Sexuelle Vielfallt – unter Juden in Israel sowohl toleriert, als auch verworfen

1Am 3. Juni 2016 fand die bisher größte ‚Schwulenparade‘ (Gay Pride) in Tel Aviv mit ungefähr 200.000 Teilnehmern statt. Die Gay Pride wird in Israel bereits seit 1998 durchgeführt, und trotz großer Ablehnung von jüdisch-orthodoxen Gruppierungen, ist das Ausleben von Homosexualität seit 1988 juristisch nicht mehr strafbar. Vor nicht allzu langer Zeit wurde in Israel zudem zum ersten Mal auf einem Transgender-Schönheitswettbewerb eine „Miss-Trans“ gewählt. Diese von der Weltpresse viel beachtete Premiere wurde nicht in einem Hinterhof-Club in der Vorstadt veranstaltet, sondern an einer prominenten Adresse im Zentrum Tel Avivs, im bekannten Habima-Theater. Auch unter Juden in Israel spielt demnach die in der westlichen Welt auch sonst schon verbreitete Toleranz gegenüber praktizierter sexueller Vielfalt eine zunehmend größer werdende Rolle.

Seit 1993 wird beim israelischen Militär kein Unterschied mehr bei der sexuellen Orientierung der Soldaten gemacht, eine Entscheidung, die auf Jitzchak Rabin zurückzuführen ist. Seit 2002 kann eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft eintragen werden lassen. Verschiedene kommunale Vergünstigungen für eine solche Partnerschaft zählen zu den positiven Folgen dieses Beschlusses. Demnach haben homosexuelle Paare ähnliche Steuerprivilegien, wie heterosexuelle Paare, und den vollen Zugang zum Adoptionsrecht. Ein weiterführender Gesetzesentwurf aus dem Jahr 2013, der zur staatlichen Anerkennung und zur Eintragung Ehen oder Lebenspartnerschaften beitragen sollte, scheiterte allerdings 2015 bei der Abstimmung im Parlament mit 50 Nein- zu 39 Ja-Stimmen. Bis heute können in Israel Ehen daher lediglich von Kirchen- und Glaubensgemeinschaften geschlossen und aufgelöst werden. Zwei Anträge zur Einführung von staatlichen Ehen oder Lebenspartnerschaften, die vor Standesämtern abgeschlossen würden, scheiterten kürzlich in der Knesset.

Stellte vor wenigen Jahren das Ausleben von praktizierter Homosexualität im jüdisch-religiösen Kontext noch ein kaum zu überwindendes Hindernis dar, sieht das Ganze heute ganz anders aus. Besonders reformiert-jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt sind offen für homosexuell empfindende Juden. Doch selbst eine orthodox-jüdische Gemeinde im Zentrum Tel Avivs, „Jachad“ (Zusammen), tritt ungewöhnlich offen für die praktizierte sexuelle Vielfalt unter Juden ein. Zu den Mitgliedern dieser Gemeinde zählen schwule und lesbische Paare mit Kindern, was selbst im weltoffenen Tel Aviv als eine Seltenheit anzusehen ist.

2Homosexuelle haben es in Israel trotzdem nicht leicht, sich zu outen, vor allem in jüdisch-religiösen Kontexten nicht. Vor einem orthodoxen Rabbiner eine gleichgeschlechtliche Eheschließung eingehen zu können, muss bisher weitgehend als ein utopischer Gedanke gelten. Laut Levitikus (3. Mose) ist es einem Mann nach wie vor strikt verboten, homosexuelle Praktiken auszuleben; käme es dennoch dazu, müssten beide (eigentlich) des Todes sterben. Dieses Gebot habe – so wird vermutet – im Juli 2015 ein Ultra-Orthodoxer wörtlich genommen und während einer Schwulen- und Lesbenparade in Jerusalem auf sieben Teilnehmer eingestochen. Die 16-jährige Schira Banki erlag später ihren Verletzungen.

Für die absolute Mehrheit der traditionell jüdischen Familien in Israel ist praktizierte Homosexualität in keiner denkbaren Weise mit dem Judentum zu vereinbaren und daher weiterhin strikt abzulehnen. Generell gilt ausgelebte sexuelle Vielfalt als ein Tabuthema, über das man wenig oder gar nicht spricht. Das Internet bietet heutzutage – wie beinahe überall auf der Welt – für Personen, die homosexuell empfinden, Möglichkeiten, sich über diese Thematik zu informieren und auch Kontakte zu knüpfen, ebenso wie die Homepage der schwul-lesbischen jüdischen Gemeinde, „Hasman Havarod“ (Die Rosa Zeit).

Für Gespräche zwischen Juden und Christen, die ethische Themen diskutieren wollen, ist daher stets zu beachten, dass mit Respekt und Wertschätzung vor der ethischen Überzeugung der jeweils anderen Seite vorgegangen wird. Wer die reform-jüdische Position der Befürwortung der ausgelebten sexuellen Vielfalt im Dialog absolut setzt, ignoriert unverantwortlich die Mehrheit der religiösen Juden, die diese Position ablehnen, und gefährdet damit den konstruktiven Dialog. Konflikte sind vorprogrammiert. Liberal-theologische Christen beispielsweise, die für die Praxis der sexuellen Vielfalt plädieren, dürfen deshalb nicht einfach „einfordern“, daß traditionelle Juden diesem ethischen Urteil ohne weiteres folgen müssten.

Konservative Christen und traditionelle Juden, aber auch traditionelle, dialogwillige Muslime, könnten in ethischen Fragen demgegenüber viel eher in gegenseitigem Respekt Einmütigkeit im Blick auf praktizierte sexuelle Vielfalt erzielen und von daher überlegen, ob überhaupt und dann ggfs. wie ein Dialog mit denen möglich sein könnte, die einer praktizierten sexuellen Vielfalt positiv gegenüber stehen. Für solche zum Teil schwierigen Gespräche sind unterschiedliche Themenfelder zu beachten, wie beispielsweise die Fragen nach dem Wesen Gottes, nach dem Stellenwert von „Sünde“/ Gehorsam gegenüber Gott, nach der Menschenwürde oder nach dem jeweiligen Weg zur ethischen Urteilsbildung.

(mr)

Quellen:

Zentralrat der Juden, Ethik im Judentum, Berlin 2015

http://www.nzz.ch/panorama/transgender-in-israel-die-ekstase-im-richtigen-koerper-ld.85214

http://www.stern.de/familie/leben/schwul-und-glaeubiger-jude—das-geht-nur-in-tel-aviv-6475710.html

http://www.n-tv.de/der_tag/Tel-Aviv-feiert-groesste-Schwulenparade-aller-Zeiten-article17856991.html

http://www.queer.de/detail.php?article_id=24170

https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Israel#cite_note-9

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