Eindrücke von der LCJE-Konferenz in Paris 2025 – Zwischen Mission, Identität und Hoffnung
Als ich vor einigen Wochen zur diesjährigen LCJE-Konferenz in Paris reiste, ahnte ich: Diese Tage würden herausfordernd werden. Die Lausanne Consultation on Jewish Evangelism ist ein Netzwerk, das Christinnen und Christen aus aller Welt verbindet, die eines teilen – das Anliegen, jüdische Menschen mit der Liebe des Messias bekannt zu machen. Doch diesen September war der Ton ernster, nachdenklicher. Der Krieg in Israel, der 7. Oktober 2023 und die spürbar zunehmende Unsicherheit für jüdische Gemeinschaften in Europa prägten viele Gespräche.
Erste Eindrücke vor Ort
Schon die Eröffnungssitzung machte deutlich, dass es hier nicht nur um Strategien, sondern vor allem um geistliche Orientierung ging. Unter dem Thema „Mapping Europe – Where are the Gaps in Jewish Mission?“ wurde gefragt, wo jüdische Menschen in Europa heute tatsächlich erreicht werden – und wo nicht. Die Vorträge zeigten ein ehrliches Bild: In Ländern wie Polen, Belgien, den Niederlanden oder Deutschland sind jüdische Gemeinden klein, verstreut und oft schwer zugänglich. Und trotzdem gab es weiter Hoffnung: Gerade angesichts wachsender Spannungen entsteht neue Offenheit für Gespräche und Begegnungen. In Vorträgen von Leuten aus verschiedenen Ländern wurde berichtet, wie es um das jüdische Leben und die Evangelisation in den Ländern jeweils steht – alle hatten das gleiche Anliegen, aber die Ausgangssituationen waren vollkommen unterschiedlich:
Ein internationaler Blick auf jüdisches Leben und Evangelisation
Ein Beitrag über die Situation in Polen beschäftigte mich besonders. Die Frage lautete: „Braucht Polen heute einen messianisch-jüdischen Missionar?“ Dahinter stand die Vermutung, dass Juden selbst am besten andere Juden erreichen – durch authentische Beziehungen, nicht durch Programme. Der Gedanke war, ob Juden dort eventuell offener sind über den Glauben zu reden, gerade weil sie die Geschichte kennen und kritisch hinterfragen, wie ausgerechnet Juden an den „Messias Jesus“ glauben können. In einem Land, dessen jüdische Geschichte von tiefen Wunden und langen Schatten geprägt ist, bekam dieses Anliegen ein besonderes Gewicht. Der sinnvollste Ansatz für Mission schien hier nicht eine Kampagne zu sein, sondern stille Treue, präsent sein, zuhören, Hoffnung leben.
Ähnlich eindrücklich war der Bericht über Zypern. Infolge des Krieges ist die Insel für viele Israelis zu einem Rückzugsort geworden. Chabad-Häuser, koschere Restaurants, israelische Hotels – überall begegnet man hebräischen Stimmen. Das Bezeugen des Evangeliums unter Israelis dort bedeutet vor allem eines: da zu sein. Der Sprecher sprach von Begegnungen mit Soldaten, Friedensaktivistinnen und säkularen Israelis, die Zuflucht suchten. Er schloss mit dem Gedanken, Zypern könne „das erste Land sein, das Israelis erreicht, wenn sie fliehen müssen“ – und Christen sollten bereitstehen, ihnen dort mit praktischer Hilfe und geistlicher Hoffnung zu begegnen.
In einem weiteren Beitrag sprach Vladimir Pikman, Vertreter von Beit Sar Shalom, über die Lage der Bildung für messianisch-jüdische Gemeinden in Deutschland. Seine Analyse war nüchtern und zugleich ermutigend: Zwar gibt es in Deutschland zahlreiche theologische Ausbildungsstätten, doch kaum Angebote, die gezielt auf den Dienst unter jüdischen Menschen vorbereiten. Um diese Lücke zu schließen, wurde in Berlin die Jewish Theological Academy gegründet – in Kooperation mit dem Dallas Theological Seminary. Ziel ist es, theologisch fundiert über „den jüdischen Jesus“ zu lehren und Kirchen zu befähigen, Israels Rolle in der Heilsgeschichte besser zu verstehen. Pikman betonte zugleich die Notwendigkeit engerer Zusammenarbeit zwischen Missionswerken. Viele seien klein und unabhängig, und Kooperation geschehe häufig nur auf Leitungsebene. Er plädierte für Netzwerke statt Hierarchien – „wie ein Seestern, der aus jedem Teil neu wachsen kann“. Es ist ein starkes Bild für den Wunsch nach flexibler, beziehungsorientierter Missionsarbeit.
