4. Jüdisch-Messianische Israelkonferenz in Berlin

Sich über das aktive messianisch-jüdische Leben in Deutschland zu informieren, das ist etwas, das sich sehr lohnt. Deshalb fahren auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Israel-Instituts in Gießen immer wieder zu messianisch-jüdischen Konferenzen und Veranstaltungen, einfach deshalb, um am Puls dieser Bewegung zu bleiben. Von einer dieser Konferenzen, die Ende des letzten Jahres in Berlin stattfand, soll hier berichtet werden:

Mahnmal, Berlin

Vom 09.-11.11.17 fand in Berlin zum vierten Mal die Jüdisch-Messianische Israelkonferenz statt. Das zum Jahrestag der „Reichspogromnacht“ sehr passende Thema war „Unterwegs zur Versöhnung“. Ausgerechnet die Nacht, in der die Diskriminierung der Juden unter dem National-Sozialistischen Regime zu systematischer Verfolgung umschwenkte und damit als ein Sinnbild des Leidens der Juden unter einer antisemitischen Gesellschaft agiert, sollte 79 Jahre später den Anlass zu einer Konferenz bieten, die sich mit den noch heute vorliegenden Konsequenzen dieser Zeit beschäftigte.

In einer einführenden Ansprache von Wladimir Pikman, Leiter des jüdisch-messianischen Evangeliumsdienstes „Beit-Sar-Shalom“, wurde das Problemfeld des Konferenzthemas aufgezeigt. Nachdem er mit dem bereits erwähnten historischen Ereignis am 9.11. seine Rede eingeleitet hatte, kam er zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Versöhnung und Vergebung. Während Versöhnung den emotionalen Bereich betreffe, befasse sich Vergebung mit dem moralischen Aspekt. Jeder Versöhnung müsse eine Vergebung vorausgehen. Andersherum ausgedrückt sei eine emotionale Versöhnung ohne den moralischen Unterbau der Vergebung unmöglich.

Pikman differenzierte im Folgenden zwischen drei verschiedenen Ebenen der Vergebung.

Um auf der ersten Ebene Vergebung und anschließende Versöhnung zu erlangen, müsse der Schuldige den ersten Schritt tun. Der Täter könne Buße tun und seine Schuld durch eine Ersatzleistung begleichen. Beim Opfer liege es nun daran, diese Buße des Täters zu akzeptieren.

Als zweite Ebene der Vergebung benannte der Redner das „Slicha“ (סליחה). Das „Slicha“ werde gebraucht, wenn der Täter seine Tat nicht einfach so durch Ersatzleistungen begleichen könne. Dieser Vergebungsprozess gehe nicht vom Täter, sondern vom Opfer aus. Das Opfer solle den Täter akzeptieren. Im zwischenmenschlichen Bereich bedeute dies, dass das Opfer anerkenne, dass jeder einmal Fehler mache und keiner fehlerlos sei. Es werde also nicht am Idealbild festgehalten, sondern die „sündige Natur“ werde akzeptiert.

Abschließend sei die dritte und höchste Ebene der Vergebung, das „Kaparah“ (כפרה). Gemeint ist, dass die Sünden zugedeckt und keine Auswirkung mehr haben. Auf zwischenmenschlicher Ebene sei dies allerdings undenkbar. Jeder begangene Fehler habe Auswirkungen auf einen selbst oder seine Umwelt (Folgen und Konsequenzen) und kein Mensch sei in der Lage, diese rückgängig zu machen. Deshalb könne das „Kaparah“ nur von Gott ausgesprochen werden. Das „Kaparah“ stelle die ultimative Form der Vergebung dar.

Nach der Auffassung des Referenten gebe es bis jetzt noch keine Möglichkeit von Seiten der Juden, den Gräueltaten der Christen zu vergeben. Eine Schwierigkeit dabei sei auch die ausgeweitete Problematik. Speziell im Hinblick auf die deutschen Christen sei es schwierig, da sie nicht nur den judenfeindlichen Teil der Kirchengeschichte, sondern auch ihre Nationalsozialistische Vergangenheit betreffe. Die drei verschiedenen Ebenen der Vergebung seien einfacher auf einzelne Vergehen bestimmter Mitmenschen anzuwenden, allerdings müssten an dieser Stelle zwei Völker bzw. Nationen miteinander versöhnt werden. Die dritte Ebene, also das „Kaparah“ sei von vornherein auszuschließen, da es zwischenmenschlich nicht anwendbar, sondern allein Gott zu diesem Akt in der Lage sei. Die zweite und erste Ebene seien bis jetzt nicht benutzt worden, da sich die Christen nicht einheitlich zusammengestellt und Buße getan hätten, [… was angesichts der konfessionellen Vielfalt auch nicht zu erwarten ist über das hinaus, was bereits seit der Nachkriegszeit an Bußbekenntnisses einzelner Kirchenbünde vollzogen wurde, Anm. d. Verf.].

