Israel in echt und in Farbe – überraschend anders
Seit drei Jahren gehöre ich als studentische Mitarbeiterin zum Team des Instituts für Israelogie. In dieser Zeit habe ich zahlreiche Artikel und Kurzmeldungen verfasst, Inputs vorbereitet, eine Themenwoche mitorganisiert. Schwerpunkte meiner Arbeit sind Antisemitismus, die theologische Verbindung von Judentum und Christentum – und: Israel. Ich interessiere mich dabei für Historie, Archäologie und Zeitgeschichte, Politik. Themen, die man auch aus der Distanz kompetent bearbeiten kann. Was mir bisher fehlte, war der persönliche Kontakt zu Land und Leuten. So hatte ich den „Spirit“ Israels noch nicht selbst erlebt. Oder wenn es um die Beschreibung bekannter Stätten ging, konnte ich mich nur auf fremde Augenzeugenberichte und Fotografien berufen.
Das sollte sich im Sommer 2019 ändern. Dank des jährlich ausgeschriebenen Stipendiums des Instituts durfte ich sechs Wochen an der Ben-Gurion-Universität in Beersheva, Israel, verbringen. Menschen aus der ganzen Welt kommen für einen Sommer des kulturellen Austauschs in der Wüstenstadt zusammen. Den Rahmen unseres Aufenthaltes bildete der Besuch des „Ulpans“, einem Sprachkurs, in dem Neuhebräisch erlernt wird. Weiterhin wurden Exkursionen unternommen, Vorträge und Ausstellungen besucht, es wurde gemeinsam gefeiert und miteinander gelebt.
Teilweise besteht im Christentum neben Offenheit eine emotionale Faszination für Israel. Dann wird jeder Stein im „Heiligen Land“ zu etwas Besonderem erklärt. Schon im Flugzeug saß eine Gruppe älterer Damen, die sich als Pilgerinnen auf den Weg ans Tote Meer gemacht hatten. Ihre geradezu kindliche Vorfreude auf Israel, dem Land der Bibel, hatte durchaus Ansteckungspotential. Religiöse Faszination packt aber nur den, der sich packen lässt. Ich muss zugeben, dass ich meine Reise mit einer Prise spiritueller Nüchternheit angetreten bin, um Land und Menschen erst einmal offen zu begegnen.
Für mich als Theologin ist stets alles interessant, was allgemein unter dem großen Wort „Glauben“ zusammengefasst werden kann. Aus dieser Kategorie musste in Israel doch reichlich Anschauungs- und Inspirationsmaterial zu finden sein. Gleichzeitig beobachte ich gerne religiöses Leben in politischen Strukturen – und umgekehrt Politik in der Kirche. Die wichtigste Frage, die mich schon vor meiner Abreise beschäftigte, lautete daher: „wieviel Judentum“ werde ich im Staat Israel tatsächlich vorfinden?
Als stiller Beobachter müsste ich hierauf ganz klar mit „sehr, sehr viel“ antworten. Bereits am Flughafen erscheint für den mitteleuropäischen Christen alles ‚typisch jüdisch‘. Traditionelle Kleidung, mehr Kinder als Erwachsene, ausschließlich koscheres Essen. Symbole wie die Menora oder der Davidsstern bestimmen das Bild. Der Theologe wird ständig von Namen und Worten getriggert, die er aus dem Althebräischen kennt.
Man weiß außerdem und im besten Fall schon vor Reiseantritt: Beim Einkaufen einfachster Dinge zahlt man mindestens das Doppelte als in Deutschland, denn die meisten Läden zahlen für teure Koscher – Zertifikate. Viele Orte – unter anderem Beersheva – haben eine biblische Geschichte, die dem Touristen nicht vorenthalten wird. Wer am Sabbat einen Ausflug unternehmen möchte, muss gut planen. Zwar ist es bei weitem nicht so, dass das ganze Land in Synagoge oder Wohnzimmer verbringt. Doch öffentliche Verkehrsmittel und Öffnungszeiten von Museen, Restaurants oder Freizeitanlagen schränken den Reisenden stark ein.
Religion ist also in Israel sehr präsent und auf natürliche Weise Teil des israelischen Alltags, den Außenstehende auf den ersten Blick wahrnehmen können.
Wenn es aber nicht einfach darum geht, in kürzester Zeit möglichst günstig möglichst viele Orte zu sehen, sondern man mehrere Wochen am Stück relativ entspannt in den Tag leben kann, entdeckt man Facetten des Landes, die nicht auch Wikipedia und Reiseführer hätten liefern können. Für mich war die Universität der perfekte Ort, um ganz natürlich erste Kontakte mit jungen Israelis zu knüpfen.
