Schimpfwort „Nazi“ – ab wann ist Zensur erlaubt?

Man könnte denken, dass man gegenüber Juden in Israel bei Begriffen und Zeichen, die mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust in Verbindung stehen, besonders vorsichtig sein muss. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall: Bewegt man sich im Heiligen Land, kann es sein, dass man öfter mal Zeuge von Unterhaltungen wird, in denen Sätze wie „Was bist du denn für ein Nazi?“ fallen; und zwar unter jüdischen Menschen – die ganz offensichtlich keine Nazis sind.

Vertrauter ist Ihnen vielleicht das Bild von als KZ-Häftlingen verkleideten Ultraorthodoxen, die sich mit einem Judenstern ausstatten, um provokativ gegen ungerechte Bedingungen, denen sie sich als fromme Juden ausgesetzt sehen, zu protestieren.

Vorfälle wie diese haben die israelische Regierung nun zum Handeln veranlasst. Uri Ariel, Politiker der von Naftali Bennett geführten Partei HaBajit haJehudi („Jüdisches Heim“), brachte 2011 eine Idee in die Knesset ein, nach der nationalsozialistische Symbole und Begriffe nur noch zu historischen und pädagogischen Zwecken benutzt werden dürfen. Ariel gilt als rechtskonservativ und nationalistisch und war unter anderem 2008 durch seine Kritik an Angela Merkels auf Deutsch gehaltener Rede im israelischen Parlament aufgefallen, wobei er die Deutschen als die „Mutter aller Amalekiter“ bezeichnete.

Im Januar diesen Jahres stimmte nun die Knesset in einer ersten Lesung mit 44 zu 17 Stimmen für den Gesetzesentwurf, der bei Verstoß Strafen von bis zu sechs Monaten Haft und 20.000 € vorsieht. Das Gesetz verbietet jede Nutzung des Wortes „Nazi“ oder ähnlich klingender Wörter, wenn sie mit entsprechender Intention gesagt werden. Weiterhin ist die Nutzung aller nationalsozialistischen Symbole unter Strafe gestellt – dabei ist egal, ob sie gemalt, fotografiert, skizziert sind oder die Form einer Statue haben.

Kritik kam von den linken und ultraorthodoxen Parteien. Für Dov Chanin der Partei Chadasch, einer Listenverbindung von sozialistischen Parteien, ist der Entwurf schlichtweg absurd, und auch Israel Eichmann von der ultraorthodoxen Partei Judentum und Tora sprach sich dafür aus, dass Gewalt gegen Juden weiterhin mit den Verbrechen der Nazi-Zeit verglichen werden dürfe. Er bezieht sich dabei auf Fälle von Gewalt, denen sich Ultraorthodoxe ausgesetzt sehen bzw. deutet die von ihnen empfundenen Ungerechtigkeiten seitens des jüdischen Staates als „Gewalt“, für welche der Nazi-Vergleich erlaubt sein soll.

Für das neue Gesetz, das drei weitere Lesungen benötig, bevor es in Kraft tritt, spricht in erster Linie der Schutz von Überlebenden und deren Nachkommen vor einem inflationären Gebrauch der so schmerzhaft belasteten Begriffe und Zeichen. Der Journalist und Holocaust-Überlebende Noah Klieger betont, „Nazi“ sei kein Schimpfwort wie jedes andere, würde damit doch der Beschimpfte mit den Personen verglichen, „die sechs Millionen Juden, Hunderttausende von Polen, sowjetische Kriegsgefangene und Zigeuner in Todeslagern vernichteten und den Tod von mehr als sechzig Millionen Menschen verursachten, indem sie einen Weltkrieg begannen“.

Dies sind wahre Worte, wenn auch die Frage aufkommt, ob Schimpfwörter nicht grundsätzlich jemanden als etwas bezeichnen, was er nicht ist und die Beschimpfung (unglücklicherweise) von derartigen unsachgemäßen Vergleichen lebt. Der Vergleich zu einem Nationalsozialisten wird in einem Großteil der Fälle maßlos  übertrieben sein – doch sollte er deshalb verboten werden? Sollte die in Deutschland immer noch verbreitete Beschimpfung als „Schwuchtel“ aufgrund ihres eindeutig diskriminierenden und verletzenden Charakters unter Strafe gestellt werden? Hat darüber hinaus die unsachgemäße Verwendung eines Begriffes überhaupt die Macht, Geschichte zu relativieren und verblassen zu lassen?

