Mission im Alten Testament?! Teil IV: Prophetische Zukunftsmusik – Der Ansatz von Eckhard Schnabel

Nachdem wir im ersten Teil dieser Serie einen Einblick in die theologische Forschung über das Themenfeld der Mission im Alten Testament gegeben haben, sind wir im zweiten Teil näher auf den Forschungsansatz von Dr. Siegbert Riecker eingegangen. Im dritten Teil haben wir uns mit einem wichtigen Thema Rieckers („Israel als königliches Priestervolk“) kritisch auseinandergesetzt. Im vorliegenden vierten und letzten Teil dieser Serie werden wir einen weiteren Forschungsansatz vorstellen, kritisch würdigen und mit Rieckers Ansatz vergleichen. Hierbei handelt es sich um den Beitrag von Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel.

Eckhard J. Schnabel (geboren 1955) ist ein deutscher Theologe. Er arbeitet als Professor für Neues Testament am Gordon-Conwell Theological Seminary (USA). In seinem bahnbrechenden Werk „Urchristliche Mission“, für das er 2003 den Johann-Tobias-Beck-Preis erhielt, nahm er auch Bezug auf das Alte Testament. Obwohl sein Werk sich ansonsten auf die neutestamentliche Mission bezieht, ist sein Forschungsansatz über Mission im Alten Testament doch so durchdacht, dass er seit Jahren die (insbesondere evangelikale) Forschung über dieses Thema beeinflusst.

Die Universalität des Glaubens

Die Urgeschichte (1. Mose 1-11) sieht Schnabel als universale Menschheitsgeschichte; diese universalgeschichtliche Dimension des Glaubens Israels betrachtet er als Ursprung der „Missionsgedanken“ im Alten Testament. JHWH ist für Israel nicht bloß ein Stammesgott, sondern der Gott der ganzen Welt, auch der Nicht-Israeliten. Doch das bedeutet nicht, dass die Israeliten nun – so wie die Gemeinde des Neuen Testaments – alles daran setzten, die Heidenvölker zu ihrem Gott zu bekehren. Es bedeutet nur, dass der jüdische Glaube die Heiden nicht kategorisch von einer Beziehung zum Gott Israels ausschloss. Israels Denken war – so Schnabel – alles andere als exklusiv-partikularistisch geprägt, aber auch alles andere als „missionarisch“ im neutestamentlichen Sinne des Wortes.

Die Beziehung Israels zu den Nationen im Alten Testament

Im Pentateuch fordert Gott immer wieder, dass die Israeliten die „Fremden in ihrer Mitte“ gut behandeln sollten. Als Begründung nennt er Israels eigene Migrationsgeschichte (vgl. z.B. 3. Mose 19,33f.). Den „Fremden“ (hebräisch gër) betrachtet Schnabel als eine Art Proselyt, also einen Nicht-Israeliten, der zum jüdischen Glauben übergetreten ist. Schnabel erkennt Möglichkeiten für Nicht-Israeliten, in Israel integriert zu werden, doch müsste die Initiative von ihnen selbst ausgehen: „Von ‚Missionspraxis’ kann man nicht sprechen“, meint er (Schnabel, Mission, S. 73). Mit „Ausländern“ (hebräisch k) dagegen, die keine Proselyten waren, sollten, so Schnabel, Israeliten möglichst wenig zu tun haben. Ihnen würden im Pentateuch politische, wirtschaftliche und soziale Rechte vorenthalten. Er zitiert zustimmend B. Lang: „Von allen Menschen, mit denen der Jude sozialen Kontakt hat, behandelt er den kam schlechtesten.“ (Zitiert in: Schnabel, Mission, S. 72)

Anders als Riecker betrachtet Schnabel 2. Mose 19,6 nicht als Missions- bzw. Segensauftrag an Israel. Er nennt sechs Argumente dafür, diesen Vers lediglich als Hervorhebung der besonderen Beziehung Israels zu Gott zu sehen (sie sind im zweiten Teil dieser Serie aufgelistet und werden im dritten Teil näher ausgeführt). Riecker kann diesen Argumenten wenig entgegensetzen (obwohl er sich in seiner Argumentation gegen sie entscheidet), sodass Schnabels Position hier eindeutig einleuchtender erscheint.

