Die Bedeutung des Tallit und der Zizit
Der Gebetsmantel – Tallit genannt – gehört neben den Gebetsriemen (Tefillin) zur täglichen Routine, die ein streng-gläubiger jüdischer Mann als Ausdruck seiner Frömmigkeit nutzt. Er wird zum Morgen-, Mittags- und Abendgebet über den Schultern getragen.
Es gibt zwei verschiedene Arten des Tallit: Den Tallit gadol – der große Gebetsmantel – und den Tallit katan – der kleine Gebetsmantel. Der Tallit gadol ist der Mantel, den wir vor Augen haben, wenn wir an einen betenden Juden denken. Er wird über aller Kleidung beim Gebet z.B. an der Klagemauer getragen. Da aber dieser Mantel selbstverständlich bei den täglichen Arbeiten stören würde, gibt es zusätzlich den Tallit katan. Er wird unter der Alltagskleidung von orthodoxen Juden ab dem Alter von drei Jahren getragen und ist im Grunde ein Tuch mit einem Loch in der Mitte an dessen Ecken sich Zizit (= Quasten) befinden. Von außen zu sehen ist er nur durch diese Quasten, die von den vier Ecken des Kleidungsstücks über die anderen Kleidungsstücke hinaushängen. Die Quasten müssen von außen zu sehen sein, sonst ist das mit den Zizit in Verbindung stehende Gebot nicht erfüllt.
Geschichte
Der Ursprung des Gebetsmantels liegt in der Tora: In 4. Mose 15, 37-40:
„37 Und der HERR sprach zu Mose: 38 Rede zu den Söhnen Israel und sage zu ihnen, daß sie sich eine Quaste an den Zipfeln ihrer Oberkleider machen sollen für <alle> ihre <künftigen> Generationen und daß sie an die Quaste des Zipfels eine Schnur aus violettem Purpur setzen sollen. 39 Und das soll euch zur <Merk>quaste werden, und ihr sollt sie ansehen und dabei an alle Gebote des HERRN denken und sie tun, und ihr sollt nicht eurem Herzen und euren Augen nachfolgen, deren Gelüsten ihr nachhurt, 40 damit ihr an alle meine Gebote denkt und sie tut und heilig seid eurem Gott.“
Interessant ist hierbei, dass die Stelle nicht direkt das Tragen eines Gebetsmantels vorschreibt, sondern lediglich das Anbringen von Quasten (Zizit) an das äußerste Kleidungsstück.
Dieses Gebot der Zizit wurde im Laufe verschiedener traditioneller Anpassungen auf den Gebetsmantel übertragen.
Die Zizit
Wie bei den meisten Ritualen im Judentum, hat auch die Machart der Zizit eine besondere Bedeutung. So addieren sich die Buchstaben des Wortes Zizit (ציצית) auf die Summe 600, wenn man die jüdische Denkweise von bestimmten Buchstabenwerten anwendet. Nimmt man nun die Anzahl der Doppelknoten (5) und der am Ende herausragenden Fäden (8), erhält man die Summe der jüdischen Gebote der Tora in klassischer Zählweise. Diese 613 Gebote gliedern sich in 248 Gebote und 365 Verbote auf. Frauen tragen im orthodoxen Judentum keinen Tallit. Es gibt allerdings Strömungen des liberalen Judentums, in denen auch Frauen den Tallit tragen.
In dem oben genannten Vers aus 4. Mose ist von violetter Farbe die Rede. Heutzutage sind die Zizit jedoch weiß. Die violette Farbe wurde traditionell vom Chilason-Schellfisch gewonnen. Durch die Vertreibung der Juden im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung aus ihrem Land, konnte der Farbstoff nicht mehr gewonnen werden. Auch wenn die Gebetsmäntel zur Zeit Bar-Kochbas (um 132 n. Chr.) noch den blauen Faden enthielten, ging das Rezept für die Herstellung des Farbstoffes in der Nachfolgezeit verloren, und in heutiger Zeit wurde der Chilason-Schellfisch nicht mehr gesichtet, weshalb er als ausgestorben gilt.
Auch der Tallit gadol wird von einem Juden das erste Mal an seiner Bar-Mitzwa getragen. Ein orthodoxer Jude wird sogar nach seinem Tod in seinem Gebetsmantel begraben. Allerdings werden die Zizit dazu entfernt, als Zeichen dafür, dass ein Toter keine Gebote mehr zu befolgen hat.
Eine Metapher, die auch heute zum Nachdenken anregen kann
Für mich persönlich spiegelt die unterschiedliche Anwendung des Tallit, gerade auch im Beerdigungsritus, ein schönes Bild, eine Art Metapher, die zum Nachdenken anregt: Wenn wir mit dem Messias gestorben sind (Röm. 6,3-4), sind wir frei vom Gesetz. Er hat es für uns erfüllt und uns so gerechtfertigt (vgl. Röm. 7,1-6; Röm. 10,4 u.ö.). Aber wir sind im Glauben nicht nur gerechtfertigt in Christus, versöhnt, erlöst und zum neuen Leben gerufen, sondern vor allem aus der Macht des Gesetzes befreit, die „geistlichen Zizit-Quasten“ sind abgeschnitten, weil der „Tote“ nicht mehr unter dem mosaischen Gesetz lebt, aber in der Liebe in Christus die Gebote aktiv lebt (Röm. 13,8-10) und im „Gebetsmantel“ umschlossen ist (vgl. Eph. 6,18). Das erinnert auch an die Worte des Apostels Paulus:
„Denn ich bin durchs Gesetz <dem> Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, 20 und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben <, und zwar im Glauben> an den Sohn Gottesb, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ (Galater 2, 19-20)