Auszug aus Arabien

Das 20. Jhd. kann als eines der wohl schicksalsträchtigsten Jahrhunderte der jüdischen Geschichte bezeichnet werden. Nur in wenigen Zeitabschnitten fallen Licht und Schatten für das Volk Israel dermaßen eng zusammen, wie im vergangenen Jahrhundert. Nicht allein die unsagbaren Schrecken der Nazizeit, sondern auch die Staatsgründung Israels, nach fast 2000-jähriger Diaspora, fiel in diese hochbrisante Epoche. Doch war für das jüdische Volk die Zeit der Schrecken nicht vorbei, nachdem David Ben Gurion am 14.05.1948 im völkerrechtlichen Sinn den Staat Israel im Land Israel ausrief. Schon am nächsten Tag begannen sechs arabische Staaten ihren Angriff auf die junge Nation, und der israelische Unabhängigkeitskrieg nahm seinen Lauf. Die ca. 700.000 arabischen Flüchtlinge jener Tage sind heute auf über fünf Millionen angewachsen[1]. Die etwa 900.000 jüdischen Vertriebenen islamisch geprägter Nationen des 20. Jahrhunderts sind dagegen weitgehend unbekannt geblieben. Ein Artikel in der FAZ möchte diesbezüglich nun Aufklärung leisten – ein Kommentar.

Die ganze 13. Seite im Feuilleton widmete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 04.01.2021 dem Artikel von Stephan Grigat unter dem Titel „Der verdrängte Exodus“ – sieben Minuten Lesezeit veranschlagt FAZ.NET für die Lektüre. Der Professor für Politikwissenschaft in Wien und Passau nimmt seine Leser mit auf einen Exkurs in die jüdisch-islamische Beziehungs-Geschichte.

 

Dabei vergleicht er zunächst die Zahlen jüdisch-stämmiger Einwohner der islamisch geprägten Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens vor und nach der Staatsgründung Israels. Es wird sehr schnell deutlich, dass die jüdische Fluchtrichtung des 18. Jahrhunderts von Russland und dem Balkan in das damalige osmanische Reich, sich schon ein Jahrhundert später auf dramatische Weise umkehrte. Von den fast eine Millionen Juden dieser Regionen sind heute nur noch wenige Tausend übrig. Und wie unter Hitler, mussten auch zu dieser Zeit nahezu alle jüdischen Flüchtlinge fast ihre gesamte Habe zurücklassen. Zur Verdeutlichung der Größenordnungen dieser Güter verweist Grigat auf Schätzungen von bis zu 300 Mrd. US-Dollar.

 

jüdische Bevölkerung (Circaangaben) vor 1948 heute Überrest in %
Iran 100.000 10.000 10 %
Tunesien 100.000 1.500 1,5 %
Marokko 250.000 2000 0,8 %
Jemen 50.000 50 0,1 %
Syrien 30.000 15 0,05 %
Ägypten 75.000 20 0,03 %
Irak 125.000 20 0,01%
Algerien 140.000 0 0 %
Libyen 38.000 0 0 %

 

War die Staatsgründung Israels also ein solch einschneidendes Ereignis für die jüdisch-islamischen Beziehungen? Ja und Nein, sagt Stephan Grigat, der sich sowohl als Permanent Fellow des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam bezeichnen kann, als auch den Titel des Research Fellow der Universität Haifa inne hat. Er spricht von zwei Kräften, welche die jüdische Bevölkerung von Marokko bis zum Iran zur Emigration aus ihren Heimatländern bewegte. „Pull“- und „Push“-Faktoren nennt er diese und geht damit sowohl auf die Anziehungskraft des jüdischen Staates (engl. pull = ziehen), als auch die Verfolgungen und Benachteiligungen in den arabischen Nationen (engl. push = drücken) ein. Dabei wird schnell klar, dass er „in den antijüdischen Traditionen der islamisch dominierten Gesellschaften und dem manifesten Antisemitismus der jeweiligen arabischen Führungen“ die Hauptursache für diesen Exodus der Juden aus den islamisch geprägten Staaten sieht.

Eine Einschätzung, die er im Folgenden durch verschiedene Beispiele aus der Geschichte untermauert und in wenigen Sätzen skizziert, dass es den Juden unter islamischer Herrschaft zwar in der Regel besser ging, als in den christlichen Gesellschaften Europas zur gleichen Zeit, es sich hierbei jedoch um einen Vergleich auf unrühmlich niedrigem Niveau handelt. Denn selbst der Status der Juden in der arabischen Welt als „Schutzbefohlene“ war seiner Meinung nach geprägt von Verachtung und Erniedrigung und beruft sich dabei auf den marokkanisch-stämmigen Historiker Georges Bensoussan. So schlägt Grigat einen weiten Bogen vom muslimischen Granada des 11. Jahrhunderts bis zu den islamistischen Attentätern der Gegenwart und kommt dabei zu dem Schluss, dass „die arabisch-islamische Verachtung von Juden (…) nicht der israelischen Staatsgründung“ bedurfte. Vielmehr sieht er darin nur den Auslöser für den Wandel von traditioneller Judenverachtung zu programmatischem Judenhass in den islamisch geprägten Nationen, welche im Zionismus anscheinend einen unduldsamen Ausdruck jüdischer Emanzipation von ihrem Status als untergebene Schutzbefohlene empfanden und längst nicht mehr zwischen jüdischem „Zionist“ oder „Antizionist“ zu unterscheiden wussten.