Insgesamt nimmt Schnabel im Pentateuch also wahr, dass Fremde sich in Israel (auch religiös) integrieren lassen konnten, erkennt aber keine Art von ‚Missionsbefehl Gottes‘. Während Riecker die Eingliederung Fremder in die israelitische Volks- und Glaubensgemeinschaft rein positiv auffasst, betont Schnabel, dass es auch Einschränkungen für die Fremden gab, also keine vollständige Gleichstellung.

In einigen Aussagen der Psalmen findet Schnabel Formulierungen, „die man mit ‚Missionsgedanken’ in Verbindung gebracht hat“, wie er schreibt (Schnabel, Mission, S. 77). Häufig wird dabei das Ziel der Verehrung JHWHs durch alle Völker angesprochen. Dennoch sieht Schnabel auch hier keinen „Missionsbefehl“.

Zukünftige Mission bei den alttestamentlichen Propheten

Schnabel sieht die prophetischen Botschaften über fremde Völker nicht als Missionsbeleg, denn es „gibt keine Hinweise auf eine historisch stattgefundene Übermittlung dieser Prophetien an fremde Nationen, auch können sie kaum als missionarisch ‚werbend’ bezeichnet werden.“ (So beschreibt Riecker Schnabels Position in: Riecker, Mission, S. 81) Laut Schnabel sehen die Propheten eine Völkermission für die ferne Zukunft voraus, betrachten aber Israels alttestamentlichen Auftrag für die Völker als passiv-zeugnishaft, nicht als aktiv missionarisch. Gott offenbare sich den Heiden durch Israel; allerdings habe Israel keinen Auftrag, sich um die Heiden missionarisch zu bemühen. Das Programm der alttestamentlichen Propheten bezüglich einer zukünftigen Heidenmission (besonders deutlich in Jes. 40-66) kann man nach Schnabel folgendermaßen zusammenfassen:

  • Gott wird sichtbar nach Jerusalem kommen und den Völkern seine Herrlichkeit offenbaren.
  • Ein kommender König aus dem Samen Davids wird die Erde mit Erkenntnis Gottes füllen und die Heiden zu sich ziehen.
  • Ein „Knecht des HERRN“ wird Israel als „Bund“ und der Welt als „Licht“ dienen. Durch seinen versöhnenden Tod wird er ihre Schuld tilgen.
  • Die Völker werden zum Zion ziehen und dort in das Heil Israels mit einbezogen werden. Am Zion werden sie Gottes mächtige Taten verkündigen.
  • Der „Knecht des HERRN“ und einige „Entronnene“ (Jes. 66,19-21) werden auch aktive Mission betreiben.

Insgesamt sieht Schnabel die Mission im Alten Testament also als einen prophetischen Auftrag für eine für das AT noch ausstehende Zukunft. Im Alten Testament selbst, meint er, gebe es keinen Missionsauftrag oder etwas Vergleichbares; es sei alles Zukunftsmusik, was die aktive Missionsarbeit Israels betrifft. Es gebe auch keine Hinweise auf historisch geschehene aktive Mission Israels im Alten Testament. Was die Propheten über Mission zu sagen hätten, sei alles auf die ferne Zukunft bezogen. Schnabel sieht diese Prophetien fast vollständig im Wirken Jesu erfüllt; eine wörtliche Erfüllung der erwarteten „Völkermission“ in der Zukunft Israels erwartet er kaum noch.

Fazit und Auswertung

Schnabel erkennt also keinerlei Missionspraxis im Alten Testament. Missionsgedanken bei den Propheten sieht er als rein zukünftig und auch nicht auf Gesamt-Israel bezogen. Israel sieht er lediglich als passiven Zeugen für den universalen Gott.

Damit unterscheidet sich Schnabel an mehreren Punkten von Riecker, der im Alten Testament einen klaren Auftrag Israels an die Völker sah – allerdings ebenfalls keinen Missionsauftrag im neutestamentlichen Sinne, sondern einen Segensauftrag, was aber letztlich missionale Implikationen unterstützen würde (d.h. an dem Segen, der von Israel ausgeht, erkennen die Völker, dass der Gott Israels ein lebendiger und handelnder Gott ist). Riecker führt zahlreiche Beispiele von Israeliten an, die diesen Auftrag – in ihrer Zeit, mit jeweils unterschiedlichen Spezifika – auch aktiv ausführten (z.B. Abraham, Mose, David, Jesaja, …) Welcher Ansatz harmoniert nun besser mit dem biblischen Befund?

