black railway covered with fog

„Die Zeit vergeht viel langsamer und man denkt die ganze Zeit, dass all das nie ein Ende hat“

Eine Zeitzeugin berichtet

Am 1. September besuchte ich eine kleine Veranstaltung in einem norddeutschen Gymnasium, nahe dem Ort, an dem im Jahr 1945 das Leben so vieler, unschuldiger Menschen ein Ende nahm – Bergen Belsen.

Der Veranstaltungsraum ist gefüllt mit aufmerksamen Schülerinnen und Schülern, die das Auftreten der Zeitzeugin Mala Tribich erwarten, die an diesem Tag aus ihrem Leben berichten sollte. Noch ist das Zimmer gefüllt mit lebhaften Gesprächsfetzen, als sich nach einigen Minuten die herrschende Geräuschkulisse legt und eine ältere Dame mit ruhigem Schritt den Raum betritt. Sie schlägt das Angebot sich zu setzen aus, stellt sich lieber vor die vor sich sitzenden jungen Menschen, einschließlich mich, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie haben den zweiten Weltkrieg damals mit all seinen Geschehnissen nie erlebt.

Mit klarer Stimme beginnt Mala Tribich in britischem Englisch zu erzählen – vom Anfang. 1930 in Polen geboren, floh sie 1939 mit ihrer Familie vor der deutschen Invasion. Bei ihrer Rückkehr landeten alle im ersten polnischen Ghetto. Mala erzählt von schlimmen Lebensbedingungen, der Flucht als jüdisches Mädchen und dem Verstecken bei anderen Familien vor den Menschen, die sie deportieren wollten. Je mehr Worte sie spricht, desto mehr verschwimmen die Geschehnisse in meinem Kopf – die Hinrichtung ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester, das Verschwinden ihrer Verwandten, Zwangsarbeit in einer Fabrik. Ich will aus dem Fenster schauen, um zu versuchen, visuell etwas anderes vor Augen zu haben, doch die Fenster sind mit Rollos verdunkelt, damit die vorn angestrahlte Karte besser zu erkennen ist. Sie zeigt, an welchen Orten sich Malas Lebenszeit abspielte – in den verschiedenen Städten in Polen, dann im KZ Ravensbrück, in das sie mit ihrer kleinen Cousine Ann, getrennt von Vater und Bruder, deportiert wird. Dann weiter nach Bergen Belsen, wo ihr Weg sie durch ihre kleine Cousine, die sich nicht von ihr trennen kann, auf eine Kinderauffangstation auf dem Gelände führt. Malas Worte dringen zu mir durch und ihre Erzählungen laufen vor meinem inneren Auge, wie aneinandergereihte Bilder ab: Sie liegt auf der Typhus Station des Kinderheimes in Bergen-Belsen mit Fieber in einem Bett, als sie durch das schmutzige Fenster britische Soldaten das Gelände einnehmen sieht. Wenige Zeit später wird sie in ein Krankenhaus an einen anderen Ort gebracht, um gesund zu werden.

Die Menschen im Raum applaudieren Malas Geschichte, doch über all das legt sich ihre Bitte: Nicht aufzuhören, von den früheren Geschehnissen zu erzählen und zu berichten, nicht anzufangen, sie zu vergessen.

Nach der abschließenden Fragerunde gehe ich auf Mala zu und stelle ihr eine letzte Frage. Ich möchte wissen, wie sie den Fluss der Zeit zu dieser Zeit ihres Lebens in Erinnerung hat. Sie antwortet mir etwas wie: Die Zeit verging so viel langsamer als jetzt. Man hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass all das nie ein Ende habe.

Mir bleiben folgende Worte aus ihrem Bericht sehr prägend in Erinnerung: „Ohne Hoffnung schafft man es nicht, zu überleben.“

 

Mehr über Mala Tribichs Geschichte:

https://www.het.org.uk/survivors-mala-tribich

 

 

 

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