Sacred Heart of Jesus Christ

Jesus und seine jüdische Welt verstehen – der Schlüssel zum Verständnis der Evangelien

Die Worte Jesu, niedergeschrieben in den vier Evangelien und ersten Büchern des Neuen Testaments, haben für viele Theologen und Christen unter den biblischen Schriften einen besonders hohen Stellenwert. Schließlich ist die historische Person Jesus von Nazareth selbst, Dreh- und Angelpunkt, Zentrum und unumgehbarer Kern des Christlichen Glaubens.

Wie jedes andere historische Manuskript wollen auch die Bibel, die Evangelien, die Worte Jesu vom Exegeten bzw. Leser richtig verstanden werden. In der Wissenschaft steht uns dafür ein exegetischer Werkzeugkoffer zur Verfügung, mit dessen Hilfe der ursprüngliche Sinn und die Bedeutung von Texten durch vielfältige und tiefgreifende Analysen auf den Grund gegangen werden kann. Dennoch stellen einige Passagen der Heiligen Schrift selbst Profis in der Schriftauslegung vor Rätsel, denn die jüdische Welt, in welcher auch Jesus aufwuchs, lebte, lernte und sich schließlich auch ausdrückte, sind tief durch die uns weitestgehend fremde und andersartige, damalige jüdische und hellenistisch-römische Kultur geprägt.

Etablierte Annahmen infrage gestellt

Guido Baltes, bekannter Theologe, Autor und Liedermacher nahm mich und etwa 40 andere Seminarteilnehmer am ersten Februarwochenende 2024 im Christlichen Bildungszentrum Erzgebirge für zwei Tage mit in diese spannende Thematik. Anhand einiger Textbespiele in den Evangelien zeigte er uns auf, wie so manch gängige Meinung oder etablierte Auslegung zu einem Text auf wahrscheinlichen Irrtümern beruhen bzw. zumindest für ihre Auslegung andere Optionen infrage kommen müssen. Das passiert am häufigsten deshalb, weil unsere eigene Kultur, die sich vom antiken Judentum dramatisch unterscheidet, unseren Blick für einen Text trüben kann.

Guido Baltes geht mit uns auf Spurensuche bezüglich etablierter Annahmen über Perikopen in den Evangelien.

In einem der ersten Beispiele, in die Guido uns interaktiv mithineinnahm und auf Spurensuche schickte, war eine Aussage der Pharisäer in Matthäus 9: Nach der Berufung des Zöllners Matthäus, saß Jesus mit seinen Jüngern bei Matthäus zu Hause und aß mit anderen „Zöllnern und Sündern“. Die Reaktion und die an die Jünger Jesu gerichtete Frage der Pharisäer „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern“ werden in gängigen Bibelkommentaren so interpretiert, dass wohl niemand, der in der damaligen Zeit etwas von sich hielt, privat mit Zöllnern Umgang gepflegt hätte. Das Bild der „verhassten“ Zöllner, da sie das Volk meist ausbeuteten und in Kooperation mit dem römischen Imperium standen, ist für uns ein gängiges und in der neutestamentlichen Theologie weit verbreitetes „Vor-Urteil“.

