Ein Kurzbesuch in der Gedenkstätte Buchenwald

Das große Autobahnschild „Gedenkstätte Buchenwald“ reißt mich aus meinen Gedanken auf meiner Rückreise von Sachsen nach Hessen. Spontan entschließe ich mich, die kommende Ausfahrt „Nohra“ der Autobahn A4 zu nehmen, und die angekündigte Gedenkstätte zu besichtigen. „So schnell komme ich hier erstmal nicht wieder vorbei“, denke ich mir und plane einen ein- bis zweistündigen Kurzbesuch der Gedenkstätte Buchenwald ein.

Normalerweise müssen sowohl Gruppen als auch Einzelpersonen auf der Webseite einen Besichtigungstermin buchen, will jemand die Ausstellung der Gedenkstätte besuchen, auch Führungen werden vorab online gebucht. Nach einem kurzen Anruf erfahre ich, dass aufgrund des geringen Andrangs an diesem Tag, ich auch ohne gebuchten Termin die Gedenkstätte inklusive der Ausstellung besichtigen darf. Der Eintritt ist kostenfrei und bis zum Einbruch der Dunkelheit ist die Gedenkstätte täglich für Besucher geöffnet.

Nach einigen Minuten Fahrt durchs Grüne führt mich das Navi zu einer Einbiegung, vorbei an einem großen Obelisken, dem ersten Denkmal von vielen, die ich heute noch sehen würde, das den Beginn der sogenannten „Blutstraße“ markiert. Diese schmale Waldstraße wurde 1938 unter Einbindung von Häftlingen auf 8 Meter Breite ausgebaut und als Zufahrtsstraße zum damaligen Konzentrationslager Buchenwald genutzt. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, denn dieser freundliche Sonntagnachmittag lässt kaum die Vorstellung zu, dass diese geschwungene kleine Straße mich zu einem ehemaligen Ort der Grausamkeit führt.

Das eiserne Lagertor, dass zum Appellplatz fürht. Es trägt die Inschrift: „Jedem das Seine“.

Nachdem ich den Parkplatz der Gedenkstätte erreicht habe, mache ich mich direkt auf den Weg, vorbei an den Empfangsgebäuden mit Informationen und an administrativ genutzten Häusern, etwas bergab in Richtung des Eingangs des ehemaligen Lagers. Das ganze Gelände ist grade an wichtigen Besichtigungspunkten mit kleinen Informationssäulen ausgestattet, die ihm Rahmen des 78. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald temporär aufgestellt wurden, und mir mit Bildern und erklärenden Aufschriften über die jeweiligen Orte auf dem Gelände, auch ohne Führung Auskunft und Orientierung geben. An zwei letzten einstöckigen alten Häusern vorbei hindurch, laufe ich auf das nicht zu verfehlende Tor zum ehemaligen Lagerbereich zu. Das breite braun gestrichene Tor-Gebäude, mit einer großen weißen runden Uhr in der Spitze, markiert den offiziellen ehemaligen Eingang des Lagers. Einmal mehr verschwimmen für mich die friedliche – meine – Gegenwart mit der beängstigenden Vergangenheit des Ortes, an dem ich mich befinde. Als ich mich nähere, lese ich die im Eisentor eingelassene Inschrift: „Jedem das Seine“. Erst später erfahre ich, was es mit diesem Spruch auf sich hat.

Es kostet mich etwas Überwindung, das eiserne Tor zu öffnen und einfach so zum Lagerbereich hindurchzulaufen. Dieses grenzmarkierende Tor muss für die Häftlinge des KZs zur damaligen Zeit der Inbegriff von Gefangenschaft gewesen sein bzw. – von Innen betrachtet – seine Öffnung ihre größte Sehnsucht nach Freiheit. Ich hingegen kann es mit einem einzigen Handgriff öffnen und einfach so hindurchgehen.

Vor mir erstreckt sich ein weitläufiges Gelände, das etwas talabwärts, einen weiten Blick über den großen Platz und die umliegende waldreiche Landschaft des Ettersberges, westlich von Weimar, auf dem das KZ errichtet wurde, bietet. Hier, kurz hinter dem Appellplatz, auf dem ich mich nun befinde, standen einst die vielen Baracken, in denen zeitweise mehr als hunderttausend Häftlinge auf einmal untergebracht waren. Ich hatte vorher gelesen, dass das KZ Buchenwald eines der größten Konzentrationslager seiner Zeit gewesen ist, und der mehrere hundert Meter lange und ziemlich breite Platz des ehemaligen Lagers lässt dies erahnen.

Einer der viele Gedenksteine auf dem Platz.