Nach dieser einleitenden Rede wurde durch eine Podiumsdiskussion der Aspekt „Theologie der Versöhnung“ aufgegriffen. Mit kurzen Ansprachen stellten fünf Referenten den theologischen Unterbau der Versöhnung zunächst aus verschiedenen Blickwinkeln vor, bevor anschließend über vom Moderator und dem Publikum gestellte Fragen diskutiert wurde. Eingegangen wurde auf die rabbinische, katholische und evangelische Sichtweise. Außerdem wurde die alttestamentarische Grundlage und als Extra-Punkt die jüdisch-messianische Sichtweise aufgegriffen.

Den Anfang machte Magnus Großmann mit der Präsentation der rabbinisch-jüdischen Sicht.

Der Ansatz zur Versöhnung aus rabbinischer Sicht lasse sich bei der Versöhnung zwischen Gott und Mensch finden. Wie auch im Christentum gebe es im rabbinischen Judentum ein Metamodell, an dem sich erkläre, warum und wie Vergebung zwischen Gott und dem Menschen nötig sei und wie sie funktioniere. Das Christentum mit seiner Erklärung der Herkunft der Sünde durch den Sündenfall und der Aussühnung durch den Kreuzestod Jesu Christi ist den meisten wohl recht vertraut, allerdings vertrete das rabbinische Judentum eine andere, recht abstrakte Grundlage.

Die Existenz von Leid und Schuld erklären die Rabbiner in der Kabbalah (jüdische Mystik) mit Schivrat ha-Kelim (שבירת הכלים) („Das Zerbrechen der Gefäße“). Gott habe bei der Schöpfung seine Herrlichkeit in „Gefäße“ gefüllt, die diese allerdings nicht aushalten konnten. Sie zerbrachen und so seien in seiner Schöpfung überall zerstreut Funken von seiner Herrlichkeit zu finden. Neben diesen göttlichen Funken sei die Welt im Umkehrschluss allerdings dunkel und finster.

Durch das Einhalten der Gesetze der Thora würden diese göttlichen Funken gesammelt werden, was wiederum zur Heilung der Welt führe. Das Ziel der Thora sei nämlich eine „Schalom-Kultur“. Betrachte man die Wurzelkonsonanten des Wortes „Schalom“ (שלם), so falle einem auf, dass sie die gleichen wie bei „bezahlen“ sind. Die sprachliche Verwandtschaft dieser beiden Begriffe bezeichne ein grundlegendes Prinzip, nämlich das, dass Frieden etwas koste. Beziehe man sich auf die alttestamentarische Aussage „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so werde dies schnell deutlich. Die Aussage bedeute nämlich nicht, wie oft missverstanden würde, dass der gleiche Schaden, den man jemand anderen zugefügt hat, auch einem selbst zugefügt werde, sondern, dass man den zu Schaden gekommenen entsprechend des Verlustes entlasten müsse. Um Frieden wiederherzustellen, koste es dem Täter also entsprechend dem Schaden, den er dem Opfer zugefügt hat.

Nach diesem ersten Statement aus der rabbinisch-jüdischen Sicht, hielt Igor Swiderski als Zweiter eine Ansprache, bei der er sich auf die theologischen Grundlagen des Alten Testamentes konzentrierte.

Dabei ging er auf die vier unterschiedlichen Ebenen der Versöhnung ein. So müsse Versöhnung aus der Sicht des Individuums zum Schöpfer, zueinander (seinen Mitmenschen), zu der restlichen Schöpfung und zu einem selbst geschehen.

Im weiteren Verlauf seines Vortrages führte er vor Augen, dass Zerstörung immer schneller als Heilung geschehe und auch schon im Alten Testament immer mehr Konflikte als Zeiten der Versöhnung und Heilung vorhanden waren. Das Alte Testament liefere in dieser Situation ein vielschichtiges Opfersystem, das regelrecht als „Versöhnungsmaschine“ fungiere. Durch dieses System könne Schuld bekannt und bezahlt werden.

