noam Mizrahi von der Universität Tel Aviv, ein weiterer Experte des Forschungsteams, blickt mit dem technologischen Fortschritt durchaus positiv auf die Zukunft der archäologischen Bibelforschung: „It’s not only what was found, but the promise of what else it can uncover, which is what will turn this into an exciting discovery.“

    T. Ma

 

Quellen:

Charlesworth, James Hamilton, Jesus and archaeology, Grand Rapids/MI 2006

Hartmann von Monakow, Lore / Thomas Hartmann, Dieses Land, das verwüstet war… Ein Gedi – Kibbuz am Toten Meer, Zürich 1982

Independent, Scientists Finally Read the Oldest Biblical Text ever Found, https://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/news/scientists-finally-read-oldest-biblical-text-ever-found-a7323296.html vom 11.09.2020

Israel Antiquities Authority, The Most Ancient Hebrew Scroll since the Dead Sea Scrolls has been Deciphered, http://www.antiquities.org.il/article_eng.aspx?sec_id=25&subj_id=240&id=4134 vom 11.09.2020

Neue Zürcher Zeitung, Verbrannt und doch nicht verloren,  https://www.nzz.ch/wissenschaft/archaeologie/biblische-schriftrollen-verbrannt-und-doch-nicht-verloren-ld.117951 vom 11.09.2020

Seales, William Brent / Clifford Seth Parker u. a., From damage to discovery via virtual unwrapping: Reading the scroll from En-Gedi, in: Science Advances, 2016/2, online version: https://advances.sciencemag.org/content/advances/2/9/e1601247.full.pdf vom 11.09.2020

The Times of Israel, 3D tech proves Hebrew Bible ‘unchanged for 2000 years’, https://www.timesofisrael.com/3d-tech-proves-hebrew-bible-unchanged-for-2000-years/#gs.f96mbc vom 11.09.2020

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