Panorama einer syrischen Stadt - Bild von Openverse

Machtwechsel in Syrien: Was nun? Welche Folgen hat er für Israel und religiöse Minderheiten?

Wir schreiben den 18. Dezember 2024 – auf den Straßen der Städte und Dörfer Syriens, insbesondere natürlich der Großstädte Aleppo, Homs und Damaskus, herrscht nach wie vor große Euphorie. Auf den Tag genau drei Wochen zuvor begann etwas, mit dem nur die wenigsten gerechnet hatten: Die Assad-Diktatur, welche mit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad am 16. November 1970 ihren Anfang nahm und nach seinem Tod im Jahre 2000 auf seinen Sohn Baschar al-Assad als neuen Machthaber überging, ist gestürzt. Als im Jahr 2011 der syrische Bürgerkrieg ausbrach, gewann dieser Konflikt auch in Deutschland und Europa zunehmend mehr Aufmerksamkeit, was im Jahr 2015 dann mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ seinen Höhepunkt erreichte. Dies ist nun fast 10 Jahre her, aber der Krieg fand kein sprichwörtliches Ende. Der Status Quo wurde 2017 erreicht, nach dem Abklingen der erbittertsten Kämpfe und dem Einrichten mehrerer Sicherheitszonen, die wiederum von den Großmächten Russland, Türkei und dem Iran gestützt werden sollten. Er hielt sich zwar einige Jahre – jedoch minderte dies das menschliche Leid im Land nur bedingt. Die politische und soziale Lage blieb instabil.

Bürgerkriegsruinen in Syrien - Bild von Mahmoud Sulaiman auf Unsplash

Bürgerkriegsruinen in Syrien – Bild von Mahmoud Sulaiman auf Unsplash

Die Reduzierung der Kampfhandlungen ab diesem Zeitpunkt sorgte vor allem auch dafür, dass dieser Konflikt aus der Wahrnehmung vieler internationaler Beobachter und der internationalen Politik mehr oder weniger verschwand bzw. irrelevant wurde. Dies änderte sich am 27. November 2024 schlagartig, als offenbar wurde, dass die eigentlich in der Defensive vermutete oppositionelle Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), welche sich seit ihrer Gründung kämpferisch gegen den syrischen Diktator stellte, gemeinsam mit der durch die türkische Regierung unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) in die Offensive ging. In einer überraschenden Offensive aus der besetzten Provinz Idlib heraus, rückten die Milizionäre auf Aleppo vor und nahmen die Stadt am 30. November ein. Hierbei stießen sie auf wenig Widerstand, denn die Regierungstruppen sahen sich überrumpelt. Noch am selben Tag zogen die oppositionellen Kräfte weiter Richtung Süden nach Hama und nach Homs.

Am 7. Dezember rief dort schließlich der Kommandeur der HTS, welcher unter seinem Kampfnamen Abu Muhammad al-Jolani bekannt ist, die Befreiung der Stadt aus. Die sich überschlagenden Ereignisse im Norden und in der Mitte des Landes machten die Runde und erreichten schließlich auch lokale Rebellengruppen im Süden, welche ihrerseits begannen, gegen die Truppen der Regierung zu kämpfen. Auch hier verliefen die Gefechte relativ reibungslos für die Rebellen, sodass sich die Kräfte im Süden und HTS in Damaskus trafen, und die Stadt letztendlich ohne große Gegenwehr einnahmen. Baschar al-Assad hatte sich am 8. Dezember, als die syrische Armee kapitulierte, bereits nach Russland begeben und dort, von seinem wichtigsten Verbündeten Wladimir Putin, Asyl erhalten.

Zurück zu den Wirren der Vorweihnachtszeit und der Wochen nach dem für viele Syrer prägendsten Ereignis der letzten 7 Jahre in ihrem Land. Ein Bild der Freude und des Triumphs scheint die syrischen Großstädte zu beherrschen; die Euphorie über den Sturz des Diktators, der im Laufe des Krieges große Mengen seiner eigenen Landsleute hat töten, foltern und gefangen nehmen lassen, ist groß.

Gleichzeitig hegen aber auch viele Menschen im Land die Befürchtung, dass die neuen Herrscher unter der Führung al-Jolanis ihre Macht eines „strengen Scharia-Islams“ durch Unterdrückung und Gewalt gegenüber Christen, Alawiten, Drusen und anderen Minderheiten zum Ausdruck bringen.