Doch Stephan Grigat weiß auch von deutlich moderateren Fraktionen auf arabischer Seite zu berichten. Seien es solche, gegen die sich ein Amin al Husseini im Mandatsgebiet Palästina erst mit Gewalt durchzusetzen wusste, oder jene, die im Irak bei dem Versuch ihre jüdischen Nachbarn zu schützen, von ihren eigenen Glaubensgenossen zu Märtyrern gemacht wurden. Sogar Habib Bourguiba, Tunesiens erster Präsident, wird von ihm auf Grund seines „moderaten Realismus“ zum „Gegenspieler des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser“ erklärt, der seinerseits zuvor seinen, dem jüdischen Volk gegenüber deutlich gemäßigteren Vorgänger Muhammad Nagib gestürzt hatte.

Wohin aber flohen sie, die jüdischen Emigranten, aus den arabischen Nationen? Der Beantwortung dieser Frage widmet sich der FAZ-Artikel schließlich im letzten Drittel. Etliche von ihnen flohen nach Frankreich, gerade jene aus ehemaligen französischen Kolonien, wie Algerien und Tunesien.

jemenitische Juden während der operation „Fliegender Teppich“, Foto: Israel Government Press Office

Für die Juden aus Ägypten, Syrien und dem Libanon, wurden insbesondere die Vereinigten Staaten zu einer neuen Heimat. Der Großteil aber flüchtete sich in die „nationale Heimstätte der Juden“, nach Israel. Zum Teil durch spektakuläre Aktionen, veranlasst vom jungen jüdischen Staat, wie der Operation „Fliegender Teppich“ zur Evakuierung von über 45.000 Juden aus dem Jemen oder der Operation „Ezra und Nehemia“, bei der mehr als 120.000 irakische Juden nach Israel gebracht wurden. Insgesamt kamen so ca. zwei Drittel der etwa 900.000 aus arabischen Ländern geflohenen Juden in ihrem gelobten Land an. Mehr als fünfzig Prozent der jüdischen Bevölkerung des heutigen Israel führen sich auf sie zurück. Verglichen mit den Herausforderungen der EU mit der Flüchtlingskrise von 2015, kann es nur als bemerkenswert bezeichnet werden, wie es die vom Krieg gezeichnete junge jüdische Nation der damaligen Zeit schaffte, all diese, durch so viele verschiedene Kulturen geprägten Juden so erfolgreich zu integrieren.

 

Doch gerade darin sieht Stephan Grigat einen der Gründe, warum dieses Kapitel der jüdischen Geschichte weithin so unbekannt geblieben ist. Ein „Rückkehrrecht“ dieser Flüchtlinge einzufordern, war schlichtweg nie das Mittel der Wahl israelischer Politik im bisherigen Nahost-Konflikt. Doch wie die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien im vergangenen Jahrhundert und die Normalisierung der Beziehungen zu etlichen arabischen Nationen der jüngsten Vergangenheit zeigen, muss ein Flüchtlingsstatus weder von Generation zu Generation weitergegeben, noch als politisches Druckmittel verwendet werden, um Friedensbemühungen voran zu treiben.

Nichtsdestotrotz misst Grigat, der sich gegen tradierten Antisemitismus sowohl im Islam, als auch der politischen Linken engagiert, der „Aufarbeitung der Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern (…) eine wichtige Rolle sowohl bei zukünftigen Friedenslösungen im Nahen Osten als auch bei Diskussionen über einen (re)importierten Antisemitismus in Europa“ bei und gibt damit zum Abschluss seiner Ausführungen einen wundervollen Ausblick auf das Potential ehrlich aufgearbeiteter Geschichte, für ein neues Aufeinander Zugehen von Israel und den arabischen Völkern.

 

Alles in allem ein Artikel, der wenn auch nur in aller nötigen Kürze, so doch den Blick in ein weitestgehend in Vergessenheit geratenes Kapitel der jüdisch-arabischen Geschichte auch für all jene weitet, die in ihrem Alltag nicht mehr als zehn Minuten Lesezeit pro Thema unterbringen können oder bisher nur von Millionen von palästinensischen Flüchtlingen in dritter Generation wussten. Umso erfreulicher, wenn man über solche Kleinode der Alltagsliteratur im Feuilleton der FAZ stolpert. Schade nur, dass man erst Professor der Politikwissenschaft und wissenschaftlicher Direktor einer Kampagne wie „Stop the Bomb“ sein muss, um der oft so einseitigen Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts in unserem Lande ein Korrektiv sein zu können.

Für die, welche aus Gründen der Zeit, des Interesses oder der Quellenforschung auf ein umfangreicheres literarisches Werk zurückzugreifen suchen, sei an dieser Stelle ein Buch von Nathan Weinstock empfohlen, mit dem vielsagenden Titel:

„Der zerrissene Faden: Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947-1967“

 

 

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[1] Rensmann, Jörg. Flüchtlingsstatus der Palästinenser. Raus aus der Rolle als Almosenempfänger. In: https://causa.tagesspiegel.de/politik/us-plaene-im-nahostkonflikt-hilfe-fuer-frieden-oder-eigennutz/raus-aus-der-rolle-als-almosenempfaenger.html, Zugriff am 16.01.2021

Titelbild: Israel Government Press Office

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