Als dritter Podiumsredner hielt Manfred Sester eine Ansprache zu den Ansätzen einer katholischen Theologie der Versöhnung.

Als erstes machte er dabei auf das Sakrament der Versöhnung als Grundstein der katholischen Theologie aufmerksam. Durch die Beichte, bei der die Leute ihre Sünden vor dem Priester bekennen, werde ihnen durch die Autorität des Priesters Vergebung zugesprochen.

Statue von Johannes Paul II

Während die persönliche Versöhnung mit Gott also auf der einen Seite sehr zentral sei, so würde die Versöhnung auf der anderen Seite besonders im Bezug zu den Juden und Israel vernachlässigt. Er bezeichnete die katholische Kirche, sich als Katholik natürlich miteingeschlossen, als regelrechte „Legastheniker“ in diesem Bereich. Erst durch das zweite vatikanische Konzil (1962 -1965) sei ein großer Schritt getan worden; es wurde zugunsten der Religionsfreiheit in der bürgerlichen Staatsordnung und für verstärkten Dialog mit Anders- und Nichtgläubigen entschieden, während den Katholizismus zuvor eine starke Abgrenzung von anderen Religionen und Kirchen geprägt hatte. Doch auch nach diesem Meilenstein kam es erst im Jahr 2000 dazu, dass Papst Johannes Paul II in seiner historischen Vergebungsbitte die Juden um Vergebung bat.

Als vierten Redner hatten die Veranstalter den evangelischen Pfarrer Hans-Joachim Scholz eingeladen, der die Ansätze einer evangelischen Theologie der Versöhnung darstellte.

Dabei griff er zunächst die Bemerkung von der einleitenden Rede zur „Bedeckung“ (כפרה) als höchste Form der Versöhnung auf. So bedecke Jesus als das Opferlamm aus christlicher Sicht nach alttestamentlichen Maßstab die Schuld.

Wie bauen evangelische Theologen darauf auf? Martin Luthers Ansichten können an dieser Sicht mit seiner Prägung des Begriffs vom „Fröhlichen Tausch“ wohl als grundlegend angesehen werden. Um diesen „Tausch“ in Anspruch zu nehmen, käme es auf die persönliche Bekehrung und nicht etwa auf die Taufe, die als allgemeiner Zuspruch zu verstehen sei, an. Im weiteren Verlauf des Vortrags fand sich noch einiges an Kritik gegenüber der Substitutionslehre, die Israel von diesem Erlösungsgeschehen ausgeschlossen habe.

Das Schlussplädoyer vor der Podiumsdiskussion hielt Wladimir Pikman, der einen Blick auf die jüdisch-messianische Sichtweise werfen wollte.

Sein Ansatz befasste sich mehr mit der Versöhnung zwischen Juden und Christen, bzw. zwischen messianischen Juden und Christen. Diese gehe allerdings nicht vom Menschen aus, sondern fange selbstverständlich bei Jesus an. Ins Zentrum seiner Ansprache rückte er dabei Epheser 2,11-22. Das Opfer Jesu vereine und versöhne. Er ist derjenige, der Frieden schaffe und zwei Teile zu einem Leib zusammenbringe.

Nachdem diese fünf Blickwinkel jeweils ihr eigenes Plädoyer zum Verständnis von Versöhnung beigesteuert hatten, wurden vom Publikum gestellte Fragen diskutiert. In diesem Dialog wurde eine Einigkeit über die meisten angesprochenen Themen deutlich. Beispielsweise wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Annäherung des Christentums an das Judentum, beispielsweise durch die Verlegung des Sonntags auf den Sabbat, zur Versöhnung beitragen würde. Diese skurrile Frage wurde zügig mit einem „Nein“ beantwortet, schließlich würden sich die Juden vielleicht sogar verletzt fühlen, dass man sie ihres heiligen Tages berauben würde. Auch sonst würde es wenig Sinn machen, so ein Vorgehen in Erwägung zu ziehen, da auch aus theologischer Perspektive keine Notwendigkeit zu dieser Entscheidung gesehen werde.

Der nächste Tag wurde mit einem Vortrag zur „Theologie der praktischen Versöhnung“ von Guido Baltes eingeleitet.