Der Ort ist ruhig, wenige Besucher sind da. Zu meiner Linken, kurz hinter dem Eingang auf dem Appellplatz, liegen mehrere Denkmäler vor mir: Das 1995 eingeweihte, in den Boden eingelassene Denkmal aus Edelstahl gedenkt der mehr als 56.000 Menschen, die das KZ Buchenwald nicht überlebt haben, das jüdische Mahnmal, und zugleich ein Denkmal explizit für die erdmordeten Sinti und Roma des Lagers. Zu meiner Linken, gegenüber der Denkmäler, so sehe ich auf dem Plan, befand sich das ehemalige Krematorium.

Ich beginne den Platz zu erkunden und laufe an den verschiedenen Denkmälern und Gedenktafeln, die den ganzen Platz spicken, entlang. Durch angedeutete Grenzmarkierungen ist erkenntlich, wo die vielen Baracken in Reihe gestanden haben. Am äußersten unteren Rand des Platzes ist eine letzte originale Baracke zur Ansicht errichtet worden und mit etwas Vorstellungskraft lässt sich erahnen, wie der Platz zu seiner aktiven Zeit einmal ausgesehen haben muss. Durch die einzelnen angedeuteten Wege mache ich mich langsam auf den Weg hin zum alten mehrstöckigen Ausstellungsgebäude. Einige weitere Gedenkplatten aus Stein markieren meine Route.

Einige Gesichter von Häftlingen wurden in Form von Büsten aus Gips nachgebildet.

Die Ausstellung „Ausgrenzung und Gewalt 1937 – 1945“ ist äußerst umfangreich und erstreckt sich über zwei volle Etagen. Wohl tausende von originalen Ausstellungsstücken aus der SS-Zeit, Kleidungsstücke, Zeitungen, behördliche Dokumente, Erlasse, Briefe, Fahnen, Gesichtsmasken und erstellte Büsten von Häftlingsgesichtern uvm. sind hier gut erhalten hinter Vitrinen zu begutachten wie auch viele gut erhaltene Werkzeuge, Maschinen und tägliche Gebrauchsgegenstände des KZ. Es würde Stunden brauchen, um alles zu erfassen, und die Fülle an Informationen und Eindrücken eröffnen mir diese fremde, harte und unbarmherzig brutale Welt des dritten Reiches, die mit dem Deutschland, das ich aus meinen drei Jahrzehnten Lebenszeit kenne, schlichtweg nichts zu tun hat. Auf einer weißen Tafel zu Beginn der Ausstellung sind einige kaum zu greifenden Hard-Facts über das KZ Buchenwald auf einen Blick aufgelistet: 400.000 qm Häftlingslager, 3.500 Meter elektrischer Stacheldrahtzaun, 139 Außenlager, 277.800 Häftlinge, 30.000 Minderjährige, 28.230 Frauen, Gefangene aus über 50 Ländern, 56.000 Tote, 1944 Todestransporte nach Auschwitz, Zahl der Häftlinge Februar 1938: 2.728, Zahl der Häftlinge Februar 1945: 112.050, Alter der Häftlinge: 2 bis 86 Jahre.

Auf einer Texttafel der Ausstellung erfahre ich auch die Bedeutung der Tor-Inschrift „Jedem das Seine“ die nur im KZ-Buchenwald als für die Häftlinge vom Appellplatz gut lesbare Inschrift verwendet wurde. Der widersinnige Spruch hatte keinen anderen Sinn als der schlichten Demütigung der Insassen.

Foto von Häftlingen auf dem Appellplatz.

Ich lese den Ausschnitt eines Berichtes von Max Mays über den Appell in Buchenwald:

„Die täglich stattfindenden Zählappelle waren (…) gefürchtet. Denn oft musste man stundenlang nach harter Arbeit in eisiger Kälte und bei stürmischem Wetter stehen. Aber die SS wollte jeden Tag genau ihre Arbeitssklaven zählen, weil natürlich viele sich mit Fluchtgedanken trugen. (…) Der Appellplatz hat viele schreckliche Tragödien gesehen. Wie oft musste das ganze Lager stehen bleiben, wenn ein Häftling geflohen war. (…) Alle Exekutionen wurden bis Ende 1942 auf dem Appellplatz vollzogen.“

In einer Vitrine sind hunderte von erhaltenen Häftlingspersonalkarten ausgestellt. Auf einer kann man nachlesen, wie detailliert Daten und Aussehen jedes Häftlings dokumentiert wurden. In einer anderen Vitrine sind Zeichnungen und Gedichte von Teenagerhäftlingen zu sehen. Ich lese das mit Bleistiftzeichnungen verzierte Gedicht eines inhaftierten Jungen:

Foto der letzten Seite des Gedichtes mit Zeichnung.

