Wie gelingt eine literarische Verarbeitung der Shoa … im Comic? – einführende Bemerkungen zu ART SPIEGELMANS „MAUS“
Wenn es etwas gibt, das Unvorstellbares adäquat zum Ausdruck bringen kann, dann ist es die Kunst. Wenn es etwas extrem Unvorstellbares in der Weltgeschichte gibt, dann die Katastrophe der Shoa. Diese Aussagen sind keine Übertreibung. Der amerikanische Comic-Autor mit jüdischen Wurzeln, Art Spiegelman, nahm diese Mammutaufgabe in Angriff, (Comic-)Kunst und die Shoa miteinander zu verknüpfen. Wirklichkeit und Fiktion werden miteinander verwoben, um das Unaussprechbare zu vergegenwärtigen.
Shoa…
Die heute weltweit gebräuchlichste Bezeichnung für den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden ist bekanntermaßen der Begriff Holocaust (altgr. ὁλόκαυστος = „vollständig verbrannt“). Trotz der weltweiten Verbreiterung dieses Ausdrucks wenden sich Kritiker massiv gegen diese Bezeichnung. Denn: dieser Begriff würde das historisch einzigartige Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden verharmlost wiedergeben. Stattdessen wurde ein hebräisches Substantiv bevorzugt, das bereits während der Judenvernichtung von jüdischen Zeitzeugen verwendet wurde – שׁוֹאָה Shoa („Sho’ah“, „Schoa(h)“). In der Bibel bezeichnet es ursprünglich eine ausländische Bedrohung des Volks Israel (Jes 10,3), was als „Unheil“, „Zerstörung“, „Katastrophe“ übersetzt werden kann.
Die wahnsinnige Gräueltat der Shoah sprengt die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens: 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden fielen während der NS-Zeit zum Opfer. Es waren der staatlich propagierte Antisemitismus und die entsprechende rassistische Gesetzgebung des NS-Regimes, welche diese systematische Ermordung der Juden einleiteten. Seitdem ringen und bemühen sich die Zeitzeugen und die Nachwelt um ein angemessenes Erinnern und Verarbeiten dieses einzigartigen Menschheitsverbrechens. Was kann überhaupt als ein angemessener Zugang für die heutige Generation zu etwas so Unvorstellbarem dienen, das sich sprachlich dermaßen schwer begreifen und in Worte fassen lässt? Kann es überhaupt eine Form geben, diese Gräuel irgendwie passend darzustellen, mit Hilfe von Kunst oder künstlerischer Expression?
… und Comic
Einen literarisch-künstlerischen Versuch, das Unvorstellbare verständlich zu machen, unternahm der vielfach ausgezeichnete amerikanische Cartoonist und Comic-Autor Art Spiegelman. Als Sohn von Władysław „Władek“ und Andzia Spiegelman wurde er in Stockholm, Schweden, am 15. Februar 1948 geboren. Seine Eltern, die während der NS-Zeit im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, überlebten. Nicht jedoch ihr erster Sohn Rysio und der Großteil ihrer Angehörigen und Freunde. Über Schweden gelang es der Familie Spiegelman 1951 in die USA auszuwandern. In New York ließ sie sich nieder, wo die Familie es zu Wohlstand brachte.
Bereits im frühen Alter entdeckte Art die Magie der Comic-Welt mit der Zeitschrift „Mad“ und Veröffentlichungen von EC Comics, einem renommierten New Yorker Comicverlag. Als später seine Mutter sich das Leben nahm, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, verarbeitete der damals 20-jährige Spiegelman das traumatische Geschehen in der Comic-Story Prisoner on the Hell Planet.
Ab den 80er Jahren gab er zusammen mit seiner Frau, der französischen Architekturstudentin Françoise Mouly, das vielgelobte großformatige Comic Avantgarde-Magazin RAW heraus. Darin veröffentlichte er seine erste große Graphic Novel mit dem Titel „Maus. A Survivor’s Tale“ (deutsch: Maus – Die Geschichte eines Überlebenden), eine künstlerische Verarbeitung der Erfahrungen und Erinnerungen seines Vaters an die Shoa. Seitdem erlangte Art Spiegelman große Berühmtheit. „Maus“, heute längst ein Klassiker, wurde sogar mit dem renommierten Pulitzer Preis bedacht – ein Novum für ein Graphic Novel. Aber: obwohl Spiegelmans „Maus“ bereits vor über 30 Jahren in deutscher Übersetzung erschien, bleibt dessen Bekanntheit in Deutschland bescheiden.
Comic-Maus als künstlerischer Zugang zur Schoa
In der Rahmenhandlung des Comics erzählt Spiegelmans Vater seinem Sohn die Geschichte eines Überlebenden, wie das Buch im Untertitel ja auch heißt. Der autobiographische Comic behandelt sowohl die Shoa als Thema an sich, die schmerzhafte Erinnerung daran, wie auch die traumatisierende Auswirkung bis in die Gegenwart hinein. Die Geschichte hat dabei die Gestalt einer Fabel. Auf ungewöhnliche Weise wird Hitlers Zitat in Anlehnung an die NS-Propaganda vom „jüdischen Ungeziefer“ vorangestellt: die Juden seien zweifellos eine Rasse, nur keine menschliche.
