Nakam – Jüdische Vergeltung angesichts der Shoa

Die Shoa hinterließ nicht nur unermessliches Leid unter Juden, sondern auch tiefe Wunden in der jüdischen Gemeinschaft. Während viele Überlebende nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, ein neues Leben aufzubauen, gab es eine kleine Gruppe, die einen anderen Weg einschlug: die Organisation Nakam (hebräisch für „Rache“). Ihr Ziel war es, Vergeltung für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden zu üben. Die Geschichte dieser Gruppe ist heute weitgehend unbekannt – und dennoch ein erschütterndes Zeugnis der emotionalen und moralischen Zerrissenheit, in der sich viele Überlebende nach dem Holocaust befanden.

 

Die Entstehung von Nakam

Gegründet wurde Nakam 1945 von Abba Kovner, einem jüdischen Dichter und Widerstandskämpfer aus dem Ghetto von Wilna. Kovner hatte schon während des Krieges Widerstand geleistet und die Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) im Wilnaer Ghetto mitbegründet – eine der ersten bewaffneten jüdischen Widerstandsgruppen. Nach der Befreiung Europas durch die Alliierten sammelte Kovner ehemalige jüdische Partisanen und Überlebende um sich, um eine Organisation zu schaffen, die die Täter des Holocaust bestrafen sollte – nicht juristisch, sondern durch Selbstjustiz.

Diese Männer und Frauen – oft selbst schwer traumatisiert – fühlten sich im Stich gelassen: von der Welt, von den Alliierten, von der langsamen und oft unvollständigen juristischen Aufarbeitung der Verbrechen. Viele Täter waren auf der Flucht oder wurden bald wieder in westdeutsche Behörden integriert. Vor diesem Hintergrund erschien Rache bzw. Vergeltung nicht nur verständlich, sondern manchen sogar notwendig.

 

Die Rachepläne: Zwischen Vision und Realität

Plan A umfasste den radikalsten Versuch der Gruppe: In mehreren deutschen Großstädten – darunter Hamburg, Nürnberg, München und Frankfurt am Main – sollte das Trinkwasser mit Arsen vergiftet werden. Die geplante Opferzahl war symbolisch: sechs Millionen Tote, stellvertretend für die sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden.
Abba Kovner reiste zu diesem Zweck nach Palästina, um das Gift über Kontakte in der Haganah (einer zionistischen Untergrundorganisation) zu beschaffen. Doch britische Behörden verhafteten ihn auf der Rückreise. Die Lieferung des Giftes wurde entdeckt – Plan A scheiterte.

Plan B war gezielter und wurde tatsächlich in die Tat umgesetzt: Mitglieder von Nakam infiltrierten eine Bäckerei, die das Kriegsgefangenenlager Langwasser bei Nürnberg belieferte. Dort wurden rund 3.000 Brote mit Arsen präpariert und an das Lager geliefert, in dem sich überwiegend ehemalige SS-Männer befanden. Etwa 2.000 von ihnen erkrankten schwer, doch es gab keine Todesfälle. Ob dies auf eine zu geringe Dosierung oder ein bewusstes Limit zurückzuführen ist, bleibt unklar. Auch dieses Attentat wurde geheim gehalten und kam erst Jahre später an die Öffentlichkeit.

 

Reaktionen und moralische Dilemmata

Die Aktionen von Nakam riefen scharfe Kritik hervor – sowohl von Seiten der jüdischen Weltgemeinschaft als auch aus den Reihen der zionistischen Führung. Insbesondere in Palästina, wo man um die internationale Unterstützung für die Gründung eines jüdischen Staates kämpfte, wollte man keine Vergeltungsaktionen, die der zionistischen Sache hätten schaden können. David Ben-Gurion und andere zionistische Führer distanzierten sich scharf verurteilend von Kovners Plänen. In den israelischen Archiven wurde das Thema jahrzehntelang unter Verschluss gehalten.

Die moralische Debatte, die Nakam ausgelöst hat, ist bis heute nicht abgeschlossen. Sind Rache oder Vergeltung legitime Varianten, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Oder untergräbt Rache das Prinzip eines rechtsstaatlich geordneten Umgangs mit Schuld und Strafe? Kovner selbst verteidigte seine Pläne bis zu seinem Tod als Akt der Gerechtigkeit. Andere Mitglieder hingegen distanzierten sich später von den Aktionen oder bereuten sie.

 

Rezeption in der Gegenwart

Lange Zeit schwieg man über Nakam. Erst ab den 1980er Jahren wurde das Thema durch Veröffentlichungen, Interviews und später auch durch künstlerische Auseinandersetzungen aufgearbeitet. Die israelische Historikerin Dina Porat veröffentlichte 2021 ein umfassendes Werk über die Gruppe: „Die Rache ist Mein allein“, das auf Grundlage bislang gesperrter Archive neue Einblicke ermöglichte.

Auch in der Popkultur fand Nakam seinen Weg: Der Film „Plan A“ (2021), mit August Diehl in der Hauptrolle, dramatisiert die Ereignisse um Abba Kovner und seine Gruppe – und regt zur Diskussion über Gerechtigkeit und Rache nach dem Genozid an. In einem weiteren Artikel zu diesem Thema soll der Film und die Reaktionen darauf betrachtet werden.

 

Fazit

Die Geschichte von Nakam ist eine Mahnung für uns: Sie konfrontiert uns mit der Wucht menschlicher Verzweiflung, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit – und den Grenzen moralischen Handelns. Sie zeigt, wie tief die Wunden der Shoa waren und wie schwer es für viele Überlebende war, in einer Welt weiterzuleben, in der Täter oft unbehelligt blieben.

Für die Auseinandersetzung mit der Shoa ist es wichtig, auch diese schwierigen Kapitel zu beleuchten. Nicht um Rache zu rechtfertigen, sondern um zu verstehen, welche seelischen und gesellschaftlichen Folgen eine beispiellose Katastrophe wie der Holocaust nach sich ziehen kann – und wie Versöhnung, Gerechtigkeit und Wahrheit miteinander ringen.

 

Quellen

Dina Porat: „Die Rache ist Mein allein“: Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam, Ferdinand Schöningh, 2021

https://de.wikipedia.org/wiki/Abba_Kovner (Stand 23.05.2025)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-gruppe-nakam-giftanschlag-auf-ss-leute-100.html (Stand 23.05.2025)

https://de.wikipedia.org/wiki/Nakam (Stand 23.05.2025)

https://de.wikipedia.org/wiki/Plan_A_%E2%80%93_Was_w%C3%BCrdest_du_tun (Stand 23.05.2025)

Zurück