„Wie judenfeindlich ist Deutschland?“ – Eine erschreckende Bestandsaufnahme

Diese Woche jährt sich am 9. November die Reichspogromnacht zum 75. Mal und zu dieser Gelegenheit versuchte sich die ARD-Dokumentation „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland?“ vom 28. Oktober an einer Bestandsaufnahme: Um herauszufinden, wie es im heutigen Deutschland um die Judenfeindlichkeit bestellt ist, begaben sich die drei Autoren Jo Goll, Ahmad Mansour und Kirsten Esch anhand von drei Fragen auf eine Reise durch die Bundesrepublik:

Wie offen zeigt das rechtsnationale Lager in Deutschland seine Meinung?
Was denken Muslime über Juden?
Wie steht es um den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft?

Hier geht es zum Video: http://www.ardmediathek.de/das-erste/reportage-dokumentation/antisemitismus-heute-wie-judenfeindlich-ist-deutschland?documentId=17842046

Auch wenn in 45 Minuten kein vollständiger Rundumschlag gelingen kann und nicht alle Umfragen repräsentativer Natur waren, gelingt ihnen mit dieser Dokumentation doch ein interessanter Einblick in die Hintergründe, Motivationen und Ausprägungen von judenfeindlichen Gesinnungen in diesen drei so unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft, die zwar allesamt nichts miteinander zu tun haben wollen, sich aber in diesem Punkt doch ähnlicher sind als ihnen lieb ist.

Der TV-Journalist und Experte für Rechtsextremismus Jo Goll nimmt im ersten Drittel der Sendung das rechte Milieu unter die Lupe. Bei einem Fest der Nationalen wird der Kontakt zwischen Teilnehmern und Presse untersagt und sind eintätowierte Nazi-Symbole abgeklebt. Es ist Wachsamkeit geboten. So gibt sich auch Udo Pastörs, der bereits wegen Volksverhetzung angeklagte stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, im Interview zwar ungehalten und reizbar, aber vorsichtig. So sei beispielsweise seine Darstellung Deutschlands als „Judenrepublik“ lediglich Kritik am Kapitalismus und der Begriff „Jude“ werde dafür verwendet, weil die Nähe des Judentums zum Geld historisch belegt sei. Selbst der offensichtlicht judenfeindliche Pastörs möchte nicht des Antisemitismus bezichtigt werden – obwohl dieser noch kein Strafbestand an sich wäre, sondern erst der Aufruf zum Rassenhass, die Verwendung von Nazi-Symbolen und die Leugnung des Holocaust.

Goll stellt bei seinem Rundgang durch das rechtsradikale Lager fest, dass man hier die Grenze zur Gesetzeswidrigkeit ganz genau kennt. Ein NPD-Aussteiger spricht von „legaler antisemitischer Propaganda“ in der Musikszene, über die viele ihren Weg in rechte Gruppierungen finden. Daneben finden sich auch Worte, wie sie klarer nicht sein könnten, so ein Lied der Band „Landser“ über den Mord an einem jüdischen Mädchen, das zwar verboten, aber weiterhin im Internet zugänglich ist. Über den Sänger besagter Band, ein NPD-Mitglied, der nach seiner Verurteilung nun als Teil der „Lunikoff Verschwörung“ durch die Republik tourt, lande so mancher militanter Neonazi bei der NPD. Jörg, Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes, spricht von zwei bis drei rechten Gewalttaten, die täglich in unserem Land verübt werden.

Direkt davon betroffen ist der jüdische Restaurantbesitzer in Chemnitz, der im Gespräch von bis zu 20 Hassanrufen pro Woche erzählt und wie einmal ein Schweinskopf vor seiner Tür lag. Die jüdische Gemeinde in Dessau berichtet von der Angst, mit Kippa auf die Straße zu gehen. Sie hatten aufgrund antisemitischer Anfeindungen ihre Heimat verlassen und müssen nun stets für Bedrohungen und Angriffen gewappnet sein.

