Jüdische Gebetsriemen – Symbol der Bindung von Körper, Seele, Geist?

Fast jeder, der sich etwas mit dem Judentum beschäftigt hat, kennt sie: Die schwazen Lederschnüre, die um Arm, Hand und Kopf geschlungen werden und die daran befestigten schwarzen Kästchen, die Textstellen der Tora enthalten (Verse aus 2Mose 13 u. 5Mose 6 und 11). Man nennt sie Gebetsriemen (Tefillin). Diese Gebetsriemen werden von frommen jüdischen Männern (im Reformjudentum auch von Frauen) für die drei täglichen Pflichtgebete angelegt. Sie gehören wie der Gebetsmantel oder die Mesusa (siehe Artikel dazu) zum festen Bestandteil des jüdischen Alltags. Aber nur wenige in Deutschland wissen, was sie als Symbol im übertragenen Sinn bedeuten sollen, nämlich die sinnbildliche (Ver-)Bindung von Denken, Fühlen und Handeln.

Durch die Verwendung der Gebetsriemen sollen Gebote der Tora erfüllt werden, die dazu auffordern, das mosaische Gesetz auf das Herz, die Hand und die Stirn zu legen (5Mose 11,13-21; vgl. 2Mose 13,1-10; 13,11-16). Aber wie können Gebetsriemen diese Aufforderung erfüllen, wie soll man das verstehen?

 

Zunächst einmal eine kurze Erklärung, was Gebetsriemen überhaupt sind.

Zuerst einmal zum Namen: Wie gesagt, die Gebetsriemen nennt man „Tefillin“ (Plural Tefilla), das bedeutet „Gebet“. Sie bestehen aus zwei Teilen: aus dem Arm-Tefillin und dem Kopf-Tefillin. Diese beiden unterscheiden sich inhaltlich dadurch, dass die Tefillin am Arm aus nur einer Kammer mit einem Pergamentstück, die Tefillin am Kopf aus fünf Kammern mit je einem Pergamentstück bestehen. Dabei sind die Tora-Stellen (Gesetz), die auf den Pergamenten geschrieben stehen, in Summe dieselben. Angefertigt werden sie aus koscherem Rindsleder und Pergamenten, die nur von speziellen Toraschreibern angefertigt werden dürfen.

 

Juden legen sich zum Gebet Tallit und Tefillin an.

Wie werden die Gebetsriemen gelegt?

Die Kästen müssen beim Tragen die Haut berühren. Deshalb beten Juden mit entblößtem Arm, oft verdeckt durch den Gebetsschal oder Gebetsmantel (Tallit). Die Arm-Tefillin wird am schwächeren Arm getragen. Das Kästchen wird zwischen Arm und Brustkorb geklemmt. Dabei setzt der Kasten am oberen Ende des Bizeps an, so dass der Kasten dem Herz möglichst nahe ist.

Danach wird das Band der Tefillin zweimal um den Oberarm und siebenmal um den Unterarm gewickelt. Anschließend wird mit den Riemen auf dem Handrücken der Buchstabe „Shin“ gebildet, der für „Shaddai“ (Gott Allmächtiger) steht. Zum Schluss werden noch Mittel- und Ringfinger einige Male umschlungen. Die Kopf-Tefillin liegt mit der Unterseite des Kastens auf der Stirn auf. Die Riemen werden hinter dem Kopf verknotet und fallen über die Schultern nach vorne.

 

Doch warum der ganze Aufwand?

Der Ursprung der Gebetsriemen findet sich in 5. Mose 6,8. Dort heißt es:

„Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein. (…)
Und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen zu Stirnbändern sein zwischen deinen Augen; und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben“ (5Mose 6,6.8-9).

Diese Aufforderung finden wir in ähnlicher Art und Weise vier Mal in der Tora. (2Mose 13,9; 13,16; 5Mose 6,8; 11,18) Für viele Juden stellt das Anlegen der Riemen ein wertvolles Ritual dar, das sie daran erinnern soll, dass Kopf (Denken), Herz (Fühlen, Emotionen, Personenzentrum) und Hand (Tun) eine Einheit bilden sollen. Deshalb werden hierfür symbolisch-sinnbildlich genau diese Stellen am Körper in möglichst engen Kontakt mit dem Gesetz gebracht. Dadurch soll dieses Gebot, das ihnen durch Mose übergeben wurde, erfüllt werden. Wir heutzutage können uns natürlich fragen: hatte Gott mit den Anweisungen in der Tora diese Praxis bezweckt?

Zunächst einmal muss man sich klar machen, dass viele Juden über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neu reflektiert haben, was in der Tora geschrieben steht und was das Geschriebene für die praktische Umsetzung bedeuten kann, auch deshalb, weil manche Rituale in der in der Tora vorgegebenen Form nicht mehr umsetzbar sind, da u.a. aktuell keine zentrale Anbetungs- und Opferstelle mehr existiert usw.

