Winterreise – ein Leben in der Rückschau: Eine Rezension zum Dokumentarfilm „Winterreise“ (2019) von Anders Østergaard mit Bruno Ganz
„Welche Verantwortung tragen Gerettete für Zurückgebliebene?“ Diese Frage wird im Dokumentarfilm vom Regisseur von Anders Østergaard aufgeworfen. Dabei deckt die „Winterreise“ auf verstörende Weise viel Unangenehmes auf. Die Dokumentation beleuchtet auf sehr persönliche Weise die von Leid und Liebe geprägte Geschichte der jüdischen Eltern des US-amerikanischen Radiomoderators Martin Goldsmith.
Die Familie Goldsmith und eine Geschichte der Vergangenheitsverarbeitung
Eltern sind für Kinder, auch wenn sie erwachsen werden, unbekannte Wesen. Vielleicht kommt im Leben eines jeden Kindes irgendwann der Moment, in dem es sich fragt, welche Geschichte eigentlich die eigenen Eltern hatten bzw. haben. Denn: Schließlich ist die Geschichte der Eltern auch ein Teil der persönlichen Biographie. Lange wusste Martin Goldsmith nicht, was seine Eltern erlebten, bevor sie im Jahr 1941 aus dem von Hitler regierten Deutschland entkamen. Nach einem gemeinsamen Ausflug in die Wüste von Arizona fängt Martin an, seinem Vater Günther alias George Fragen zu stellen – ein aufdringlicher Annäherungsversuch, um den Vater besser verstehen zu können. Die unerwartete Konfrontation bringt so viele Erinnerungen aus den 1930er Jahren, aber auch die Schuldgefühle eines Überlebenden zurück. Martins Eltern waren beide talentierte Musiker. Doch nach 1935 durften sie als Juden ihre Berufe im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr ausüben. Sie wurden Mitglieder einer von den Nazis kontrollierten Propaganda-Organisation, des „jüdischen Kulturbunds“, bevor sie 1941 aus Nazi-Deutschland flohen.
Bruno Ganz in der Hauptrolle
Es war 2002, als Martin Goldsmith sich in seinem Interview-Buch „Die unauslöschliche Symphonie: Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte“ mit seinem Vater und dessen Vergangenheit befasst; seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Anders Østergaard hat nun das Werk in Form eines filmischen Essays für die Leinwand adaptiert. Herzstück des Films sind ganz zweifellos die nachgestellten Interviewpassagen mit Bruno Ganz (1941-2019) in seiner letzten Rolle als Vater des Buchautors, der im Film als Dreh- und Angelpunkt fungiert. Sehr ergreifend verkörpert Ganz im Film den inzwischen als Witwer allein lebenden Vater, der nur unter den bohrenden Fragen seines Sohnes die Schrecken der Vergangenheit zurück ins Gedächtnis kommen lässt. Ganz brilliert dabei mit seiner introvertierten Interpretation eines Mannes, der viele Erinnerungen tief vergraben hat, um weiterleben zu können.
Kreative Filmtechnik
Filmtechnisch nutzt die dänisch-deutsche Co-Produktion unter anderem Archivaufnahmen und historische Fotographien, die mit heutigen Bildern kontrastiert werden. Obendrein gibt es Spielszenen in Schwarz-Weiß, in denen Leonard Scheicher (Das schweigende Klassenzimmer) den Part des jungen Günther Goldschmidt verkörpert. Østergaard versetzt die Erzählung immer wieder mit dokumentarischem Material in historische Zusammenhänge. Dabei kommt es zu originellen filmischen Zusammenstellungen – etwa, wenn die Spielenden in historische Aufnahmen hineinmontiert werden; die Figuren laufen durch die Szenarien alter Fotografien und agieren mit dort abgelichteten Personen. Mit diesen technischen Tricks werden Effekte erzeugt, bei den die Grenzen zwischen der fiktiven Ebene seines Films und den sehr realen Begebenheiten überwunden werden.
Die ungelöste Spannung
Es ist grotesk und bemitleidenswert zugleich, dass sich die Verdrängungskunst durch das Leben Günther Goldsmiths und seiner gestorbenen Frau Rosemarie zieht. Die Bedrohung durch die Nazis nehmen sie lang nicht wahr: „Wir waren junge Musiker, wir wollten nur spielen.“ Ständig bringt sein Unwille, im Gedächtnis zwischen Verdrängung und Vergessen zu wühlen, die unaussprechbare Hilf- und Trostlosigkeit zum Ausdruck. Im Gespräch muss ihn der Sohn sogar an seine Herkunft erinnern: „Du bist so jüdisch wie Gefilte Fisch“. Auch diese Realität kann der Vater („Ich bin kein Fisch“) so schnell nicht an sich heranlassen, selbst an die eigene Bar Mizwa will er sich nicht erinnern können. Briefe der schließlich in NS-Lagern getöteten Verwandten aus Deutschland an das glücklich geflohene Paar deuten wohl auf schwere Gewissensbisse hin. In einer Szene steht der Vater vor vertrockneten Oleanderbüschen: „Wie konnte ich sie nur vergessen?“.
Im Filmessay Winterreise begibt sich der amerikanische Moderator Martin Goldsmith auf die Spuren seines Vaters, in der Entschlossenheit, das Leben seiner jüdischen Eltern in Nazi-Deutschland sowie später in den USA zu rekonstruieren. Bruno Ganz ist in seiner letzten Rolle zu sehen. Gekonnt werden in der Dokumentation Musik, Archivfotos und historische Bewegtbild-Aufnahmen mit fiktionalen Elementen verflochten. Entstanden ist ein emotional gewichtiger Geschichtsfilm über Judenhass und NS-Terror, aber auch über Identität, Heimatverlust, verdrängte Erinnerungen sowie die Verantwortung der Überlebten und der Nachwelt.
Quellen:
Filmrezension.de, Winterreise, https://www.film-rezensionen.de/2020/10/winterreise-2019/, vom 11.05.2021
Kino-Zeit, Winterreise (2019), https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/winterreise-2019, vom 11.05.2021
Moviepilot, Winterreise, https://www.moviepilot.de/movies/winter-reise, vom 11.05.2021
RND, Ergreifend, aber auch verstörend: Bruno Ganz‘ letzter Film „Winterreise“, https://www.rnd.de/kultur/ergreifend-aber-auch-verstorend-bruno-ganz-letzter-film-winterreise-H4JWY543BLNWTWMTDTAZDSQN2E.html, vom 11.05.2021
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