„Das Neue Testament jüdisch erklärt“ – eine Rezension zum Buch
Die Studienbibel „Das Neue Testament jüdisch erklärt“ ist die 2021 erstmals bei der Deutschen Bibelgesellschaft in Stuttgart erschienene deutsche Übersetzung der 2. Auflage von „The Jewish Annotated New Testament“, welches 2017 in der Oxford University Press (USA) von Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner herausgegeben wurde. Das 912seitige Werk beinhaltet neben der 2017er Übersetzung der Lutherbibel zu jedem Buch einen grundsätzlichen Einleitungstext, zu einigen Passagen ausführliche Erklärungen, die sich auf den historischen Kontext oder auf exegetische Arbeit fokussieren, und eine umfassende Menge an Essays, die sich noch detaillierter mit den historischen Ereignissen im biblischen Palästina und seiner Umwelt vor dem Geschehen der biblischen Inhalte, währenddessen sowie danach beschäftigen, über zu der Zeit gültige Gesetzesregelungen und Bewegungen sowie historischen Personen und dessen Verhältnis zum Judentum und vieles mehr.
Das Buch beginnt im Geleitwort zunächst mit dem Standpunkt der „Emergency Conference on Antisemitism“, die nach dem 2. Weltkrieg organisiert wurde und 1947 stattfand, aus dem heraus es wieder zum Dialog zwischen Juden und Christen kam. In diesem Kontext fand auch die erste Version dieses Werkes ihren Ursprung, welches daraufhin eine derart positive Rückmeldung bekam, dass einige Jahre später eine umfangreichere Auflage erschienen ist, um die es hier gehen soll.
Nach einer allgemeinen Einleitung zu den Evangelien und der Apostelgeschichte, in welcher unter anderem zum Beispiel das literarische Verhältnis zwischen den Evangelien erklärt wird, geht es über in die Einleitung des Evangeliums von Matthäus, in welcher (wie in jedem darauffolgenden Buch auch) zunächst die Verfasserschaft, zeitliche Datierung, Aufbau und thematische Schwerpunkte und das Verhältnis zum Judentum erklärt werden. Die Verfasser der Einleitungen sind meist Professoren von teilweise sehr bekannten Universitäten wie Havard oder der Northwestern University, haben jedoch alle einen gemeinsamen Punkt darin, dass sie durch eine sehr liberale Theologie geprägt sind.
Daraufhin beginnt das Werk mit dem Bibeltext, der mit einer großen Menge an erklärenden Fußnoten bedeckt ist und an gewissen Punkten Halt macht, um in einem unterschiedlich großen Abschnitt gewisse Teile des Textes genauer erklärt, beschreibt, wie zum Beispiel auf Seite 202, wo eine kurze Beschreibung eines Rabbis geliefert wird, oder Probleme dahinter anspricht und eine Lösung liefert, wie es unter anderem auf Seite 112 zu finden ist, wo eine Interpretation zu den unterschiedlichen letzten Aussagen Jesus am Kreuz vorgelegt wird.
Dazu werden auch noch Landkarten zum besseren Verständnis der damaligen geografischen Verhältnisse präsentiert, wie zum Beispiel die dritte Missionsreise des Paulus auf Seite 277. Dasselbe Verfahren zieht sich auch durch die anderen Evangelien und die Apostelgeschichte, bis es bei einer weiteren Vorabeinleitung für die Briefe und die Offenbarung erneut Halt macht.
Nach dem Abschluss der Verse des Neuen Testaments geht das Werk über zu dem ersten Abschnitt der Essays, welche sich mit der jüdischen Geschichte ab 331 v. Chr. sowie auch dem griechisch-römischen Hintergrund beschäftigen. Danach geht es auf das gesellschaftliche Leben der Juden ein, auf Strömungen und Gemeinschaften sowie das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, was auch das Verhältnis zu den Christen aus der Perspektive der Juden anspricht. Außerdem geht es noch auf Glaubenspraktiken und -Vorstellungen ein sowie auf jüdische Literatur und andere literarische Quellen aus der damaligen Zeit, in denen sowohl auf den damaligen Stand der zur Verfügung stehenden Bibelbücher und Schriften eingegangen wird und auch über die vom Judentum und Christentum bezeugenden außerbiblischen Quellen erläutert werden. In diesem Teil findet sich unter anderem auch ein Text eines jüdischen Autors, der sich mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der jüdischen Überzeugung und der Überzeugung Christi aus seiner Perspektive auseinandersetzt.