Vor dem Hintergrund dieses grotesken Untertons werden die Geschichten von anthropomorphen Tieren (menschliche Körper, tierische Köpfe) ausgemalt. Spiegelman zeichnet sich und seine Eltern als Mäuse, die Deutschen als jagende Katzen, die Amerikaner als Hunde, die Polen als Schweine (was aufgrund der Missinterpretation zum Boykott des Buches in Polen führte), die Franzosen als Frösche, die Briten als Fische. Ironisch macht sich Spiegelman das entmenschlichende Denken des NS mittels dieses künstlerischen Griffs zu eigen. Auf der anderen Seite wahrt die provokante Tiermetaphorik den Abstand zu den kaum aussprechbaren Gräueltaten und macht diesen emotional „ertragbar“. Spiegelman kommentiert: “I need to show the events and memory of the Holocaust without showing them. I want to show the masking of these events in their representation.” Mit einem solchen Verfremdungseffekt verweist Spiegelman auf das beunruhigende Unvermögen, die Absurdität und Brutalität vor den Augen der Nachwelt darstellen zu können – und schafft es doch.
Lücke im deutschen Lehrplan
Spiegelmans „Maus“ ist ein internationaler Erfolg geworden. Heute gilt die Graphic Novel in amerikanischen Schulen als Standardwerk. Ihre Bekanntheit, sogar im fernen Osten, etwa in China, ist beachtlich. Dagegen erhielt sie in Deutschland und im deutschen Schulwesen bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Warum eigentlich? Die alte Kontroverse kann einen Teil der Erklärung liefern: Inwiefern ist es legitim, die Judenverfolgung und -vernichtung fiktional und in Comicform zu verarbeiten? Besteht nicht die Gefahr, dass Comic-Bilder das unvorstellbare Geschehen verharmlosen, vereinfachen und trivialisieren? Noch 1995 wurde ein für den Comic-Salon Erlangen hergestelltes Plakat zum Comic „Maus“ beschlagnahmt. Insbesondere in den 90er Jahren sprachen sich Prominente aus der akademischen Welt, wie Elie Wiesel, Berel Lang, James E. Young, gegen die Literarisierung des Holocausts aus. Stattdessen sollten Dokumentationen und historische Schreiben (z.B. Memoiren) im Vordergrund stehen – eine „klare“ Botschaft, die auch Einflüsse auf die Lehrpläne an deutschen Schulen ausübte.
Eine im Jahr 2017 erschiene Studie des Politikwissenschaftlers Philipp Mittnik über die Holocaust-Darstellung in Schulbüchern zeigt aktuelle Tendenzen auf: Zwar wird die Shoa im deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht geringfügig mehr als früher thematisiert, jedoch auffällig häufig aus deutscher, nichtjüdischer Perspektive erzählt, etwa im Zusammenhang mit dem Widerstand im NS. Eine ältere Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung von 2013 hielt fest: Es wird zu wenig Literatur zur Schoa gelesen; die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle.
Diese Bildungslücke könnten literarische Verarbeitungen in einer Kunstform, wie „Maus“ schließen. Sie führt nicht nur das grotesk-grauenhafte Bild der Shoa deutlich vor Augen, behandelt zudem das Trauma der nachfolgenden Generationen und erschließt einen angemessenen Zugang für heutige Jugendliche. Das Attraktive und Faszinierende bei „Maus“: sie ist eine Graphic Novel – ein Medium zwischen Unterhaltung und mahnender Erinnerung. Diese künstlerische Darstellung kann angemessen das Interesse der Jugendlichen an den Originalquellen wecken. Dietrich Grünewald, Professor für Kunstdidaktik in Koblenz, fasst in seinem Vortrag „Holocaust und NS-Verbrechen in der Bildgeschichte“ zusammen: „Comics dürfen auch spannend und unterhaltsam sein, sollen […] aber auch schockieren. […] Es ist richtig und nötig, der jungen Zielgruppe Historie zuzumuten.“ Allerdings müssen sie wie alle anderen Texte angemessen interpretiert werden. Zweifellos bleibt: Art Spiegelmans Graphic Novel „Maus“ stellt einen beeindruckenden und gelungenen Versuch dar, das grauenhaft Unvorstellbare verständlich zu machen. Und sie verdient deshalb mehr Beachtung und Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Schulunterricht.
Spiegelman, Art, Maus, Übers. Christine Brinck / Josef Joffe, Berlin 2008
Tianji Ma
Quellen
Frahm, Ole: Das weiße M. Zur Genealogie von MAUS(CHWITZ), in: Überlebt und unterwegs: Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland. Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Hg. Fritz Bauer Institut, Frankfurt 1997, 303–340
Frahm, Ole: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans „MAUS, A Survivor’s Tale“, Paderborn 2006
Frahm, Ole: Mäuse, Mickey und MAUS. Zur Ästhetik von Art Spiegelmans Darstellung des Holocaust, in: Superman und Golem. Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung Jüdisches Museum, Hg. Raphael Gross / Erik Riedel, Frankfurt (M) 2008, 42–44
Frankfurter Allgemeine, ART SPIEGELMANS „MAUS“:
Dieser Comic gehört auf den Lehrplan, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/art-spiegelmans-holocaust-comic-maus-als-schulstoff-17136202.html vom 27.01.2021
Gießener Zeitung, Darf Holocaust im Comic verarbeitet werden?, http://www.giessener-zeitung.de/giessen/beitrag/52190/darf-holocaust-im-comic-verarbeitet-werden vom 27.01.2021
Young, James E., Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur. Übers. Ekkehard Knörer. Hamburg 2002, 22–53
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