Gleichberechtigung beim Gebet an der Klagemauer

Sie nennen sich Neschot Hakotel, „Frauen der Mauer“, und sie kämpfen dafür, dass beim Gebet am wichtigsten Heiligtum der Juden, der Jerusalemer Klagemauer, kein Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht wird. Das klingt nachvollziehbar, ist aber in jüdisch-orthodoxen Augen eine Provokation, die ihresgleichen sucht.

Im Judentum werden Mann und Frau als gleichwertig betrachtet, werden den Geschlechtern aber unterschiedliche Rollen und Aufgaben zugeordnet, was auch die religiöse Sphäre betrifft: So ist die Ausübung der meisten religiösen Pflichten, darunter das Gebet und das damit verbundene Tragen der Gebetsriemen (Tefillin) und des Gebetsschals (Tallit), seit jeher den Männern vorgeschrieben. Das erklärt, weshalb der Männerbereich vor der Klagemauer rund vier Mal so viel Platz bietet wie der für die Frauen vorgesehene Teil.

Diese und andere Regelungen werden von einigen Frauen, von denen sich viele in der seit 20 Jahren bestehenden Organisation „Women of the Wall“ zusammengeschlossen haben, als ungerecht betrachtet und eine gleichberechtigte Ausübung der Religion an der Klagemauer gefordert. Ihr Mission Statement lautet: „As Women of the Wall, our central mission is to achieve the social and legal recognition of our right, as women, to wear prayer shawls, pray, and read from the Torah collectively and out loud at the Western Wall.“ Ein Interview Anat Hoffman, Reformrabbinerin und Vorsitzende von Neschot Hakotel, finden Sie hier. Von dem Journalisten David Landau war Hoffmann scharf dafür kritisiert worden, sich mit pseudonaiver Provokation mit der Orthodoxie, die nun einmal israelische Staatsreligion sei, anlegen zu wollen.

Doch Ende April 2013 konnten die Frauen einen ersten großen Erfolg verzeichnen, als das Jerusalemer Bezirksgericht entschied, dass es Frauen an der Westmauer von nun an erlaubt sei, Gebetsschal und -riemen zu tragen und laute Gebete zu sprechen und dass weder einen lokalen Brauch verletze noch ein öffentliches Ärgernis darstelle, wie es im bis dahin gültigen Urteil des Magistratsgerichts gestanden hatte. Bisher hatte man bei einem Besuch an der Klagemauer stets nur die Männer singen und beten hören, während die Frauen ihr Gebet in unscheinbarer Kleidung und im Stillen verrichteten.

Davon machten die Frauen nun Gebrauch und kamen am vergangenen Rosch Chodesch am 10. Mai 2013, dem für das Judentum wichtigen jeweils ersten Tag des neuen Monats, zu ihrem ersten legalen Gebet an der Klagemauer zusammen, für das in den vergangenen Monaten viele von ihnen verhaftet worden waren. Diese Inanspruchnahme der neuen Regelung führte jedoch zu gewaltigen Protesten  von Seiten der ultraorthodoxen Juden. In ihren Augen wird durch ein solches Verhalten das jüdische Heiligtum entweiht. So wollten zahlreiche Männer und Frauen zeigen, dass sie an einem Wandel nach 1700 Jahren Tradition nicht interessiert sind und sie sich in ihren religiösen Gefühlen verletzte fühlen.

Teilweise wurden die in speziell für Frauen entworfene Gebetsmäntel mit Gegenständen beworfen, so dass die Polizei einen menschlichen Schutzwall um die Beterinnen in der Frauensektion bildete. Ihr lautes Gebet versuchten die Ultraorthodoxen mit schrillem Pfeifen zu übertönen. Jossi Parienti, Polizeichef der Stadt Jerusalem, drückte seine Hoffnungen auf eine baldige Lösung des scheinbar endlosen Konflikts aus: „Es ist nicht schön, die Kotel so zu sehen. Es war wie ein Schlachtfeld.“ Beim Betrachten der tumultartigen Szenen drängt sich in der Tat die Frage auf, ob das Heiligtum durch die Gewaltbereitschaft und aggressiven Worte einiger ultraorthodoxer Fanatiker nicht ebenso eine Entweihung erfährt.

Ein informatives Video mit Hintergründen sowie bewegenden Bildern vom Tag der Ausschreitungen gibt es im Videoblog von Tagesschau-Journalist Richard C. Schneider.

Friedfertige Worte fand der Rabbiner der Klagemauer, Schmuel Rabinovitz: „Diese Bilder schmerzen in den Augen. Die jüdische Torah sollte Einheit stiften. Ich bitte den Herrn im Himmel, jedem Weisheit zu schenken, um die Kontroversen zu überwinden.“ Doch war gerade er es gewesen, der den „Frauen der Mauer“ jahrelang ein freies Gebet untersagt hatte.

Der stellvertretende Bürgermeister Jerusalems hingegen, Isaak Pindar von der Partei „Vereinigtes Torah-Judentum“, bezeichnete die „Frauen der Mauer“ als „Frauen der Provokation“. Bei den tausenden ultraorthodxoen Frauen, die gekommen waren, um gegen die liberal eingestellten Jüdinnen zu protestieren, handele es sich um die wahren „Frauen der Klagemauer“.

Die Israelis selbst stehen dem neuen Gesetz gespalten gegenüber. Dem monatlichen Friedensindex zufolge, den das „Israelische Demokratische Institut“ (IDI) und die Universität Tel Aviv Mitte Mai veröffentlichten, unterstützen 48% die neue Regelung für die Klagemauer, darunter 52% der Männer und bemerkenswerterweise nur 46% der Frauen.

Das Religionsministerium will nach dem Gerichtsbeschluss nun an neuen Regelungen für das Beten an der Klagemauer arbeiten. Eine Möglichkeit besteht darin, rechts von der unmittelbaren Klagemauer einen neuen Platz für egalitäre Gottesdienste schafft. Für die dort stattfindenden Ausgrabungen sowie auch den oberhalb der Mauer auf dem Tempelplatz betenden Muslimen wird dies jedoch nicht unbedingt konvenieren.

Das offizielle Video der „Women of the Wall“

(jp)

 

Quellen:

http://www.focus.de/panorama/videos/handgemenge-an-klagemauer-frauen-beten-maenner-werden-handgreiflich_vid_37593.html

http://womenofthewall.org.il/

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/15937

http://www.tagesschau.de/videoblog/zwischen_mittelmeer_und_jordan/videoblogschneider284.html

http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/frauen-der-klagemauer-duerfen-laut-beten/#.UaMxyIX8o7A

http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/frauengebet-proteste-vor-klagemauer/#.UaMvMoX8o7D

http://www.israelnetz.com/gesellschaft/detailansicht/aktuell/fast-50-prozent-fuer-lautes-frauengebet-an-der-klagemauer/#.UaNCcYX8o7B

 

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