Er kritisierte, dass Versöhnung oftmals eindimensional betrachtet werde. Entweder man konzentriere sich nur auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch, wobei Versöhnung an dieser Stelle nur als „Erlösungsstrategie“ betrachtet werde, oder man schaue nur auf die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wobei es an dieser Stelle nur noch um „gute nachbarschaftliche Beziehungen“ gehe. Wahre Versöhnung solle allerdings eine Verknüpfung aus beidem darstellen. Das eine folge aus dem anderen.

Wie sollte das nun praktisch aussehen? Wir – so der Referent – sollten „Botschafter der Versöhnung“ werden. Dieses Thema wurde später noch einmal von dem Referenten Martin Fritzsch an anderer Stelle aufgegriffen und weitergeführt. Der erste Schritt, um Botschafter dieser Versöhnung zu werden, sei Schulderkenntnis, die einen zur Buße führen solle, die damit Versöhnung begründe. Diese dann erfahrene Versöhnung bringe Liebe aus dem zuvor dagewesenem Schmerz und Hass hervor. Diese neu geschaffene Liebe führe zur Weitergabe und damit zur Evangelisation, also das Auftreten als Botschafter der Versöhnung. Auf diese Weise solle aus der Versöhnung mit Gott die Versöhnung mit den Mitmenschen folgen.

In seinem Vortrag stellte er außerdem einen Exkurs in Form einer Betrachtung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn vor. Nach der Auffassung von Baltes verstünden viele Ausleger dieses Gleichnis falsch. Oft werde zwar ganz richtig der verlorene und der ältere Sohn als Metaphern mit Israel und den Nationen in Verbindung gebracht, meistens würden diese Rollen allerdings vertauscht. Er sehe vielmehr eine Anspielung auf die Geschichte aus der Tora, bei der Jakob und Esau sich nach langer Zeit wiedersehen und versöhnen. Jakob mit seinem neuen Namen Israel ist dabei derjenige, der ins verheißene Land zurückkehrt. Vor allem seine Aussage in 1. Mose 33,10 sei sehr beachtenswert: „Denn ich habe ja doch dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast Gefallen an mir gehabt.“ Damit symbolisiere Israel den verlorenen Sohn und die Nationen den älteren Sohn. Es liege an dem nichtjüdischen Teil des Leibes Christi, das Angesicht des Vaters, bei dem sie sich schon lange befinden, zu repräsentieren.

Neben dieser thematischen Abhandlung des Themas und kleineren Exkursen wurden Beispiele der praktischen Versöhnungsarbeit verschiedener Organisationen durch deren Vertreter gebracht. Unter anderem hoben die Redner die Wichtigkeit von diakonischer Hilfe und politischem Engagement hervor.

Betrachte ich die vierte „Jüdische-Messianische Israel-Konferenz“ im Rückblick, so habe ich vieles positiv, anderes jedoch auch als nicht besonders konstruktiv erlebt. Sehr beachtenswert fand ich die breit aufgestellte Auswahl der Redner. Um nicht nur eine einseitige Betrachtung des Themas vorliegen zu haben, wurden Evangelische aus der Landeskirche, Katholiken und Angehörige der Freikirchen sowie aus jüdisch-messianischen Gemeinden eingeladen. Gerade am ersten Abend war die Podiumsdiskussion mit den Ansprachen eines jeden Redners eine gute Idee, um die verschiedenen Blickwinkel darzustellen. Im weiteren Verlauf wurden für die Podiumsdiskussion allerdings häufig Redner mit ähnlichen oder gar gleichen Ansichten eingeladen, wodurch teilweise zwar noch durch unterschiedliche Expertise verschiedene Themenbereiche angesprochen wurden, sich der Dialog durch gestellte Fragen allerdings weniger interessant und gewinnbringend darstellte. Dennoch hat die Konferenz möglicherweise doch einige Menschen auf das Thema Versöhnung neu aufmerksam und ins Nachdenken darüber gebracht.

Da in jedem Kalenderjahr unterschiedliche messianisch-jüdische Tagungen, Konferenzen und Symposien in Deutschland abgehalten werden, soll mit diesem Bericht auch dazu eingeladen werden, sich selbst auf solchen Tagungen anzumelden, um sich ein eigenes Bild zu machen, wie das messianische Judentum sich theologisch, soziologisch und institutionell weiterentwickelt.

Simon Tielmann

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