In dem Abschnitt der Reaktionen auf das Neue Testament schafft das Werk außerdem Einblicke in die jüdische Sicht auf biblische Personen wie Jesus, wie zum Beispiel die historische Bezeugung von ihm und seiner Hinrichtung durch Flavius Josephus und Tacticus oder Behauptungen über ihn im babylonischen Talmud, sowie ein Einblick in den Fachbereich der Leben-Jesu-Forschung, über dessen Historizität zunächst erzählt und anschließend von Sarah J. Tanzer, einer Professorin für Neues Testament am McCormick Theological Seminary, die Erkenntnisse nach moderner Auffassung präsentiert werden, Paulus, der von den Juden als der Begründer des Christentums bezeichnet wird und zu welchem es sehr unterschiedliche Positionen von Juden gibt, und Maria, die unter Juden als schwer einzuschätzende Persönlichkeit betrachtet wird, und wie sie sich im Laufe der letzten zwei Jahrtausende geändert haben.
Im letzten Unterpunkt des Essayteils beschäftigen sich die Texte dann mit der Situation für Juden in Deutschland und Europa, in dem zum einen auf Martin Luther und seine antisemitischen Schriften eingegangen wird, aber auch auf den jüdisch-christlichen Dialog und dessen Verlauf in den Jahrhunderten sowie damit, wie dieser auch durch den Holocaust beeinflusst wurde. Das Buch endet mit einer Reihe von praktischen Informationen, wie Zeittafeln und Gewichtsangaben, die das Verständnis von gewissen Bibelstellen erleichtern oder verständlicher machen können.
Insgesamt klärt das Buch ausführlich über die Hintergrundsituation des Neuen Testaments auf und liefert umfangreiche und hilfreiche Informationen zu den jüdischen Hintergründen der Praktiken, des Denkens und des logischen Verständnisses der damaligen Zeit, Informationen, die es dem Leser erleichtern, sich in die Situation hineinzuversetzen und die dementsprechend die Nachvollziehbarkeit des biblischen Textes vereinfacht. Auch gibt es spannende Einblicke in ein heutiges jüdisches Verständnis von Jesus und dem Neuen Testament und dient beispielsweise durch einen Essay über die Christologie dazu, dass auch Juden das Christentum besser verstehen können, so dass das Werk für beide Seiten hilfreich sein kann.
Anzumerken ist allerdings, dass insbesondere in den Einleitungen zu den neutestamentlichen Büchern die Informationen sehr stark vom historisch-kritischen Denken der Autoren geprägt ist, sodass folgerichtig beispielsweise nur ein Bruchteil der Briefe des Paulus tatsächlich als paulinisch angesehen wird, oder auch die Datierung der Verfasserschaft zumeist auf sehr späte Zeitpunkte gesetzt wird. Dementsprechend ist es empfehlenswert für den Leser, dass er sich vorher bereits eine klare Überzeugung dazu angeeignet hat, wie die Antworten in den Einleitungswissenschaften zwischen konservativ und liberal diskutiert werden, vor allem auch deshalb, weil das Buch keine unterschiedlichen Auffassungen möglicher Denkweisen dazu erläutert, sondern nur die Überzeugung der historisch-kritischen Methode präsentiert und die alternativen, konservativen Überzeugungen völlig außer Acht lässt. Sofern man sich diesbezüglich bereits eine feste Meinung gebildet hat, ist das Buch jedoch sehr empfehlenswert, da es, wie bereits gesagt, eine große Menge an Hintergrundinformationen liefert und das Verständnis des jüdischen Denkens fördert und Gesprächsmöglichkeiten zwischen Juden und Christen eröffnet.
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