Danach gab es die Möglichkeit für alle Teilnehmer eigene Projekte oder Ideen vorzustellen. Ziel war es, gemeinsam neue Strukturen zu schaffen und zu überlegen, wie man schon bestehendes miteinander verbinden könnte, um neue Möglichkeiten zu schaffen für Kooperationen rund um das Evangeliums-Zeugnis unter Juden. Beispielsweise wurden Möglichkeiten vorgestellt, nach Jerusalem zu reisen und dort Seminare rund um Israel zu besuchen, wie beispielsweise eine LCJE-Gruppe in Finnland, die versucht die verstreuten Juden im Land zu erreichen, und eine Organisation aus Amerika, die sowohl humanitäre als auch medizinische Hilfe mit missionarischer Verkündigung verbindet.
Darauf folgte ein theologisch anspruchsvoller und emotionaler Beitrag über „Christian Zionism – Colonial Theology?“. Dabei ging es um die Frage, wie Christen ihre Solidarität mit Israel biblisch begründen – und wo sie Gefahr laufen, in politische oder ideologische Extreme abzugleiten. Es spannte sich ein weiter Bogen an Themen und es war beeindruckend, wie ehrlich über Spannungen gesprochen wurde. „Wir müssen lernen, nicht nur zu reagieren, sondern zu verstehen, warum andere die Bibel anders lesen als wir“, sagte einer der Beteiligten. Diese Haltung – Wahrheit mit Demut zu verbinden – prägte viele Gespräche in Paris.
In der abschließenden Runde stand das bedrückende Thema Antisemitismus in Europa nach dem 7. Oktober im Zentrum. Vertreter aus den Niederlanden, Belgien, Norwegen, Ungarn und Deutschland berichteten aus ihren Ländern. In Norwegen müsse man teilweise Gebetstreffen aus Angst vor den Reaktionen inzwischen bei der Polizei anmelden. In Deutschland sei 2023 ein Anstieg antisemitischer Straftaten um 96 Prozent verzeichnet worden – ein Befund, der viele erschütterte. Eine ungarische Teilnehmerin beschrieb die paradoxe Situation in ihrem Land: Jüdische Menschen leben offiziell sicher, doch der „neue Antisemitismus“ verlagert sich in soziale Medien, wo Israel als „Terrorstaat“ diffamiert und Juden für verachtenswerte politische Ereignisse verantwortlich gemacht werden.
Die Atmosphäre in Paris
Am Donnerstag führte uns eine Exkursion ins jüdische Viertel von Paris, in das historische Marais. Zwischen alten Synagogen, koscheren Bäckereien und Gedenktafeln wurde die Geschichte des jüdischen Lebens in Frankreich greifbar. Viele von uns waren bewegt von der Mischung aus kultureller Lebendigkeit und tragischer Erinnerung, die diesen Ort prägt. Den Abschluss bildete ein Besuch im Mémorial de la Shoah, dem zentralen Holocaust-Museum Frankreichs. Dort, angesichts der Namen Tausender deportierter Juden, wurde die geistliche Dimension der Konferenz noch einmal spürbar. Die Diskussionen der vergangenen Tage – über Mission, Theologie und Versöhnung – bekamen ein neues Gewicht. Es ging nicht mehr nur um Strategien, sondern um das Gedenken, um Verantwortung und um die Frage, was das christliche Zeugnis vom Erlöser Jesus angesichts dieser Geschichte bedeutet.
Trotz der Schwere dieser Themen blieb die Atmosphäre hoffnungsvoll. Immer wieder klang durch: Gottes Bund mit Israel steht – und er verpflichtet Christen zur Treue, Liebe und zu klarem Bekenntnis. Viele Redner erinnerten daran, dass theologische Einsicht ohne persönliche Begegnung leer bleibt. Jüdisch-christliche Beziehungen entstehen nicht durch Debatten, sondern durch geteiltes Leben, Zuhören und echtes Interesse.
Diese Atmosphäre prägte auch die Begegnungen unter den Teilnehmern. Es gab zwischen den Vorträgen immer wieder bewusst Kaffeepausen, um den Austausch untereinander zu fördern, und auch die Mahlzeiten waren immer mit Gemeinschaft verbunden. Es trafen viele Leute aus der ganzen Welt aufeinander und konnten voneinander lernen, auch, wie sich sie und ihre Organisationen für die Evangelisation unter Juden engagieren.
Am letzten Abend, als wir gemeinsam Lieder auf Englisch, Hebräisch und Französisch sangen, wurde mir bewusst, wie verschieden Christen sind – und doch vereint im Glauben an denselben Messias. Zwischen den Zeilen dieser Konferenz lag ein stilles Bekenntnis: Es geht nicht um reines Wissen, sondern um eine Haltung. Das bedeutet, die Bibel mit offenen Augen zu lesen, die Geschichte ernst zu nehmen und den Menschen in ihrer Wirklichkeit zu begegnen.
Dieser Artikel dient als Auftakt und Überblick. In den kommenden Beiträgen dieser Serie werden die Themen von einzelnen Vorträgen der Konferenz noch ausführlicher thematisiert und die Stadtführung mit einigen Bildern geschildert.
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