Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus

Äußert man sich antisemitisch, wenn man den Staat Israel kritisiert?

In der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) bemühten sich deren Unterzeichner darum, diese Frage differenzierter und präziser als bisher zu beantworten und die als unklar empfundene Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu ersetzen.

Ein Kommentar.

 

Was ist eigentlich Antisemitismus?

Über diese Frage scheiden sich die Geister. Um jedoch Behörden, Polizeikräften und politischen Akteuren eine Beurteilungsgrundlage an die Hand zu geben, machten sich Vertreter des Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) und des European Monitoring Center on Racism and Xenophobia (EUMC) zusammen mit einigen weiteren Experten im Jahr 2005 daran, eine praxisfähige Definition von Antisemitismus zu formulieren. Aus Sorge um Widerstand einiger Staaten und NGO’s gegen das darin zum Ausdruck kommende Verständnis antisemitischer Israelkritik, wagte man sich damals nicht über eine sog. „Arbeitsdefinition“ hinaus. Dennoch wird diese Antisemitismus-Definition mit ihren Veranschaulichungsbeispielen bereits von einigen EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, verwendet. Im Jahr 2016 wurde sie schließlich vom IHRA angenommen und wird seither zumeist mit diesem identifiziert. In dem 600 Wörter umfassenden Dokument heißt es:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Ferner hält sie fest:

„Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“

Neben einigen weiteren Ausführungen nennt sie schließlich 11 konkrete Beispiele von Antisemitismus, von denen 7 einen Bezug zum Staat Israel aufweisen.

Einige waren mit dieser Definition jedoch nicht zufrieden. „Weder klar noch kohärent“ sei sie und vor allem: „sie verwischt den Unterschied zwischen anti-semitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und am Zionismus.“ Daher musste eine neue Definition her. Eine, die nicht nur klärt was Antisemitismus ist, sondern auch, was er nicht ist — die JDA. Nach einer ausführlichen Präambel definiert sie Antisemitismus wie folgt:

„Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“

Und schon hierin entsteht der Eindruck, dass Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Israelis nach Meinung der Autoren eine andere Bewertung erfahren sollten. Auf der 2. Seite des 4-seitigen Dokuments folgen 15 Leitlinien, vergleichbar mit den 11 Beispielen zur IHRA-Definition. Die ersten 5 sollen dabei zeigen, was allgemein unter Antisemitismus zu verstehen ist, 5 weitere beschäftigen sich mit israelbezogenen Beispielen, die sie als antisemitisch versteht, während die 5 letzten Leitlinien abzugrenzen versuchen, welche israelbezogenen Handlungen nicht „per se“ als antisemitisch bezeichnet werden dürfen. Die zweite Hälfte der JDA füllt schließlich ein umfassender Frage-Antwort-Teil aus, in dem sich ihre Autoren möglicher Missverständnisse und Kritik präventiv zu erwehren versuchen. 

Dabei proklamieren die Unterzeichner der JDA als ihr Ziel, „(1) den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren“. Dabei bekommt Ziel 2 eine ganz besondere Bedeutung, denn: „Die JDA versucht zu klären, wann Kritik an (oder Feindseligkeit gegenüber) Israel oder dem Zionismus die Grenze zum Antisemitismus überschreitet und wann nicht“. Und so entstand, nach Meinung der Autoren und Unterzeichner, ein neueres, besseres und schärferes Schwert für „den Kampf gegen Antisemitismus und den Schutz der Meinungsfreiheit auf der Grundlage universeller Prinzipien“. Und diese universellen Prinzipien bedeuten eben auch: „Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkommen geschützt zu sein. Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck ‚doppelter Standards‘ betrachtet wird, ist nicht per se antisemitisch“. Dieses „per se“ wirkt dabei immer wieder wie die letzte Bastion der Meinungsfreiheit, der ultimative Grenzstein zum Antisemitismus und wirft damit immer wieder die Frage auf, was die JDA mit ihren über 2700 Worten eigentlich zu definieren versucht — Antisemitismus oder Meinungsfreiheit… In jedem Fall scheint sie in ihren letzten 5 Leitlinien keine Unklarheit über die Grenze des Antisemitismusvorwurfs im Kontext politischer Meinungsäußerung aufkommen lassen zu wollen. So geht sie explizit auch auf Boykott, Desinvestition und Sanktionen, als „gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten“ ein und kommt in ihrer 14. Leitlinie zu dem Schluss, diese als „nicht per se antisemitisch“ beurteilen zu können. Eine Unterstützung der aktuellen BDS-Kampagne weist die JDA in ihrem Frage-Antwort-Teil dann allerdings vehement zurück und verweist stattdessen auf ihre ersten 5 Leitlinien zur Beurteilung von deren Maßnahmen. Als dazu geeignet erweisen sich diese jedoch nicht wirklich, denn dort ist lediglich von den klassischen Formen von Antisemitismus, wie Verallgemeinerungen, Verschwörungstheorien, Holocaustleugnung, etc. die Rede. Andere Formen von Judenhass verkennt die JDA dagegen in eklatanter Weise. Allein die „Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses“ wird in Leitlinie 4 noch als antisemitisch benannt und auch die Beispiele in Leitlinie 6-10 helfen in Bezug zur aktuellen BDS-Kampagne und ähnlicher tagespolitischer Phänomene nicht wirklich weiter. Dem entgegen stufen die Buch-Autoren Feuerherdt und Markl diese in ihrer neusten Publikation „Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand“ auf Basis der IHRA-Definition als eindeutig antisemitisch ein. Denn sie gelangten bei ihrer umfassenden Analyse zu dem Fazit: „BDS richtet sich nicht gegen eine bestimmte israelische Regierung, sondern gegen Israel als Ganzes“. Doch fiele dies nach den JDA-Prinzipien wohl eher unter Antizionismus, welcher in ihrem Frage-Antwort-Teil von Antisemitismus klar unterschieden wird. Zwar wird im Folgenden ebenfalls erwähnt, dass dieser auch antisemitisch sein könne, BDS scheint dieses Maß jedoch nach JDA-Verständnis nicht zu überschreiten.

