man in white tank top beside glass window

Die jüdisch-messianische Bewegung in Deutschland

Sie haben einen schweren Stand. Von den einen als wertvolles Bindeglied zwischen Judentum und Christentum gesehen, von den anderen als böswillige Feinde des Judentums betrachtet, die ihr eigenes Volk zerstören wollen. Die Rede ist von messianischen Juden.

Der Begriff „messianische Juden“ ist noch jung und bezeichnet Juden, die Jesus Christus (Jeschua) als den Messias erkannt haben, sich aber weiterhin ihrem Volk zugehörig fühlen. In der aktuellsten Ausgabe der Kol Hesed („Stimme der Gnade“), einer jüdisch-messianischen Zeitung, gibt Reinhold Tenk einen Einblick in deren Entstehungsgeschichte und die aktuelle Situation in Deutschland. Danach ist seit einiger Zeit in Wandel im Bewusstsein der Juden zu beobachten: Während früher eine Bekehrung zum Christentum automatisch mit einer Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche und damit einer gewissen Distanzierung zum Judentum einherging, legen messianische Juden heute Wert darauf, ihre jüdische Identität zu bewahren.

In seinem Artikel erläutert Tenk, wie es nach dem 2. Weltkrieg zu der Bewegung der messianischen Juden gekommen ist. Vor dem Krieg nannten sich christliche Juden „hebräische Christen“, was bereits auf ihre Zugehörigkeit zur Kirche hinwies. Sie schlossen sich in Allianzen zusammen, von denen 1866 in Großbritannien die erste gegründet wurde. Amerika folgte ca. 50 Jahre später, bis 1925 die „International Hebrew Christian Alliance“ entstand, von der es auch einen deutschen Zweig gab.

Nach der allen verändernden Schoah blieb Deutschland nur eine kleine Zahl von Juden erhalten – man schätzt 20.000 bis 30.000 -, von denen die meisten alt oder krank waren. Auch die hebräische Christen und die deutsche „Judenchristlichen Allianz“ waren geschrumpft und hatten an Bedeutung verloren. Während Deutschland mit dem Wiederaufbau beschäftigt war, entstand in den 60er Jahren in den USA die jüdische-messianische Bewegung. (Ein Artikel über deren Entstehung und den Zusammenhang mit der Jesus People-Bewegung findet sich in der 17. Ausgabe der Kol Hesed, die hier als pdf bestellbar ist: http://kolhesed.de/ausgabe17.html.)

Tenk stellt nun die sozio-politischen Faktoren dar, die dazu beigetragen haben, dass auch in Deutschland die jüdisch-messianische Bewegung sehr schnell Fuß fassen konnte:
Zum einen war da der politische Wandel in der Sowjetunion Mitte der 80er Jahre (Perestroika). Die Offenheit (Glasnost), die dieser mit sich brachte, führte neben all den positiven Entwicklungen dazu, dass antisemitische Tendenzen wieder an die Öffentlichkeit kamen, sei es in privaten Gesprächen oder in den Medien.
Zum anderen fasste die Innenministerkonferenz der BRD am 9. Januar 1991 den Beschluss, Juden aus der ehemaligen UDSSR die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. In den nächsten 13 Jahren reisten nun insgesamt 220.000 Juden ein, so dass sogar der Staat Israel kritisch reagierte: Die deutsche Regierung „verführe“ die Juden aus der GUS „mit dem Status von Flüchtlingen nach Deutschland einzuwandern, obwohl die Juden seit 56 Jahren einen eigenen Staat haben.“

Diese Juden aus der ehemaligen Sowjetunion galten nun zwar als jüdisch im Sinne der Volkszugehörigkeit, die wenigstens bezeichneten sich jedoch als religiös, da sie den jüdischen Glauben kaum haben praktizieren können. Vor allem die kulturellen Unterschiede führten bei diesen Juden meist zu großen Orientierungsschwierigkeiten in ihrer neuen Heimat. Auch die deutsche jüdische Gemeinschaft stand vor einer Herausforderung, bestand sie doch auf einmal zu 80-100% aus „russischen“ Juden. Zudem lagen die Auffassungen, was „jüdisch“ bedeutet, zwischen den deutschen und den eingewanderten Juden zum Teil weit auseinander.
Was dann geschah, war ausschlaggebend für die Geschichte dieser Juden: Die russisch geprägten Juden auf der Suche nach einer geistliche-kulturellen Heimat orientierten sich an evangelikalen Gemeinden, die zum Teil aus vielen „Russlanddeutschen“ bestanden und bestehen und denen sie aus diesem Grund sehr nahe standen. So entwickelte sich recht schnell eine Bewegung von messianischen Juden, wozu auch die gezielte Mission unter Juden seitens evangelikaler deutscher und amerikanischer Werke wie der „Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel“ (amzi), „Evangeliumsdienst für Israel“ (EDI) und das Missionwerk „Juden für Jesus“ beitrug.

