Die verschiedenen Ausprägungen des heutigen Antisemitismus

Den Begriff „Antisemitismus“ assoziieren wohl die meisten Menschen mit der Nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands und aktuell mit der rechten Szene oder in islamistisch gefärbter Erscheinungsform. Dabei wird oft übersehen, dass Antisemitismus in einem weitaus breiteren Spektrum in vielen heutigen Gesellschaften verbreitet ist und er sich nicht nur auf Randgruppen beschränkt. Im Folgenden sollen die verschieden Ausprägungen des heutigen Antisemitismus speziell im deutschen Kontext aufgezeigt werden.

Sekundärer Antisemitismus

Das heutige Erscheinungsbild des sog. „sekundären Antisemitismus“ oder auch Erinnerungs- oder Schuldabwehrantisemitismus bildete sich ab 1945 (vgl. Ensinger, Tami: Antisemitismus nach 1945 u. in der Ggw.). Nach der Einschätzung des jüdischen Journalisten Henryk M. Broder ist es ein „Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“.

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Das 2012 erschienene Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günther Grass wird aus Sicht vieler Kritiker als antisemitisch eingestuft. Das Argumentationsmuster kann dabei dem sekundären Antisemitismus zugeordnet werden.

Diese Ausprägung dieser Art des Antisemitismus gründet auf Entlastungswünschen. Das bedeutet mit anderen Worten: Unter die NS-Vergangenheit samt Holocaust solle nun endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Außerdem wird mitunter dabei die Rolle der Täter und der Opfer umgekehrt; rückwirkend wird die Mehrheit der Deutschen dabei als das eigentliche Opfer von Krieg und Vertreibung dargestellt. Die Opferrealität der Juden als Ziele des einstigen NS-Massenmords wird dabei weitgehend ausgeblendet. Die NS-Täter werden auf eine kleine Minderheit reduziert und die Ursachen auf eine Ebene der Unfassbarkeit gehoben. Den Juden wird nun nicht selten unterstellt, dass sie Nutzen aus ihrer Vergangenheit ziehen würden, indem sie öffentliche Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus als inszeniertes Mittel nutzen, um Wiedergutmachungszahlungen zu erhalten und die israelische Politik zu legitimieren. In diesem Zusammenhang wird dann nicht selten an traditionelle Stereotypen, v.a. durch die Verbindung von Juden mit Geld und Macht, angeknüpft. Durch die zuvor geschilderte, angebliche Handlungsweise der Juden wird der Schritt des Vergessens verhindert, so dass dann im Zirkelschluss geschlussfolgert die Juden am aktuellen Unglück und dem fehlenden Selbstbewusstsein der Deutschen schuld seien.

Antizionistischer Antisemitismus

Zwischen dem sekundären und dem antizionistischen Antisemitismus bestehen enge Zusammenhänge. Die Anfänge des antizionistischen Antisemitismus lassen sich allerdings bereits früher, nämlich im marxistisch-leninistischen Antisemitismus finden. Der Jude wurde dabei als Feindbild gegenüber der sowjetischen Staatsideologie gesehen. Da im Marxismus-Leninismus Völker- und Rassenhass abgelehnt wurde, musste der Antisemitismus zur Integration verschleiert werden. „Jüdisch“ und „zionistisch“ wurden vertauscht um Ungereimtheiten zu verdecken.

Durch den antizionistischen Antisemitismus wird es ermöglicht, antisemitische Aussagen als Israelkritik zu tarnen. Problematisch ist dabei die zwanghafte anmutende Fokussierung auf Israel. Im Urteil über Israels Tun und Lassen werden im Vergleich zu jeglichen anderen Staaten andere Maßstäbe angesetzt.

Skurriler Weise wird im antizionistischen Antisemitismus die israelische Politik häufig mit dem Nationalsozialismus verglichen. Ungeachtet eines geschichtlich komplett anderen Kontextes werden die Fehler der deutschen Geschichte auf die Juden projiziert. Die Juden hätten nach der NS-Zeit doch lernen sollen, wie es sich unter Unterdrückung lebt und sollen deshalb nun die Palästinenser nicht genau so behandeln, wie sie selber behandelt wurden.

An dieser Stelle muss auch der Philosemitismus in die Diskussion eingebracht werden. Gemeint ist damit eine positive und besondere Sicht auf Juden. Was zunächst einmal positiv klingt, gründet sich dennoch auf eine stereotypische Wahrnehmung. Negative Vorurteile können so gegen vermeintliche positive ausgetauscht werden. Mit der Äußerung, Juden seien besonders moralisch, kann somit zugleich Kritik aufgebaut werden, eben dann, wenn der Umgang Israels mit den Palästinensern als moralisch nicht vertretbar gewertet wird. Besonders hohe Moral verpflichte gleichzeitig zu höherer Verantwortung im Umgang mit ihr. Somit treffe Israel bzw. die Juden auch ein besonderer Grad an Beobachtung und bei angeblichen Moralverstößen ein besonderes Maß an Schuld.