Zunächst: Sowohl Riecker als auch Schnabel betrachten den Glauben Israels als generell und universal auf einen Gott ausgerichtet, der die ganze Welt und ihre Völker umspannt. JHWH ist nicht nur ein Gott für Israel, sondern der Gott der ganzen Welt. Begründet wird das mit den Aussagen und Bekenntnissen aus der Urgeschichte. Beide meinen, es sei für Fremde möglich gewesen, sich in Israels Volks- und Glaubensgemeinschaft eingliedern zu lassen. Schnabel betont allerdings den niedrigen Status von Fremdlingen in Israel, während Riecker das Gebot der Fremdenliebe hervorhob. Beide betonen etliche Beispiele für Israels Umgang mit Fremden in den alttestamentlichen Geschichtsbüchern. Riecker und Schnabel konzentrieren sich also auf unterschiedliche Aspekte der Fremdengesetzgebung im Pentateuch: Während Riecker stärker integrative Tendenzen in den Mittelpunkt rückt, geht Schnabel eher auf die „negativen“ Seiten ein. Beide Aspekte sollten zusammen wahrgenommen werden, um ein ausgewogenes Bild des alttestamentlichen Zeugnisses zu erhalten.

Es ist – wie in Teil II dieser Serie dargelegt – völlig berechtigt, das Segenskonzept mit Riecker als Grundauftrag Israels an die Völker anzunehmen, der in verschiedenen Situationen unterschiedlich spezifiziert wird. Riecker ist zuzustimmen, dass Israel einen Auftrag besaß, den Völkern Gotteserkenntnis zu vermitteln. Allerdings ist auch Schnabel zuzustimmen, dass es im Pentateuch keinen „Missionsauftrag“ gibt. Den Erkenntnisauftrag definiert Riecker nicht als aktive Mission, sondern ähnlich wie Schnabel als Zeugnisauftrag: „Gottes Volk soll durch das Leben der Glieder des Volkes und durch Worte von Gottes Wesen und Handeln zeugen.“ (Schnabel, Mission, S. 79) Beide Konzepte stimmen also in wesentlichen Gesichtspunkte überein, wenn es auch Akzentunterschiede bleiben. Sie stimmen zwar nicht in der Terminologie, wohl aber im Inhalt überein.

Uneinig bleiben die beiden in der Deutung von 2. Mose 19,6. Riecker versteht den Vers als Auftrag an Israel, Vermittler zwischen Gott und den Völkern sein zu sollen. Schnabel hingegen sieht den Vers als eine Hervorhebung der besonderen Beziehung Israels zu Gott und nennt überzeugende Gründe gegen ein Verständnis als Auftrag, wie in Teil III dieser Serie beschrieben wurde.

Schnabel belegt überzeugend, dass es im Alten Testament Gedanken an eine Völkermission in der Zukunft gibt, dass daraus aber keine aktive Missionspraxis Israels gefolgert werden kann.

Welcher Ansatz harmoniert nun also besser mit dem biblischen Befund? Im Grunde ergänzen beide Betrachtungsweisen von Riecker und Schnabel einander gut. Keine erschließt allein die Vorgaben des Alten Testaments. Beide greifen allerdings wichtige Details auf. Zusammengenommen können sie ein genaueres Bild der alttestamentlichen Perspektiven zum Zeugnis Israels von ihrem Gott zu den paganen Völkern ihrer jeweiligen Umwelt ergeben.

(sg)

Quellen:

Lang, Prof. Dr. B., נכר, in: ThWAT V, Stuttgart 1986, 454-462

Riecker, Siegbert, Ein Priestervolk für alle Völker. Der Segensauftrag Israels für alle Nationen in der Tora und den Vorderen Propheten, Leuven 2007 (als Dissertation eingereicht 2006)

Riecker, Siegbert, Mission im Alten Testament? Ein Forschungsüberblick mit Auswertung, Frankfurt a.M. 2008

Schnabel, Eckhard J., Israel, the People of God, and the Nations, in: Journal of the Evangelical Theological Society. Volume 45, No. 1, 2002, 35-57

Schnabel, Eckhard J., Urchristliche Mission, Wuppertal 2002

Bilder:

Titelbild: sg@privat; Baum: sg@privat

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