Aktuell ist die Zahl der messianischen Juden in Deutschland von 100 (1994) auf 5000 angestiegen und sind etwa 30-40 messianische Gemeinden zu verzeichnen – Tendenz steigend. Im Vergleich mit den anderen deutschsprachigen Ländern ist festzustellen, dass Deutschland diese große Zahl der Einreisegenehmigung von 1991 verdankt: So gab es nach der Volkszählung in Österreich 8000 Juden, aber höchstens eine messianische Gemeinde, und auch in der Schweiz ist bei 18000 Juden nur eine messianische Gemeinde gegründet worden, da hier so gut wie keine Juden aus der UDSSR eingewandert sind.

Innerhalb der jüdisch-messianischen Bewegungen gibt nun es wie in der Kirche verschiedene Strömungen, die u.a. durch die unterschiedlich geprägten Missionswerke entstanden sind. Hanspeter Obrist, der ehemalige Leiter der „Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel“, nennt als die Hauptströmungen die folgenden acht, die er in seinem Artikel (http://www.amzi.org/html/ messianische_stromungen.html) näher beschreibt:

  1. Jüdische Christen
  2. Endzeitorientierte jüdische Christen
  3. Traditionell jüdisch orientierte Gemeinden
  4. Evangelikale und charismatische messianische Juden
  5. National orientierte messianische Juden
  6. Kirchenunabhängiges messianisches Judentum
  7. Rabbinisch-messianisches Judentum
  8. Messianisch-rabbinische Orthodoxie

Reinhold Tenk zufolge gibt es angesichts dieser Vielfalt die Bestrebung, eine gemeinsame jüdisch-messianische Theologie zu definieren, die „biblisch fundiert und zugleich im kulturellen und historischen Kontext eines Europa nach dem Holocaust relevant ist“. Dazu fand im Februar 2011 das „1. Europäische Messianisch-Theologische Symposium“ in Berlin statt, zu dem sich 23 messianische Theologen, Professoren uvm. zusammenfanden. Als jüdisch-messianische Bewegung sehen sie sich gleichzeitig in der Kontinuität ihres jüdischen Volkes als auch als Teil der christlichen Gemeinde.

Diese jüngsten Entwicklungen haben einen großen Einfluss auf die christliche Kirche: In ihr entsteht laut Tenk eine Art „messianische Bewegung“ von Christen, die sich der jüdischen Wurzeln ihres Glaubens immer mehr bewusst werden. Unter ihnen gibt es ebenfalls verschiedene Gruppierungen, nicht zuletzt die von Tenk „messianische Gläubige außerhalb der Kirche“ genannten Christen, die sich gänzlich vom Christentum und dessen heidnischen Einflüssen distanzieren und sich dem Judentum annähern, ja fast anschließen, indem sie sich u.a. an die jüdischen Festtage halten und Israel als Mittelpunkt des Bundes betrachten.
Zuletzt zeigt Reinhold Tenk die Perspektiven auf: Die Bewegung der messianischen Juden ist noch nicht abgeschlossen und wird weiter wachsen, auch wenn Wachstum heute nicht mehr durch Einreise, sondern konkrete Mission unter Juden erreicht wird. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass, je mehr sich das christliche Deutschland auf seine jüdischen Wurzeln besinnt und die Kirche ihre Fehler der Vergangenheit im Umgang mit den Juden anerkennt, weitere messianische Gemeinden gegründet werden. Wünschenswert wäre für diese Bewegung vor allem, wenn sie nach dem Vorbild der Allianz von hebräischen Christen vor dem Krieg zu mehr Einheit finden würde. Denn die messianischen Juden sind sowohl für das jüdische Volk als auch für die christliche Kirche von großer Bedeutung.

Wer sich näher für das Thema interessant, dem sei Dr. Stefanie Pfisters Buch „Messianisches Judentum in Deutschland“ empfohlen, für das sie 2009 den Franz Delitzsch-Preis des Instituts für Israelogie erhielt. Eine kurze Vorstellung des Buches finden Sie hier: https://www.israelogie.de/2011/messianische-juden/

(jp)

 

Quellen:

Kol Hessed Nr. 4 (24) / 2011

http://juden.judentum.org/judenmission/messianische-juden.htm

 

Zurück