Fakt ist jedoch, dass keiner der frühen und späteren Kirchenväter, Apologeten und Historiker in ihrer Masse an verfassten Texten und Kommentaren bezüglich der Bibel und ihrer Umwelt, Zöllner in ihrer Berufsgruppe grundsätzlich als im Volk verhasst oder als grundsätzlich abgelehnt darstellen. Erst durch Luther und Calvin geriet die allgemeine Annahme der „verhassten Zöllner“ in unsere Bibelinterpretation hinein und damit letztlich auch auf unsere Kanzeln. Die Aussage über die Pharisäer, in welche wir die Empörung über den Umgang Jesu mit den Zöllnern interpretieren, kann ebenso gut so ausgelegt werden, dass es reine Eifersucht war, die die Schriftgelehrten mit ihrer Frage ausdrückten gemäß der Frage: „Warum isst Jesus mit ihnen, aber nicht mit uns?“. Als hochgepriesener Heiler und für einige vermeindlicher Messias, begegnet Jesus vielen Menschen in sehr persönlicher und intimer Weise. Den Schriftgelehrten begegnete er hingegen, wir lesen es oft, mit scharfer Kritik, diskutierte mit ihnen, legte aber seinen Fokus nicht auf die Gemeinschaft mit ihnen, den anderen Angesehenen. Jesus aß nicht mit der Elite. Dass es damals Einzelfälle von unbeliebten Zöllnern gab, wie vielleicht auch in jeder anderen Berufsgruppe, unter denen Betrug vorkam, ist wahrscheinlich so gewesen; die Annahme jedoch, dass die meisten oder sogar alle Zöllner grundsätzlich geächtet gewesen wären, entbehrt jeder historisch rekonstruierbaren Grundlage. Das abwertende Vorurteil entstand tatsächlich erst durch die Theologie der mittelalterlichen Reformatoren.

Unbelegte Interprationen ablegen

Ein weiteres Beispiel für die Thematik erarbeitet Guido mit uns anhand der Stelle in Matthäus 8: Die Perikope von der Heilung eines aussätzigen Mannes durch Jesus ist ein beliebter und wohl tausendfach gepredigter Bibeltext. Das griechische Wort für einen Aussätzigen ist im Neuen Testament durchgängig mit λεπρὸς ausgedrückt. Anders als vermuten lässt, hat die hier beschriebene Krankheit jedoch nichts mit der uns bekannten medizinischen Kondition „Lepra“ zu tun. Durch alttestamentliche Anweisungen für den Umgang mit Aussätzigen, wissen wir, dass Aussätzige außerhalb des Lagers leben mussten. Die „Unreinheit“, die mit dieser Krankheit einherging, interpretieren wir heutzutage allerdings oft mit einer klinischen Unreinheit bzw. Ansteckungsgefahr. Der Punkt der häufig in der Auslegung des Textes in Matthäus 8 gemacht wird, ist dieser, dass sich Jesus als Messias nicht vor der Ansteckung des Aussatzes fürchtet, sondern dem Mann entgegentritt und ihn berührt, wodurch dieser Heilung erfährt.

Screenshot aus Serie „The Chosen“ zeigt die Szene aus Matthäus 8: Jesus heilt einen Aussätzigen.

Unsere Sicht auf den Text ändert sich durch die Tatsache, dass Aussätzige in der Zeit des Volkes Israel und auch der späteren antiken Zeit höchstwahrscheinlich gar nicht ansteckend waren. Die zugesprochene Unreinheit war im Lager der Israeliten in der Wüste, in welchem das Heiligtum das Zentrum und Mitte des Lagers bildete, vor allem eine kultische Unreinheit. So galten die Israeliten auch nach dem Geschlechtsverkehr oder Frauen während ihrer Periode für „kultisch unrein“, das heißt, sie durften dem Heiligtum Gottes erst nach Ablauf einer gewissen Zeit und unter bestimmten Bedingungen wieder nahekommen. Die Unreinheit bezog sich also auf das Aufsuchen des Heiligtums, im Neuen Testament dann der zweite Tempel in Jerusalem, und nicht in jedem Fall auf den physisch einzuhaltenden Abstand zu Menschen aufgrund von Ansteckungsgefahr.