Denn auf dem Campus leben internationale und israelische Studenten eng zusammen. Die Atmosphäre ist natürlich. Man trifft sich beim Wäschewaschen, am Swimming-Pool, in der Mensa oder beim Sport. Eine der ersten israelischen Eigenschaften, die dort zutage tritt: Israelis wollen alles wissen. Sie fragen sehr direkt und sehr persönlich. „Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Warum nicht?“ Deutsche Zurückhaltung darf schnell beiseitegelegt werden.
Dafür erhielt ich im Gegenzug Einblicke in das, was wir Deutschen als „privat“ bezeichnen. Familie, Wohnung, Religion – alles darf zum Gesprächsgegenstand gemacht und auf Einladung sogar persönlich kennengelernt werden. Während Familie und häusliches Umfeld sehr individuelle Kategorien bilden und sich bei jedem anders gestalten, wird beim Thema Religion schnell klar: für die meisten junge Menschen sind es in erster Linie Kultur und Respekt, nicht persönlicher Glaube, der dazu anhält, am Sabbat gemeinsam zu essen oder in die Synagoge zu gehen. Viele junge jüdische Israelis geben gleich ungefragt an, sie seien nicht religiös sondern „a secular Jew“. Mehrmals fiel in Gesprächen der Vorwurf, Europäer oder Amerikaner würden in Israel immer noch ein staubiges, unterentwickeltes, rückständiges Land sehen, reduziert auf eine Kultur, die nur Religion in den Mittelpunkt stellt. Stattdessen sei man stolz auf moderne Technologien, Partymetropolen wie Eilat und TelAviv – und der Selbstverständlichkeit, mit der man Stücke arabischer Kultur übernimmt.
Es ist schon etwas dran, dass man gerade als gläubiger Christ am traditionellen Bild von Israel hängt. Und dieses Bild entspricht auch in gewisser Weise immer noch der Realität – nämlich der von Politik und der Einstellung vieler Menschen der „älteren“ Generation. Das spiegelt in den Wahlen nieder, aber auch in der Skepsis gegenüber den Entwicklungen in den größeren Städten, die sich immer mehr öffnen.
Israel steht unter Spannung, soweit nichts Neues. Eine ganz besondere Begegnung, die mir gut im Gedächtnis geblieben ist, war eine Gesprächsrunde mit der ultra-orthodoxen Politikerin Rivka Ravitz. Ravitz ist seit 2014 „chief of staff“ unter Staatspräsident Reuven Rivlin. Ihre Person verkörpert eindrücklich eine Fusion aus dem „traditionellen“ und dem „modernen“ Judentum. Hochschwanger, kurz vor ihrer Niederkunft mit dem elften Kind, war sie bereit, uns Teilnehmern an der Sommer-Universität Rede und Antwort zu stehen. Noch dazu am Sabbat: im orthodoxen Judentum ist es Pflicht der Ehefrau, sämtliche Vorbereitungen für den Feiertag zu treffen – bei einer zehnköpfigen Familie keine leichte Aufgabe. Ravitz hat studiert und promoviert, eine politische Karriere gestartet, verfügt über Macht und Einfluss, ist eine anerkannte Frau. Parallel dazu ist sie pflichtbewusste Mutter, Ehegattin, religiöse Jüdin. Ravitz sieht darin keinen Widerspruch. Ich fragte sie, was ihr wichtiger sei: gesellschaftsrelevante Werte wie Liberalität und Selbstbestimmung an ihre Kinder weiterzuvermitteln, oder sie zu religiösen Menschen zu erziehen. Ravitz antwortete: „Ich kann nur als Mutter antworten: Ich möchte meine Kinder eng bei Gott sehen.“ Es ist eben nicht einfach mit der Religion und der Politik.
Diese sechs Wochen Israel brachten mich nicht nur fachlich, sondern persönlich weiter. Für mich war es besonders wichtig, fremde Erlebnisberichte durch eigene zu ersetzen. Was denke ich, wenn ich am See Genezareth auf blaue Wasser zu schauen? Wie ist es, nach getanem Gebet im Rückwärtsschritt die Klagemauer zu verlassen? Wie fühlt es sich an, als Deutsche unter Juden am Holocaustdenkmal Yad Vashem zu stehen?
Reisen bildet. Für Christen ist jedes Stück jüdischer Kultur ein guter Anknüpfungspunkt, um die eigene Religion und Geschichte besser kennenzulernen und zu verstehen, und daher eine Auseinandersetzung richtig und wichtig. Für die Chance, solche Erfahrungen vor Ort zu sammeln, bin ich sehr dankbar. Auch ohne von einer heißen Liebe zu sprechen, blicke ich auf eine faszinierende Zeit zurück in einem Land, das mich überraschte.
Alena Edler
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