So haben Juden immer wieder nach veränderten Praxismöglichkeiten gesucht, um die gebotenen Tora-Anweisungen umzusetzen. Auch beim Anlegen der Gebetsriemen geht es den meisten nicht einfach nur um die Erfüllung des Gesetzes, sondern das Ritual wird oft individuell mit Zweck und Bedeutung gefüllt.

So kommen wir zu der in der Einleitung vorweggegriffenen Aussage, dass es beim Anlegen von Gebetsriemen um die symbolische Darstellung der Einheit von Denken, Fühlen und Handeln geht. An mancher Stelle schimmert in den Praktiken des Judentums der Charakter eines „Brauchtums“ durch, wie eben auch bei den Gebetsriemen, bei denen diese drei Bereiche „verbunden“ werden. An anderer Stelle wird auch davon gesprochen, dass es darum geht, bewusster und ruhiger durch den Tag zu kommen. Auf jeden Fall wollen Rituale auch aus dem Alltagsstress herausholen. Dadurch kommt man zur Ruhe und besinnt sich auf das, was für den frommen Juden wirklich zählt: Gott nahe zu sein.

 

Erfüllt man durch die Gebetsriemen das Gebot Gottes? – ein kleiner biblischer Exkurs

Mit 13 Jahren dürfen jüdische Jungen die Tefillin bei ihrer Bar-Mizwa das erste Mal tragen.

Im Alten Testament, insbesondere in der Tora, finden wir an vielen Stellen Hinweise darauf, worum es Gott im Kern in seiner Beziehung zum Menschen eigentlich geht: ER will das Herz des Menschen für sich gewinnen, das Personenzentrum schlechthin.

„Denn der HERR sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht; denn der Mensch sieht auf das Äußere, aber der HERR sieht auf das Herz“ (1Sam. 16,7).

 „Und er tat was recht war in den Augen des HERRN, jedoch nicht mit ungeteiltem Herzen“ (2Chr. 25,2).

Es ist erstaunlich, was Gott hier für den König Amazja aufzeigt: Der Fromme kann das äußerlich Richtige tun, und dabei dennoch das für Gott Wesentliche verpassen. Auch die Propheten geben immer wieder ähnlich lautende Statements ab, so auch der Prophet Hosea:

„Denn ich habe Lust an der Liebe, und nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, und nicht am Brandopfer“ (Hos. 6,6)

Bei der Wiederholung des Gesetzes durch Mose im 5.Mose-Buch leitet er durch folgenden Satz in Kapitel 10,12 ein:

„Und nun, Israel, was fordert der HERR, dein Gott, von dir, als nur, den HERR, deinen Gott, zu fürchten, auf allen seinen Wegen zu wandeln und ihn zu lieben, und dem HERRN, deinem Gott, zu dienen mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele“ (vgl. auch Micha 6,8).

Gott wünscht sich also von seinen Anbetern eine aufrichtige, authentische Haltung, die ganz auf IHN ausgerichtet ist. Ihm geht es um unser Herz!

Um zu unserer Einstiegs-Frage zurückzukommen: Tragen Gebetsriemen dazu bei, dass des Beters Herz bei Gott ist? Zunächst einmal muss man wohl sagen: Nicht zwingend, aber diese symbolisch-ritualisierte Gebetsform kann ein Mittel sein, sich ernsthaft mit Gott zu beschäftigen, nicht nur oberflächlich. Letztendlich zählt das Ergebnis: Was das Gebetsritual mit dem Tefillin mit dem Herzen des Beters macht. Darauf kommt alles an.

Dass allerdings Menschen mit den Gebetsriemen schon vor 2000 Jahren ihr Ziel verfehlt haben, verdeutlicht, was Jesus über sie sagte:

„Alle ihre Werke aber tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen, denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß“ (Mt. 23,5).

Deshalb möchte ich uns und allen Leserinnen und Lesern noch abschließend die Frage stellen: Für wen tue „ich“ das, was ich tue? Will „ich“ in meiner Frömmigkeitsübung von den Menschen gesehen und bewundert werden? Oder geht es „mir“ doch ernsthaft um meine Herzenshaltung vor Gott?

 

Spricht für uns Christen etwas gegen solche „Rituale“?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich die Bibel für sich selbst sprechen lassen:

„Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich; alles ist erlaubt, aber nicht alles erbaut“ (1Kor. 10,23). Es kommt demnach bei allen Frömmigkeitsritualen – unter Juden wie unter Christen – darauf an, warum „ich“ sie ausübe, und ob sie mein Herz mit Gott verbinden oder ob sie nur äußerliche Form bleiben, ganz im Sinn von Mt. 15,8-9:
„Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren.“

 

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