Contra gab es allerdings nicht nur wegen solcher allzu tendenziös wirkenden Maßstäbe der JDA. Auch die Einordnung von Antisemitismus als lediglich eine Form von Rassismus, stieß etlichen Kritikern auf. So schreiben exemplarisch die Antisemitismus-Experten Bernstein, Rensmann und Schwarz-Friesel in der jüdischen Allgemeinen: „diese ‚Erklärung‘ (…) setzt Judenhass mit Rassismus gleich. Die konturiert rassistische Variante der NS-Zeit findet sich heute noch bei Rechtsextremisten und Neonazis, nicht jedoch im linken, muslimischen und Mitte-Antisemitismus. So erfasst diese ‚Definition‘ nicht die Vielfalt der Ausdrucksformen von Antisemitismus im 20. und 21. Jahrhundert.“ Ein Vorwurf, der nicht erst mit Blick auf BDS plausibel erscheint. Denn der Holocaust-Forscher und Mitverfasser der JDA, Amos Goldberg, lässt sich mit den Worten zitieren: „Ich bestreite nicht, dass es antisemitische Trends auch unter den Linken gibt, zweifellos. Aber die größere Gefahr entspringt der radikalen Rechten“. Demnach scheinen die Verfasser der JDA in ihrem Verständnis von Antisemitismus allzu eingeschossen auf den Judenhass von rechts. Von der Einordnung des Antisemitismus als Rassismus verpricht sich Goldberg allerdings die Unterstützung der „antirassistischen Bewegung“, eine Hoffnung, der die Definition der IHRA seiner Meinung nach im Wege steht: „Wie kann man einem Araber oder einer Araberin sagen, schließ dich dem Kampf gegen Antisemitismus an? Sie werden entgegen: ‚Verarscht uns nicht! Denkt ihr, ich helfe euch die Besatzung zu schützen? Das passiert doch, wenn man der IHRA-Definition folgt, ihr schränkt mein Recht auf Meinungsfreiheit ein.’“ Wer sich jedoch an die Demonstrationen auf deutschen Straßen erinnert, welche die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Mai diesen Jahres begleiteten, dann scheint allzu offensichtlich, dass der dort zutage getretene Judenhass nichts mehr mit einem Recht auf Meinungsfreiheit zu tun hat, das des Schutzes durch eine neue Antisemitismus-Definition bedarf.

Alles in allem präsentiert sich die JDA tolerant bzgl. ihres Antisemitismus-Verständnisses, welches trotz gegenteiliger Beteuerungen im vergangenen Jahrhundert stecken geblieben zu sein scheint. Von manchen als differenziertere IHRA-Definition bejubelt, verteidigt sie offenbar jedoch eher die Meinungsfreiheit gegen den Antisemitismusvorwurf, anstatt den Antisemitismus unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung aufzudecken, wie man es von einer Antisemitismus-Definition erwarten können sollte.

Was also ist Antisemitismus?

Handelt es sich dabei lediglich um rassentheoretische Verallgemeinerungen wie die „Judennase“, Verschwörungstheorien bzgl. des „Weltjudentums“ und die Leugnung des Holocaust’? Oder überschreitet eine in ihrer Einseitigkeit längst tradierte Israelkritik diese Grenze ebenso? Die JDA scheint jedenfalls zu zeigen, dass eine Antisemitismus-Definition bei der Beantwortung dieser Frage, nicht per se von der primären Intention getrieben sein muss, Judenhass in jedem Gewande den Kampf anzusagen. Auf diese Weise wird sie allerdings dem Anspruch die IHRA-Definition zu ersetzen keineswegs gerecht. Denn in ihrer aktuellen Fassung erfüllt die JDA bei weitem nicht, was klar und pointiert als Antisemintismus oder Anti-Israelismus in seinen aktuellen Erscheinungsformen gebrantmarkt werden müsste.

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