Hinter all diesen Fragen steht die eine große Frage, nämlich die nach der Zensur: Wie groß muss die drohende Gefahr sein, damit ein Staat Zensur ausüben darf? Ein Großteil der jungen Israelis sieht bisher keinerlei Rechtfertigung für das Gesetz und betrachtet die Entwicklung mit großer Sorge. Ihnen erscheint eine beginnende Zensur bedrohlicher als ein unüberlegtes und flapsig dahergesagtes „Was bist du denn für ein Nazi?“

Den Gegnern des Gesetzesentwurfs schließt sich der israelische Generalstaatsanwalt Yehuda Weinstein an, der den Entwurf als verfassungswidrig einstuft. „Nicht jedes Verhalten, dass die Öffentlichkeit verletzt, verdient es, zu einem Verbrechen gemacht zu werden. Ist es für ein demokratisches Land angemessen, eine komplette Bilderwelt aus dem öffentlichen Sprachgebrauch zu verbannen, um die Gefühle von Menschen zu schützen?“ Seiner Ansicht nach muss jede Beschränkung des in der Verfassung verankerten und so zentralen Rechts der freien Meinungsäußerung mit äußerster Sorgfalt geprüft und mit höchster Vorsicht behandelt werden.

Es gibt zu Bedenken, dass in der Knesset vor einigen Jahren ein ähnlicher Gesetzesentwurf vorgelegt wurde, der aufgrund seiner Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung abgelehnt wurde.

Darüber hinaus bleibt zu fragen, was ein Verbot erreichen könnte. Zu Recht betonen viele, dass sich alternative Wörter und Symbole finden, die Grauzonen ausnutzen und das Gesetz klug umschiffen würden. Ähnliches ist übrigens bei „echten“ Nazis zu beobachten, die Ersatzsymbole gefunden haben, um sich nicht strafbar zu machen. Auch könnte die neue Gesetzeslage ins Gegenteil umschlagen und die Nazi-Zeit, über die eigentlich detailliert aufgeklärt werden soll, mit einer Aura des Mysteriösen umhüllen. Aus Angst vor einem Gesetzesverstoß würde womöglich nur mit großer Vorsicht und auf Dauer vielleicht seltener über den Nationalsozialismus geredet werden. Dies erinnert an den sagenumwobenen Lord Voldemort aus der Romanserie „Harry Potter“, welcher lange Zeit nur mit „Der, dessen Name nicht gesagt werden darf“ umschrieben wurde. Erst der mutige Harry Potter spricht ganz ungeniert seinen Namen aus und zeigt so, dass der dunkle Herrscher ihm keine Angst einflösst.

Sollte es also nicht stets erlaubt sein, das Böse beim Namen zu nennen, um es zu besiegen und nicht zu vergessen  – auch wenn dafür Missbrauch in Kauf genommen werden muss?

Eine weitere Frage, die zu klären ist, ist die folgende: Was ist mit den Fällen, in denen das Wort „Nazi“ – auch außerhalb von jedem pädagogischen Rahmen – adäquat erscheint? In einem Kommentar der New York Times erzählt der bekannte israelische Schriftsteller Etgar Keret von seinem Vater: Dieser machte sich dem Urteil der Knesset-Mitglieder nach strafbar, als er einst eine Gruppe rassistisch gesinnter Norweger, die chinesische Touristen Beleidigungen entgegenwarfen, zurechtwies und auf die Beschimpfung „kike“ (abwertend für „Jude“) mit „Nazis“ reagierte. Er verglich – als einer, der selbst unter den Nazis gelitten hatte – das einmalige rassistische Auftreten der Norweger mit dem zum Teil sicherlich viel tiefer sitzenden Antisemitismus der Nationalsozialisten. Vielleicht erlaubte er sich dies deshalb, weil kein Begriff „zu schlimm“ ist, um diskriminierendes Verhalten zu verurteilen?

Zuletzt liefert Roni Bar in der israelischen Tageszeitung Haaretz eine interessante Perspektive: Der unbeschwerte Gebrauch des Wortes „Nazi“ zeigt ihrer Meinung nach, dass die Juden die Opferrolle überwunden hätten. „Wir haben den Begriff nicht verharmlost, sondern besiegt“, schreibt sie. So spricht für sich, dass einer der prominentesten Gegner des Gesetzes der Direktor der offiziellen israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist, deren Ziel es ist, die grausamen Geschehnisse um die Shoah nie in Vergessenheit geraten zu lassen. Es ist fragwürdig, ob ein Verbot der „bösen Wörter“ zu diesem Ziel beitragen würde.

(jp)

 
 
Quellen:
 
http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-02/nazi-rhetorik/komplettansicht
http://www.haaretz.com/news/national/knesset-passes-laws-prohibiting-use-of-nazi-symbols-1.406725
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/knesset-israel-will-schimpfwort-nazi-verbieten-12754215.html
http://www.nytimes.com/2014/01/18/opinion/sometimes-nazi-is-the-right-word.html?_r=0
http://www.dailymail.co.uk/news/article-2540581/Israel-moves-ban-word-Nazi-references-Third-Reich-education-purposes.html
http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-01/israel-will-begriff-nazi-verbieten
http://www.newrepublic.com/article/116247/israels-nazi-ban-would-be-big-mistake
 
 

 

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