Antisemitismus von Links

Besonders in Teilen der globalisierungskritischen und friedensbewegten Linken hat antizionistischer Antisemitismus großen Einfluss genommen. Während nach dem Krieg zunächst eine pro-israelische Haltung eingenommen wurde, änderte sich der Standpunkt in Folge des Sechs-Tage-Krieges 1967. Israel wurde nun mehr und mehr als rassistischer, faschistischer und imperialistischer Staat aus angeblich humanistischen Gründen verurteilt.

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Zunächst als Wiederspruch erscheinend: Antisemitismus tritt auch in der Linken Szene auf

Die antizionistische Grundeinstellung löste sich in Folge einer stark politisch links gerichteten Kritik teilweise auf. Trotzdem wird immer noch eine aggressive antisemitische Haltung, unter anderem durch Befürwortung von Selbstmordattentaten und Akzeptanz der Hamas als Bündnispartner, weitverbreitet vertreten.

 

Neben antizionistischen Ansichten werden in der politisch linken Szene  typischerweise antikapitalistische und antiamerikanische Standpunkte vertreten. Durch verkürzte Kapitalismuskritik finden durch traditionelle Stereotype wie z.B. die Verknüpfung von Juden mit Macht und Geld antisemitische Verschwörungstheorien Einzug. Insbesondere durch die Anschläge vom 11. September und den Kriegen in Afghanistan und im Irak vermischen sich so antisemitische Verschwörungstheorien und sekundärer Antisemitismus und kommen auf diese Weise zu dem ohnehin schon vorliegenden antizionistischen Antisemitismus dazu.

Rechtsradikaler Antisemitismus

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Karikatur aus dem Jahr 1893. Juden in Bezug zu Gier nach Macht und Geld zu setzen ist bis heute eins der beliebtesten Stereotype.

Vor allem in der extremen Rechten gründet der Antisemitismus auf Verschwörungsideologien. Die Juden werden dabei typischerweise mit geld- und machtgierigen Ausbeutern und geheimen Drahtziehern identifiziert. Sie seien an so ziemlich jedem Übel auf der Welt schuld und werden dem „deutschen Volk“ als Konkurrenz und Feind gegenübergestellt. Die USA, das Land des Kapitalismus, werde von jüdischen Interessen gelenkt, was wiederum eine Verknüpfung zu dem typischen Stereotyp von der Verknüpfung von Juden mit Macht und Geld darstellt.

Neben dem Anknüpfen an traditionelle Stereotype wird durch die In-Frage-Stellung der deutschen Kriegsschuld und die Verharmlosung oder Verleugnung des Holocaust ein Bezug zum sekundären Antisemitismus hergestellt. Durch die nicht nur in Randgruppen verbreitete Schuldabwehr ergibt sich somit eine Gedankenverbindung zwischen der extremen Rechten und breiteren Gesellschaftsschichten.

Islamistischer Antisemitismus

Der heutige islamistische Antisemitismus lässt sich nicht nur auf judenfeindliche Abschnitte aus dem Koran und den Hadithen und Teilen der islamischen Geschichte zurückführen, sondern weist auch viele Bezugspunkte zum europäischen Antisemitismus auf. Dieser wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts importiert. Er enthält jahrhundertealte Stereotype und Vorurteile, wie beispielsweise Ritualmordvorwürfe und weitere klassische Verschwörungstheorien. Eine Identifikation der Juden mit dem macht- und geldhungrigen Kapitalismus fand im arabischen Raum großen Anklang, da vor allem dort der Kapitalismus als zerstörerische und entgegengestellte Gesellschaftsordnung angesehen wurde. Auch wenn schon früher antisemitische Schmähschriften erschienen, fanden vor allem auch Schriften wie „Protokolle der Weisen von Zion“ und Hitlers „Mein Kampf“, die zur Nationalsozialistischen Zeit übersetzt wurden, rege Verbreitung.

Der islamistische Antisemitismus äußert sich in seiner verschwörungstheoretischen Form vor allem auf antizionistischem Wege. So wird das Existenzrecht Israels typischerweise abgelehnt. Dafür werden sowohl interne, so auch externe, westliche Argumentationsmuster aufgegriffen, wodurch eine gute Kompatibilität zu anderen Ausprägungen des Antisemitismus dokumentiert werden kann.

Zusammenfassung

Betrachtet man Antisemitismus nicht verkürzt, wie häufig nur im rechtsradikalen Kontext, so ergeben sich erschreckende Einsichten. Während oft geklagt wird, ständig nur über die nationalsozialistische Geschichte zu reden, so zeigt sich doch, dass sich Antisemitismus immer noch, wenn auch in verdeckter Art und Weise, durch sämtliche Gesellschaftsschichten zieht. Die Aufarbeitung der Nationalsozialistischen Geschichte sollte dementsprechend nicht beendet, sondern in Verbindung zu den heute vorliegenden Spielarten des Antisemitismus fortgesetzt werden.

Quellen

Broder, Henryk M.: Der ewige Antisemit – Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt a. Main, 1987

Ensinger, Tami: Antisemitismus nach 1945 und in der Gegenwart

http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus

http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37962/sekundaerer-antisemitimus

http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36356/antisemitismus-im-islamismus

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