„Warst du in Lager Buchenwald, da oben ist es gar so kalt. Du kamst ja rein als Zivilist, in fünf Minuten Häftling bist. Nun kamst du rein in Gleidungsraum, in angst griegst du in Mund den Schaum, die guten Gleider gibst du weg, und an griegst du ein Großen Dreck. Du schöne lange Haare hast, die Glatze aber besser bast. Nun kamst du rein in deinen Block, und setzt dich hin auf einen Flock. Da ruft dich dein Freund von Weiten an, zuerst warst du ein feiner Mann, und jetzt du alter freundlicher Klaus, du aussiehst wie ne Nasse Maus. Ach alter guter Freundchen Klaus, wir kommen doch noch einmal Rauß.“

Viele gut erhaltene Ausstellungsstücke und Bilder geben Einblicke in persönliche Geschichten der Insassen, hier in der Ausstellung bekommen die vorher gelesenen namenlosen Zahlen ein Gesicht und Persönlichkeit.

Nach vielen Eindrücken verlasse ich schließlich die Ausstellung und begebe mich auf den Rückweg zum Parkplatz. Im kurzfristigen Einblick in diese dramatische und gewaltsame Welt habe ich etwas die Zeit vergessen. Einmal mehr versuche ich, zu begreifen wie auf deutschem Boden, von Bürgern Deutschlands jemals zu solch einer blinden Misshandlung und dem Mord an Millionen von Menschen aufgrund ihrer Abstammung kommen konnte. Welche Moral, welche Verblendung schaffen ein solch „krankes“ Verurteilen und Denken: Auf der einen Seite ein Land zu errichten und zum Aufblühen zu bringen und auf der anderen Seite diese Orte des Mordes und des Verbrechens zu betreiben und zu rechtfertigen. In Buchenwald haben vorwiegend Staatsfeinde, Homosexuelle, Sinti und Roma, wie auch viele weitere Ausländer ihr Leben gelassen. Der Anteil der Juden war bedeutend geringer als in vielen anderen KZs. Dafür stand Buchenwald für besonders harte Bedingungen in der Zwangsarbeit und obwohl es kein Vernichtungslager war, wie z.B. Auschwitz, ließen in den 8 aktiven Jahren des Lagers 56.000 Menschen ihr Leben an diesem Ort der Entmenschlichung.

Foto der eng gebauten Lagerbaracken.

Am Ausgang lese ich an einer Infosäule erneut die befreiende Information: Am 6. April 1945, nachdem die amerikanische Armee die Kontrolle im Land gewonnen hatte, geht der Befehl des Lagerkommandanten aus, das KZ Buchenwald zu räumen. Zu diesem Zeitpunkt waren 47.000 Häftlinge inhaftiert. Darunter steht  die Äußerung eines Häftlings, der Buchenwald überlebte, über seine Erinnerungen an den Tag der Befreiung:

„Um 16 Uhr schauen wir zum letzten Mal zu der Uhr über dem Tor, sie seit einem Jahr den Takt unseres Lebens vorgibt. Um 16 Uhr setzt sich der Block in Zweierreihen in Bewegung. Ein Lagerschutz notiert die Nummern der Abziehenden, und wir gehen durch das Tor ins Ungewisse: „Jedem das Seine“, Block für Block und flankiert von einer schwachen SS-Wache, ziehen wir den Berg hinunter nach Weimar. Ein letztes Mal laufen wir die Zufahrtsstraße zum Lager entlang. Wir sehen zerbombte Baracken, den Sockel des Reichsadlers, die Fabrik und die Garagen in Trümmern. Ihr Orte des Schreckens, wir verlassen euch mit Bedauern, denn unserer Zukunft ist noch ungewisser als unsere bittere Vergangenheit.“

Vieles gibt es in der Gedenkstätte Buchenwald zu besichtigen, und noch viel weiteres zu lernen, als ich es in meinem Kurzbesuch erfassen konnte und ein Besuch dort lohnt sich. Mein Aufenthalt ließ mich nur einen Bruchteil des schwer nachzuvollziehenden dunklen Teils der deutschen Geschichte einsehen, die nicht in Vergessenheit geraten darf. Sie ist auch ein Teil der Geschichte der Juden, des Volkes Israels, dessen Volkswerdung 1948 auch eine Folge der hier geschehenen Grausamkeit war, wie mir hoffnungsvoll klar wird. Israel, ein Volk, das viel Schreckliches erdulden und erleiden musste, aber mit dem Gott noch nicht fertig ist.

 

 

 

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