 Wie Guido uns aufzeigte, war es wahrscheinlich sehr normal, dass Aussätzige zwar außerhalb des Wüstenlagers mit ihren Familien gemeinsam lebten, da dort der einzige Ort war, der die Nähe zum Heiligtum im Zentrum des Lagers ausschloss. Zur Zeit Jesus war es relativ normal, mit allen anderen im Volk zu wohnen und zu leben. Durch diese Einsichten in die damalige jüdische Kultur zeigt sich, dass Interpretationen zur Bibelstelle der Heilung eines Aussätzigen durch Jesus, bei der auf Jesu Barmherzigkeit und Mut, sich dem Aussätzigen zu nähern und ihn zu berühren, keinen handfesten Bestand haben. Natürlich sollen dem Bibeltext nun nicht auch weiterhin die Möglichkeiten, den Charakter Jesu darzustellen, abgesprochen werden. Aber gemäß der Erzählung wäre die beste Auslegung der Textstelle einfach die, dass Jesus einen Menschen heilt, der ihn schlicht darum bittet (aus deshalb, weil er kultisch unrein war). „Jesus heilt, wir staunen!“ so Guido, mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Die Bräuche der jüdischen Kultur waren damals noch viel mehr als heute vielschichtig und vielfältig. Viele weitere noch spannendere Beispiele, welche uns zeigten, wir enorm wichtig das Verständnis der Kultur, wie sie wirklich war, machten mich auf einer neuen Ebene hellhörig und neugierig, obwohl ich schon relativ viel über die jüdische Umwelt zur Zeit Jesu zu wissen geglaubt habe. Guido nahm uns mit zu Aussagen in antike rabbinische Schriften, die nicht selten von Jesus erzählten, Gleichnissen darin verblüffende Parallelen aufwiesen und mir für die Art und Weise wie Jesus Dinge erklärte, die Augen öffneten.

Jesus sprach die Sprache seines Volkes

Jesus war als Mensch ein Jude, und er sprach innerhalb der jüdischen Kultur mit anderen Juden – den Gebildeten und den weniger Gebildeten. Er sprach die Sprache der Lehrer seines Volkes, anerkannter Rabbiner mit deren Schriften wahrscheinlich jeder Junge und jedes Mädchen des antiken Israels aufwuchsen. Bildung hatte im Judentum einen hohen Stellenwert und auch die Annahme, dass die breite Masse der Israeliten womöglich Analphabeten waren, muss man infrage stellen. Gemäß außerbiblischer rabbinischer Quellen lässt sich eher annehmen, dass eine Grundbildung über die Tora wie auch die Propheten, wahrscheinlich auch in Wort und Schrift, auch im „Fußvolk“, sogar für die Frauen zu einem gewissen Grad gängig und verbreitet war.

„Aber machen uns diese ganzen Erkenntnisse, dass wir viel zu wenig über die jüdische Kultur wissen und so viel Potenzial für Missverständnisse gegeben ist, nicht unfähig die Bibel überhaupt zu verstehen?“ fragte sinngemäß ein Teilnehmer des Seminars am Ende des letzten Seminartages ein wenig entmutigt. „Nein.“, war Guidos klare Antwort darauf. Er ermutigte uns stattdessen, die jüdische Kultur zu studieren und verstehen zu lernen. Das sei spannend und wichtig. Dennoch hielt er uns zugleich dazu an, die Bibel einfach so zu lesen wie sie ist und vorweggenommene Interpretationen bewusst abzulegen oder erneut auch in fragezustellen: „Was steht im Text, so wie er dort steht?“ Letztlich spricht Gottes Wort sowieso zu jedem in seiner Kraft.

Die ganze, hier nur skizzierte Thematik ist tief und wie es in der Wissenschaft so ist, gibt es auch zu den angesprochenen Beispielen verschiedene Meinungen unter Neutestamentlern. Die Anstöße von Guido Baltes wie auch dieser Artikel, sollen dazu ermutigen, sich selbst mit verschiedenen Möglichkeiten der Textinterpretation auseinanderzusetzen, und es zu wagen unter Einbezug neuer Erkenntnisse über die jüdische Umwelt, für etabliert gehaltene Meinungen noch einmal kritisch zu hinterfragen und bekannten Texten Luft und Raum für alternative vielleicht zu wenig bedachte Auslegungsmöglichkeiten zu geben.

Um seinen Blick zu weiten ist die Literatur von Guido Baltes zur Thematik jedem Interessierten zu empfehlen, wie z.B. die Bücher „Jesus, der Jude … und die Missverständnisse der Christen“,  oder „Die verborgene Theologie der Evangelien. Die jüdischen Feste als Schlüssel zur Botschaft Jesu“ (Francke Verlag).

 

 

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