Vom Antisemitismus der Rechtsradikalen wendet sich die ARD-Doku dem der Muslime zu, und zeichnet auch hier ein düsteres Bild, indem sie die Stimme von so manchem gemäßigten Muslim außen vor lässt. Ahmad Mansour beobachtet den Al-Quds-Tag in Berlin: Er sieht u.a. Bilder von Günter Grass als Hommage an dessen Gedicht „Was gesagt werden muss“, Hisbolla-Fahnen und Schilder, die zum Boykott israelischer Waren aufrufen. Der Journalist fragt den Pressesprecher der Berliner Polizei, wo Meinungsfreiheit endet und der Aufruf zum Rassenhass beginnt und erfährt, dass es zwar strafbar ist, Israel als Mörderstaat zu bezeichnen, die erschallenden „Kindermörder Israel“-Rufe sich aber noch im legalen Rahmen bewegen…

Bedenkt man, dass laut der Antisemitismus-Definition der EU die Anwendung von mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehenden Bildern und Symbole auf Israel oder Israelis gehört (http://www.hagalil.com/archiv/2013/06/23/israelkritik-oder-antisemitismus/#), dann ist die Judenfeindlichkeit in den hier gezeigten muslimischen Kreisen unübersehbar: Juden sind Kindermörde, denen es nur um Land und Geld geht. Auch die These von der jüdischen Weltverschwörung ist allgegenwärtig und allein daran erkennbar, dass stets von „Zionisten“ die Rede ist, wenn alle Juden gemeint sind.

Laut Ahmad Mansour ist der Antisemitismus und das damit einhergehende Schwarz-Weiß-Denken in islamischen Kreisen ein großes Problem. Er selbst hat mit seiner islamistischen Vergangenheit lange abgeschlossen, beobachtet aber, dass Kindern schon von früh an Judenhass gepredigt wird – verstärkt durch arabische Fernsehsender, die weltweit bis in deutsche Wohnzimmer hinein antisemitische Parolen verbreiten.

Wir erfahren, dass es in der deutschen Hauptstadt, heute das beliebteste Reiseziel junger Israelis, Stadtteile gibt, in denen sich Juden lieber nicht als solche zu erkennen geben sollten. Dabei ist der in die Medien geratene brutale Angriff auf den Rabbiner Daniel Alter aus Schöneberg kein Einzelfall. Doch es gibt auch eine andere Seite: Im Rahmen des von Mansour vorgestellten Projekts „Heroes“ setzen sich muslimische Jugendliche u.a. gegen Gewalt, Antisemitismus und einseitige Darstellungen des Nahostkonflikts ein und brechen damit mit der Tradition der Väter und dem überall herrschenden Gruppenzwang.

In der 45-minütigen Dokumentation bleibt dieses positive Beispiel allerdings eine Ausnahme. Für Mansour ist es deshalb an der Zeit, dass die muslimischen Verbände in Deutschland beginnen, die Judenfeindlichkeit in den eigenen Reihen genauso vehement zu bekämpfen wie sie es mit der gegen sie gerichteten Islamfeindlichkeit tun.

Zuletzt beschäftigt sich Dokumentarfilmerin Kirsten Esch mit dem wohl frappierendsten, weil subtileren Phänomen: dem Antisemitismus der Mitte der Gesellschaft. Sie trifft die Berliner Linguistik-Professorin Schwarz-Friesel, die über 100.000 Emails und andere Texte aus dem Internet untersucht hat, welche antijüdische Klischees und Parolen enthalten, und die zu dem Ergebnis kommt, dass deren Autoren nur selten die Extremisten sind, von denen man solche Aussagen erwartet. Viele von ihnen sind gebildete Akademiker, die sich als „Moralprediger“ verstehen und im Stil von Günter Grass endlich mal sagen wollen, was Sache ist. Zu ihrer Botschaft gehört zum Beispiel das Klischee von den durch Juden beherrschten Medien. So sagen inzwischen laut einer Umfrage 16,5 % der Deutschen, dass die Juden in unserem Land zuviel Einfluss hätten – was bei 0,2 % hierzulande lebenden Juden allerdings schwer vorstellbar ist…

Konfliktforscher bestätigen, dass jeder vierte Deutsche Antipathie gegenüber jüdischen Menschen hegt und dass das, was heute als verpönt gilt, noch lange nicht verschwunden ist. Der Bielefelder Professor Andreas Zick warnt vor einem latenten Antisemitismus, der „immer Wegbereiter vom Wort zur Tat“ ist.

