Lebendige Erinnerung statt kalter Routine – Gedenken an den Holocaust

Heute, am 27. Januar 2012, dem 67. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau, wird in Deutschland und vielen anderen Ländern des Holocaust gedacht.

Um 9 Uhr heute Morgen hielt der 91-jährige  Marcel Reich-Ranicki die jährliche Gedenkrede im deutschen Bundestag, die live übertragen wurde. Als Überlebender des Warschauer Ghettos, dessen Eltern und Bruder von den Nazis ermordet wurden, gab der deutsche Literaturkritiker jüdischer Abstammung einen bewegenden Einblick in die nationalsozialistische Politik der „Umsiedlung“ der Juden: „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“ Nach diesen schließenden Worten Reich-Ranickis herrschte unter den Abgeordneten betroffene Stille.

Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, betonte vor der Veranstaltung die Bedeutung des Gedenktages für die heutige Generation: Nicht die Opfer des Holocaust brauchten einen solchen Tag, sondern diejenigen, die dieses Leid nicht durchmachen mussten. Kramers Worte erscheinen besonders im Hinblick auf den aktuellen deutschen Antisemitismus-Bericht von höchster Relevanz: Demnach hat jeder fünfte Deutsche eine latent antisemitische Einstellung. Dies zeige sich im Alltag beispielsweise in den Parolen in Fußballstadien sowie auf Schulhöfen, wo das Schimpfwort „Jude“ keine Seltenheit sei, und vor allem auf antisemitischen Plattformen im Internet. Ein solcher Antisemitismus beruht laut dem Historiker Peter Longerich vor allem auf „tief verwurzelten Klischees und auf schlichtem Unwissen über Juden und das Judentum“.
Eine Umfrage ergab weiterhin, dass jeder fünfte Deutsche unter 30 mit dem Begriff „Auschwitz“ nichts anzufangen weiß und jeder Dritte nicht sagen konnte, in welchem Land sich das ehemalige Konzentrationslager befindet. Erkenntnisse wie diese sowie die jüngste Neonazi-Mordserie zeigen, dass nie zuviel an die Vergangenheit erinnern werden kann und dass es Aufgabe jedes Einzelnen ist sicherzustellen, „dass dieses Gedenken nicht zu einem kalten Ritual verkümmert, sondern die Herzen der Menschen und der zukünftigen Generationen erreicht“, so Kramer.

In Israel selbst fand am Dienstag eine Sondersitzung der Knesset anlässlich des Gedenktages statt,  zu der jedoch ganz zum Ärger der eingeladenen Holocaust-Überlebenden nur vier Minister und 21 Abgeordnete gekommen waren. Dies nannte die 75-jährige Zeitzeugin Dvorah Weinstein gegenüber der Zeitung Yediot Aharonot eine „beispiellose Schande und Scham“: „Wenn uns die Knessetabgeordneten und Minister nicht respektieren, wer wird uns dann respektieren?“
Die mangelnde Anwesenheit der Parlamentsmitglieder kann damit zusammenhängen, dass Israel seinen eigenen Holocaust-Gedenktag hat und den internationalen nur durch entsprechende Sondersitzungen zusätzlich würdigt. Der „Jom haShoah“ bezieht sich auf den Warschauer Ghettoaufstand und wird dieses Jahr am 19. April stattfinden.

(jp)

 

Quellen:
http://www.tagesschau.de/inland/holocaustgedenktag118.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/deutschland-antisemitismus-bericht und http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/umfrage-auschwitz
http://www.israelnetz.com/themen/innenpolitik/artikel-innenpolitik/datum/2012/01/25/kaum-abgeordnete-bei-schoahgedenken/

 

 

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