Israel und seine Nachbarn – Der Prophet Amos

Der aufmerksame Leser mag sich fragen: „Was hat ein Prophetenbuch in dieser Reihe ‚Israel und seine Nachbarn‘ verloren?“ Nun, wer mit dem Inhalt des Buches Amos einigermaßen vertraut ist, der wird sich an das erste Kapitel erinnern, da die dort niedergeschriebenen Gerichtsworte Gottes gegen Israels Nachbarn gerichtet sind. Schauen wir uns das einmal in einem schnellen Überblick an.

Die Geschehnisse im Buch Amos sind laut eigener Aussage weit nach der Reichsteilung Israels zu verorten. Als Eckpunkte nennt der Prophet den Südreich-König Usija (784-756 v. Chr) und den Nordreich-König Jerobeam II. (787-746 v. Chr.). Das von Amos erwähnte Erdbeben, das ebenfalls als zeitlicher Orientierungspunkt dienen soll, kann heute nicht mehr eindeutig datiert werden. Ob Amos den Propheten Jona kannte, erlebte oder diesem begegnete, lässt sich nicht klären, doch traten beide als Propheten in der gleichen Epoche desselben Königreichs (2Kön 14,25ff) auf und sprachen z.T. Gerichtsworte gegen Israels Feinde. So werden die Ereignisse des Amosbuches wohl zwischen 750 und 760 v. Chr. stattgefunden haben.

Zu dieser Zeit herrschte ein wirtschaftlicher Aufschwung im Nordreich Israel. Jerobeam II. war es vergönnt gewesen, sich den anbahnenden Untergang des nördlichen Nachbarn Aram mit seiner einstigen Hauptstadt Damaskus zu Nutze machen zu dürfen. Sowohl seinem Urgroßvater Jehu (2Kön 10,32f), als auch seinem Großvater Joasch (2Kön 13,3ff) gegenüber hatten die Aramäer immer wieder noch als Gerichtswerkzeug Gottes gedient. Erst unter seinem Vater Joasch waren diese zurückgedrängt worden, nachdem ihn der sterbende Prophet Elisa auf seinem Sterbebett hatte prophetisch-symbolische Pfeile und Schläge gegen Aram verteilen lassen (2Kön 13,14ff). Seinem Sohn Jerobeam II. ließ Gott schließlich durch den Nordreich-Propheten Jona die Wiederherstellung der alten Grenzen Israels prophezeien, sodass dieser große Landgewinne fast bis zu den ehemaligen Landesgrenzen Salomos, auch auf Kosten Judas, hatte verzeichnen können (2Kön 14,25ff).

Im ersten Vers lässt uns Amos überdies wissen, dass er ein Schäfer aus der Stadt Tekoa war. Die Ortschaft liegt etwa 8 km südlich von Jerusalem. Damit wurde er als Hirte aus dem Südreich Juda zum Propheten für das Nordreich Israel bestellt. Denn er sprach vor allem in und gegen Samaria (Am 3,9ff) als dessen Regierungssitz und Bethel (Am 4,4ff; 7,10ff) als dessen Kultzentrum.

Doch hatte er nicht nur eine Botschaft gegen das Nordreich Israel. In den ersten Versen seines Buches verkündigt er nämlich acht Gerichtsworte Gottes die in einer einzigartigen Weise angeordnet sind. Sechs von diesen richten sich gegen Fremdvölker in der Nachbarschaft. 

Amos 1,3-2,6 — Gerichtsworte gegen Israels Nachbarn

Amos 1,3-5 — Gegen Aram

Amos 1,6-8 — Gegen die Philister

Amos 1,9-10 — Gegen Tyrus

Amos 1,11-12 — Gegen Edom

Amos 1,13-15 — Gegen Ammon

Amos 2,1-3 — Gegen Moab

Amos 2,4-6 — Gegen Juda

Amos 2,7-16 — Gegen Israels selbst

Doch was hat es mit der Reihenfolge dieser Gerichtsworte im Buch Amos auf sich?

Man könnte z.B. nach geografischen Anhaltspunkte suchen und ein Fadenkreuz oder eine Spiralform mit dem Nordreich Israel im Zentrum ausmachen. Doch scheinen einzelne Völker immer wieder aus diesem Schema auszubrechen. 

Eine andere Möglichkeit wäre eine Auflistung nach dem Verhältnis der Nachbarvölker zum Volk Israel. So traten Aram im Nord-Osten und die Philister im Süd-Westen immer wieder als Erzfeinde Israels auf. Tyrus hingegen war zwar ein Volk ohne Blutsbande zu Israel, pflegte aber immer wieder Bündnis-Beziehungen zu Israel (2Sam 5,11). Edom als Volk der Nachkommen Esaus (1Mose 36,1), sowie Moab und Ammon als Nachkommen der Söhne Lots (1Mose 19,38f) verbanden gewisse Verwandtschaftsverhältnisse mit dem Volk Israel. Mit Juda schließlich betritt die Aufzählung den Boden des erwählten Volkes selbst, bevor anschließend die ausgiebige Rüge des Nordreichs Israel beginnt. 

Dementsprechend würde diese „literarische“ Komposition gewissermassen dem Prinzip des Urteilspruchs Gottes direkt nach dem Sündenfall folgen, der in seiner Verurteilung Adams ebenfalls von außen nach innen vorgeht, indem er zuerst die Schlange, dann Eva und erst ganz zum Schluss Adam selbst zur Rechenschaft zieht. 

Was auch immer jedoch die Gründe für die Anordnung der Nachbarn Israels im Buch des Propheten Amos gewesen sein mögen, es werden hier auf einen Schlag alle bedeutsamen Völker der Umgebung zur Zeit der Königebücher aufgelistet. Wir erhalten somit einen guten Überblick über Israels Kontrahenten bis vor der Wegführung des Nordreichs durch Assur.

Zusätzlich gibt es einige Informationen darüber, wie die einzelnen Völker zu Israel standen und was Gott ihnen zur Last legt. Und so sehen wir:  Nicht nur das Nord- und das Südreich Israels befinden sich im Blick Gottes, sondern auch die nicht erwählten Nachbarvölker Israels. Denn es ist Gott keineswegs gleichgültig, wie sich die Völker dieser Welt verhalten. Insbesondere nicht, gegenüber Seinem Augapfel (Sach 2,12). Denn so wie wir als Christen darauf vertrauen, dass Gott zu Seinen Verheißungen steht, so gilt auch nach wie vor für Sein Volk Israel, was Gott einst Abraham mit den Worten „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1Mose 12,3) versprach und was Jesus erneuerte, wenn Er sagte: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).

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