Dahinein spielt auch, spätestens seit Günter Grass, die Frage der Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus. Laut Professor Zick definiert sich eine antisemitische Kritik an Israel über die von ihr benutzten Stereotype. Dies sei in „Was gesagt werden muss“ sowie in den darauffolgenden Worten Jakob Augsteins – beide lehnten übrigens ein Interview mit den Reportern ab – der Fall: Der Jude als Kriegstreiber, Gaza als einem KZ ähnlichen Gefängnis, auch die Idee der jüdischen Weltverschwörung ist angedeutet. Solche Formulierungen könnten viele Linke mit gutem Gewissen unterschreiben, so Henryk Broder, weil sie sich als Weltverbesserer betrachteten und die Nähe zur deutschen Vergangenheit nicht sehen (wollen).

Auch die Thematik des Boykotts israelischer Waren, der inzwischen in sämtlichen politischen Lagern Zulauf findet, sowie seine Nähe zum nationasozialischen Boykott jüdischer Geschäfte, wird in der ARD-Dokumenation behandelt: So erfahren wir, dass die Grünen denselben Antrag auf Kennzeichnung der Produkte aus den Siedlungen wie zuvor Udo Pastörs von der NPD stellten. Der Verbraucher solle selbst entscheiden können, was er kaufe und wen er mit seinem Kaufverhalten unterstütze. Wird hier Antisemitismus als Verbraucherschutz getarnt?!

Zurecht betont Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden, dass hier ein doppelter Standard angelegt wird, schließlich würden bei 1,3 Milliarden Chinesen endlos Produkte „made in China“ gekauft, ohne dass der Tibetkonflikt berücksichtigt werde. Wenn aber an die 7 Millionen Juden andere Maßstäbe als an den Rest der Welt, der so viele Beispiele für viel größeres Unrecht als das von Israelis verübte bieten würde, angelegt werden, ist das Antisemitismus. In einer Umfrage lassen 40,5 % verlauten, dass Israel die Palästinenser behandelt wie die Nazis die Juden behandelt haben – was neben der Judenfeindlichkeit vor allem von grober Ignoranz und einer frappierenden Einseitigkeit zeugt. So bleibt die Israelkritik, bei aller Berechtigung, die sie hat, leider eine moderne Möglichkeit, antisemitisches Gedankengut zum Ausdruck zu bringen.

Professor Andreas Zick fasst zusammen, dass die Mehrheit der Deutschen zwar davon ausgeht, der Holocaust werde sich niemals wiederholen können, aber dennoch fordert, dass ein Schlussstrich gezogen werden müsse. Vielen erscheint der Gedanke anscheinend fremd, die Erinnerung aufrechtzuerhalten – selbst wenn diese stets mit einer kollektiven Scham verbunden sein sollte -, um aus der Vergangenheit zu lernen. Dies scheint aber u.a. angesichts der Tatsache, dass 65 Jahre nach der Reichspogromnacht kaum eine deutsche Synagoge ohne Polizeischutz auskommt, dringender als je zuvor.

Die Dokumentation schließt mit einem erschreckenden Fazit: „Es gibt mehr Antisemitismus als wir dachten.“ Der der Rechten war bekannt, der der Linken sowie der muslimische tritt immer mehr zum Vorschein – aber der Antisemitismus der Mitte wurde bisher übersehen. Ein höherer Bildungsgrad schütze nicht vor Judenfeindlichkeit.

(jp)

Quellen:

http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/hr/28102013-die-story-im-ersten-antisemitismus-heute-100.html

 

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