Auf al-Jolani ist seit 2013 ein Kopfgeld ausgesetzt – 10 Mio. US-Dollar; denn er stand mit al-Qaida in Verbindung und wird u.a. von den USA und der EU als Terrorist eingestuft. Was viele jedoch verwundert, ist das Maß an „Friedfertigkeit“ von dem die Tage nach der Machtübernahme geprägt waren und nach wie vor sind – auch wenn die Kampfhandlungen, beispielsweise durch Luftangriffe Israels, der USA und auch der Türkei, nach wie vor nicht vollständig beendet wurden. Dies liegt primär an der Pluralität verschiedenster Gruppierungen und Interessen auf syrischem Territorium: Die Türkei bekämpft vor allem kurdische Kräfte im Norden des Landes, die USA flogen Angriffe gegen IS-Terroristen und Israel flog laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als 470 Angriffe gegen syrisches Kriegsmaterial sowie gegen biologische und chemische Waffensysteme aus Beständen des inzwischen geflohenen Diktators.

Sankt-Georgs-Kloster bei Homs - Bild von Openverse

Sankt-Georgs-Kloster bei Homs – Bild von Openverse

Welche Erwartungen sind für Minderheiten in Syrien unter der neuen „Herrschaft“ realistisch? Vor Ausbruch des Bürgerkrieges waren etwa 7% der Bevölkerung Syriens christlich. Nach Beginn des Krieges flohen wiederum viele und die, die zurückblieben, genossen unter al-Assad weitgehend Schutz. Manche kooperierten mit dem Regime. Viele fürchten nun einerseits Repressalien für diese Kollaboration; andere wiederum lassen sich davon ermutigen, dass HTS explizit den Schutz und die Akzeptanz von Minderheiten auf ihre Agenda gesetzt hat. Gerade weil man islamisch sei, wolle man dies tun, hieß es.

Der Bischof der armenisch-orthodoxen Kirche in Damaskus jedenfalls, Armash Nalbandian, äußerte sich dahingehend, dass seine Gemeinde keine Verfolgung fürchte, da die neuen Machthaber sich tolerant gäben. Al-Jolani überraschte überdies auch damit, dass er sich mit der drusischen Gemeinde traf, und dort beteuerte, er wolle sicherstellen, dass sämtliche aktive Kämpfer über kurz oder lang dem Verteidigungsministerium, und damit auch dem Recht, unterstellt sein würden. Inwiefern sich dies bewahrheitet, bleibt abzuwarten.

Israel blickt auf die aktuellen Entwicklungen im Nachbarstaat mit einer gewissen Ambivalenz und auch mit Sorge. Einerseits ist Baschar al-Assad ein erbitterter Feind des jüdischen Staates und er war einer der wichtigsten Verbündeten in der regionalen Machtachse des Iran; andererseits ist das Fragezeichen, wie sich die neuen Machthaber nun verhalten mögen, groß.

HTS machte in Gestalt des Chefideologen noch 2021 klar, dass ein islamistischer Staat das erklärte Ziel sei. Al-Jolani selbst begann im Jahre 2013 seinen Aufstieg zum syrischen de-facto-Machthaber mit der Gründung des syrischen Ablegers von al-Qaida, den er anführte. Zwar distanzierte er sich 2015 explizit vom Islamischen Staat und gab 2016 die Abspaltung seiner Organisation von al-Qaida bekannt, aber ob dies zu einem echten Gesinnungswandel weg vom radikalen Jihadismus führte, oder ob der Westen insgesamt, und Israel im Besonderen, nach wie vor das primäre Feindbild der HTS und ihrer Verbündeten darstellen – das bleibt offen.

Sollte sich Damaskus zu einer neuen, erstarkten Basis des radikal-islamistischen Jihadismus entwickeln, die auch von externen Mächten, wie dem Erzfeind Israels in Teheran oder dem stets nach Gesundung und Wachstum strebenden IS genutzt wird – und all das lediglich knapp 200 km Luftlinie von Jerusalem entfernt – dann wäre Israel erneut sehr stark bedroht.

Derzeit gibt es aber durchaus Grund für Optimismus. Beispielsweise wurde am 13. Dezember in einer libanesischen, der Hisbollah nahestehenden Zeitung ein Bericht veröffentlicht, in dem HTS palästinensische Fraktionen, insbesondere die Hamas, dazu aufruft, auf oder von syrischem Territorium aus keinerlei militärischen Aktionen gegen Israel zu planen oder auszuführen. Die nächsten Wochen und Monate werden Klarheit bringen, ob sich Worte in Taten übersetzen oder nicht. Derweil schauen Israelis und Juden auf der ganzen Welt, wie auch die internationale Gemeinschaft insgesamt, gebannt auf das, was in Syrien geschieht.

Unser Gebet als Christen muss sein, dass der allmächtige Gott barmherzig in die politische Situation in Syrien und in die Regierungsbildung eingreift, auf dass doch Entwicklungen, wie dereinst im Iran oder in Afghanistan mit ihrem radikalisierten Schari-Islamismus und der überwiegenden Missachtung der Menschen-, Minderheiten- und Frauenrechte, verhindert werden mögen und keine antijüdische Eskalation gegen Israel dem Assad-Regime folgt.

 

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